© 1995 Christo & Prestel Verlag
Interview mit Christo
von Masahiko Yanagi
Seite 5 von 12
Mit freundlicher Genehmigung des Prestel Verlags
Collage in zwei Teilen 1987
Foto: Wolfgang Volz
Sammlung Jeanne-Claude Christo, New York
Yanagi:
Geht denn das Reichstag-Projekt letzten Endes auf diese Anregung zurück?
Christo:
Sicherlich, das Reichstag-Projekt ist sozusagen die Endphase derartiger Erwägungen. 1961, als die Photomontage Projekt für ein
verhülltes öffentliches Gebäude entstand, war der Grundgedanke der etwas
zu tun, was viele Menschen einbeziehen würde. An eine Ausführung war leider nicht zu denken - ich war zu jung und kannte zu
wenig Leute. Es war nur natürlich, daß das erste öffentliche
Gebäude, das ich verhüllte, die Kunsthalle in Bern war weil nur
Kunstliebhaber oder Leute vom Fach mein Vorhaben verstehen
konnten und mir "grünes Licht" geben würden. Wenn Sie sich
meine Werkchronologie ansehen, dann sind die beiden einzigen
großen Gebäude, die ich bisher verhüllt habe, die Kunsthalle
in
Bern und das Museum of Contemporary Art in Chicago. Der
Reichstag wird das dritte Gebäude in dieser langen Reihe von
Vorhaben sein. Das Reichstag-Projekt steht für weit mehr als nur die
Verhüllung eines öffentlichen Parlamentsgebäudes, weil viele
Probleme - aktuelle und historische - mit diesem Gebäude verbunden sind; es ruft ganz andere Assoziationen hervor als etwa
das Capitol in Washington oder das Palais Bourbon in Paris.
Collage in zwei Teilen 1992
Foto: Wolfgang Volz
Sammlung Jeanne-Claude Christo, New York
Yanagi:
Das Reichstag-Projekt ist in einer großstädtischen Umgebung
angesiedelt. Gibt es grundlegende Unterschiede zwischen städtischen Projekten und ländlichen Projekten wie Die
Mastaba von Abu Dhabi, Projekt für die Vereinigten Arabischen Emirate,
Running
Fence, Sonoma und Marin Counties, Kalifornien, 1972-76, und The Umbrellas?
Christo:
Es gibt wichtige Unterschiede. Das Reichstagsgelände ist fest
in eine durchstrukturierte städtische Umgebung eingebunden:
die Ostberliner Alleen, die Boulevards im Tiergartenbezirk, die
große, offene Wiese vor dem Gebäude, die Mauer die an der
Ostfassade entlangführt, die Spree. Wie beim Pont Neuf ist die
Umgebung also stark durch klare Abgrenzungen und urbane
Durchgliederung geprägt. Bei Projekten wie The Umbrellas oder Running Fence ist die Umgebung dagegen viel organischer. . . wellige
Hügel usw. Die Mastaba, die wie ein Wahrzeichen in der Landschaft
steht, kann andererseits in gewisser Hinsicht mit dem Reichstags-Projekt verglichen werden, obwohl es kein städtisches Projekt ist.
Es ist eine einzige, enorm große Einheit - kein Objekt, sondern ein
Brennpunkt. Für The Umbrellas, die Surrounded Islands und den Running
Fence ist die lineare Dimension, die Dimension der Länge, von viel
größerer Bedeutung, und damit unmittelbar verbunden die
Dimension des Raums, der Ferne und der Zeit... man kann minuten- oder stundenlang in eine Richtung laufen. Dabei ist es
gleichgültig, ob ein rein ländlicher oder ein eher
vorstädtischer
Raum auf diese Art und Weise manipuliert wird. Die räumliche
Umgebung dieser Projekte ist weniger starr zufälliger und
abwechslungsreicher. Es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt
der Umbrellas, der in gewisser Weise mit dem Running Fence verglichen werden kann: Die Schirme wie die einzelnen Stoffbahnen
sind Module, die aneinandergereiht sind. Das Umbrellas-Projekt ist
wie eine Promenade angelegt... man kann es begehen oder
befahren; man kann um die Objekte herum- oder unter ihnen
hindurchgehen, während es sich beim Reichstag um einen einzigen gewaltigen Block von fast magnetischer, metaphysischer
Präsenz handelt - jede der vier Fassaden hat ihr eigenes, unverwechselbares Gesicht, aber es sind eben die vier Fassaden eines
Gebäudes. Bei den Umbrellas haben wir einen Innenraum, man
kann sich darunterstellen, in den Schatten der Schirme, und wir
haben die strukturelle Transparenz des Materials, aus dem das
Dach besteht. Das Material wird ganz anders verwendet und der
Raum ganz anders erfahren als beim Verhüllten Reichstag. Hier geht
es im Kern um Architektur; das, was verhüllt wird, ist Architektur.
Das Projekt steht in engster Verbindung zum Leben und zu den
Perspektiven in einer Großstadt: Straßen, Alleen, Öffnungen.
Yanagi:
Wozu wird das Reichstagsgebäude heute verwendet?
Christo:
Das Gebäude war bis in die späten sechziger Jahre hinein eine
Ruine. Nach dem Wiederaufbau - der größte Teil der Möblierung
wurde von Mies van der Rohe entworfen - sollte es als große
Kongreßhalle genutzt werden. Das machte die Sowjets natürlich
sehr nervös. Sie plagt die Sorge, daß das westdeutsche Parlament Sitzungen im Reichstag abhalten und damit die deutsche
Vereinigung einleiten könnte. Deshalb bestehen die Sowjets darauf, daß das Gebäude nicht für politische, sondern nur für
kulturelle Veranstaltungen und inoffizielle Besuche der deutschen
Bundesregierung benutzt wird. Als Berlin 1945 in Sektoren aufgeteilt wurde, wurden umfassende Verordnungen schriftlich niedergelegt, die ein ganzes Telephonbuch füllen würden: wie alles in
der Stadt gemacht werden sollte, wie sich die Leute in Berlin zu
bewegen hätten, wie die Sowjets in Westberlin patrouillieren
könnten. . . sowjetische Offiziere fahren ebenso durch Westberlin wie amerikanische durch den Ostteil der Stadt. Der Bundeskanzler oder der Bundespräsident bringen oft Besucher aus dem
Ausland nach Berlin, um ihnen die Mauer zu zeigen. Als Kanzler
Schmidt den italienischen Ministerpräsidenten zu nahe an den
Reichstag heranführen wollte, wurde er von einem sowjetischen
Jeep daran gehindert; die Sowjets befürchteten, ein Besuch des
Kanzlers mit offiziellen Staatsgästen im Reichstag könnte zu enge
Assoziationen mit dem Deutschland der Vorkriegszeit hervorrufen. Es ist eine heikle Balance, die immer von den internationalen
Beziehungen abhängig ist- ist die internationale politische Lage
weniger angespannt, wird es leichter sein, Bewilligungen zu
bekommen. Zur Zeit [1986] beherbergt das Gebäude ein Restaurant und eine Dauerausstellung zur Geschichte Berlins seit der
Errichtung des Reichstags, mit Photographien, Dokumenten und
maßstabsgerechten dreidimensionalen Modellen, die die
Kriegszerstörungen usw. dokumentieren [. . .].
© 1995 Christo & Prestel Verlag