© 1995 Christo & Prestel Verlag
Collage 1987
Foto: Michael Cullen
Sammlung Jeanne-Claude Christo, New York
1970 hatte ich zwei Projekte in Mailand realisiert: die verhüllten Denkmäler von Vittorio Emanuele und Leonardo da Vinci. Ich bin immer daran interessiert, einen Brennpunkt in einer Stadt aufzugreifen und ihn vorübergehend auf meine Art und Weise umzuwandeln. Die Idee, nach Berlin zu gehen und am Reichstag-Projekt zu arbeiten, war aufgrund meiner Verbindungen zu Osteuropa um so inspirierender, und irgendwie hoffte ich, endlich ein Projekt realisieren zu können, das sowohl von Ost- als auch von Westberlin aus zu sehen wäre. Das ist auch der Grund, weshalb uns von Anfang an so viel am Verhüllten Reichstag lag - dieses Gebäude ist das einzige, das der Zuständigkeit aller vier alliierten Mächte unterliegt: der britischen, sowjetischen, amerikanischen und französischen Streitkräfte, sowie zur Interessenssphäre der beiden deutschen Staaten, Ost- wie Westdeutschlands gehört [zum Zeitpunkt des Interviews].
Das Gebäude ist von aller größter Bedeutung für die deutsche Nation und für die europäische Geschichte, und es ist dramatisch auf das bezogen, was Deutschland heute ist: Es liegt am Rande des Tiergartens, weit außerhalb des Zentrums von Westberlin, und damit ragt es in beide Berliner Stadthälften: auf der einen Seite Ostberlin, völlig neu aufgebaut in kommunistischer stalinistischer Architektur mit ihren gesichtslosen Fassaden und menschenleeren Prachtstraßen, in Westberlin dagegen die ungemein extravagante westliche Architektur, Wolkenkratzer aus Stahl und Glas, Neonbeleuchtung, und unglaublich viel Leben. Der Reichstag ist ein signifikantes Gebäude, und allein schon in visueller Hinsicht kann die Verhüllung äußerst lohnend sein. Ein weiterer Aspekt des Projekts sind all die Wechselbeziehungen, die ich auslösen würde. Da beide Seiten die Genehmigungen erteilen müssen, würde ich alle an einen Tisch bringen: Ostdeutschland und die Sowjets und Westdeutschland und die westlichen Alliierten. Sie wissen vielleicht noch, was in den frühen siebziger Jahren vor sich ging. Es war die Zeit der Entspannung, das Ende der Brandt- Regierung (Willy Brandt war die große treibende Kraft in der Entwicklung der Ost-West-Beziehungen), das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland wurde besser, und damit stiegen auch unsere Chancen, die Genehmigungen zu bekommen. Mit den intensiven Vorarbeiten für das Reichstag-Projekt begannen wir jedoch erst 1975.
Zeichnung in zwei Teilen 1991
Foto: Wolfgang Volz
Sammlung Jeanne-Claude Christo, New York