© 1995 Christo & Prestel Verlag
Interview mit Christo
von Masahiko Yanagi
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Mit freundlicher Genehmigung des Prestel Verlags
Collage in zwei Teilen 1992
Foto: Wolfgang Volz
Privatsammlung, Berlin
Yanagi:
Wie alle Ihre Großobjekte wird auch das Reichstag-Projekt auf viel
Wiederstand und Ablehnung
gestoßen sein. Könnten Sie einige Beispiele dafür nennen?
Besonders interessieren würde mich
die Reaktion der Sowjetunion.
Christo:
Als das Projekt Mitte der siebziger Jahre bekannt wurde, gab es
viele Kommentare, sogar einen Leitartikel in der "Prawda", die
sich gegen das Projekt aussprachen. Die Sowjets sagten natürlich, das Reichstag-Projekt sei eine dekadente amerikanische
Dummheit und eine leichtfertige imperialistische Intervention in
Berlin, und die Amerikaner täten besser daran, Geld für die
Arbeiter oder die Armen auszugeben usw. Die künstlerische
Bedeutung des Projekts ist ihnen natürlich völlig entgangen. Ihre
Kritik richtete sich hauptsächlich gegen die "Materialverschwendung". Ein Mitglied unseres Kuratoriums hat zwar vor einigen
Monaten mit dem sowjetischen Botschafter gesprochen, aber ich
glaube, daß die Sowjets das Projekt immer noch ablehnen,
obwohl sie es wahrscheinlich eher ignorieren werden. Ob wir die
Genehmigung bekommen, ist ihnen eigentlich egal. Das ist nicht
das erste Mal, daß ich von ihnen angegriffen werde. Über den
Verhüllten Pont Neuf sagte das sowjetische Fernsehen, ich sei gar kein
Künstler. Sie nannten mich einen amerikanischen
Geschäftsmann, der den Pont Neuf verpackt habe, um durch den
Verkauf von T-Shirfs und Postkarten Dollarmillionär zu werden,
was natürlich schon deshalb völliger Unsinn ist, weil ich
gar keine T-Shirts
und Postkarten verkaufe. Das ist zur Zeit die sowjetische Meinung
über alle meine Projekte, mit dem Running Fence und dem Valley Curtain
war es dasselbe.
Merkwürdigerweise wurde das Projekt 1977 von
dem konservativen Bundestagspräsidenten Dr. Karl Carstens mit
genau denselben Argumenten abgelehnt, die auch der liberale
Schriftsteller Günter Grass vorgebracht hatte. Ausgerechnet
beim Reichstag-Projekt waren sie einer Meinung. Ihr Haupteinwand war: " Es ist unsere Pflicht, die Einheit aller Deutschen zu wahren, und wenn es schon eine politische Teilung zwischen Ost
und West gibt, dann müssen wir wenigstens an der kulturellen
Einheit festhalten." Wie viele Westdeutsche glauben auch sie,
daß die Menschen in Ostdeutschland von zeitgenössischer
Kunst keine Ahnung haben, und daß sie meine Interpretation des
ehemaligen deutschen Parlaments nicht nachvollziehen könnten. Das
ist einfach nicht wahr weil die Westberliner Fernsehprogramme auch in
Ostberlin empfangen werden können; Fernsehwellen lassen sich
nicht aufhalten, und die Ostberliner sind täglich über alles
informiert, was in der freien Welt passiert.
Darüber
hinaus halten viele westdeutsche Kunsthistoriker Vorlesungen in
Leipzig und Dresden. Als wir im Dezember 1985 in Westberlin
waren, ging es sehr wild zu, als wir uns mit einigen Zeitungsredakteuren und politischen Autoren trafen, die immer noch
behaupten, die Verhüllung des Reichstags würde die Gefühle der
Deutschen verletzen. Und es gibt nur eine einzige Möglichkeit,
ihre Meinung zu ändern: Wir müssen beweisen, daß eine Mehrheit der Deutschen den Reichstag verhüllt sehen möchte.
Collage in zwei Teilen 1992
Foto: Wolfgang Volz
Sammlung Jeanne-Claude Christo, New York
Yanagi:
Sind Sie, abgesehen von den politischen Implikationen, auch an der Architektur
des Reichstags
interessiert?
Christo:
Mir kommt es vor allem auf den Standort an. Das Gebäude an
sich ist nicht besonders interessant. Es ist ein typisch
wilhelminischer Bau, der von Wallot, einem prominenten, aber nicht
sonderlich bedeutenden Architekten entworfen wurde [. . .]. Es ist ein
sonderbares, irgendwie linkisches Gebäude. Die Ost- wie die
Westfassade sind 135 Meter lang, und für diese Länge ist es
extrem schmal: In die Breite mißt es nur 96 Meter. Es ist mit vier
Türmen und einer enormen Menge an Reliefs und Statuen verziert.
Da die Fassade durch viele horizontale Linien zerschnitten ist,
geht die Dimension der Höhe - die immerhin 42,5 Meter beträgt
- völlig verloren, und das Gebäude macht einen zusammengequetschten
Eindruck. Wenn der Reichstag verhüllt ist, wird man
seine Höhe viel besser wahrnehmen. Den Grundstein legte Bismarck,
und schon im späten 19 Jahrhundert wurde der Reichstag
in Betrieb genommen, doch weder der Kaiser noch Bismarck
haben sich je für das Gebäude interessiert. Ein demokratisches
Parlament im eigentlichen Sinne beherbergte der Reichstag nur
während der Weimarer Republik.
Yanagi:
Könnten Sie noch mehr über die Geschichte des Reichstags
erzählen?
Christo:
Vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich das Zentrum
der Stadt mit den Ministerien, den Universitäten, den Theatern
und der Bauakademie im heutigen Ostberlin. Die Ostfassade
des Reichstags blickt in diese Richtung. Heute betritt man den
Reichstag durch einen Seiteneingang, während die Westfassade
nur noch zeremoniellen Zwecken dient.
Da Bismarck Berlin zu einer repräsentativen Hauptstadt für
das unter preußischer Vorherrschaft stehende Kaiserreich
machen wollte, war Berlin eine der am besten geplanten Städte
des 19 Jahrhunderts mit sagenhaft langen Alleen wie Unter den
Linden mit dem Brandenburger Tor das nur 150 Meter vom
Reichstag entfernt liegt. Der Reichstag ist ganz und gar in dieses
preußische Hauptstadtkonzept eingebunden. Ein berühmter
deutscher Dichter hat einmal gesagt, das Innere des Reichstags
sei so dunkel, so ohne Licht; es könne ihn nicht wundern, daß die
deutsche Politik so finster sei.
Philipp Scheidemann, der erste Ministerpräsident der Weimarer
Republik, rief 1918 von einem Fenster des Reichstagsgebäudes die
Republik aus.
Damit begann eine der dramatischsten Epochen in der deutschen
Geschichte, weil die Weimarer Republik schließlich von Hitler
und seiner Nationalsozialistischen Partei abgelöst wurde. Der
berüchtigte Reichstagsbrand von 1933,
der von Hitler angestiftet worden war und dem die Kuppel zum
Opfer fiel, war für die Nazis das Startsignal für die Verfolgung
progressiver Köpfe und die Vernichtung der Juden. Zunächst einmal organisierten sie in Leipzig den Reichstagsbrandprozeß. Die
Angeklagten waren ein Holländer und - merkwürdig genug - ein
Bulgare namens Dimitroff. Nach dem Brand traf sich das Parlament des
Dritten Reichs in der Kroll-Oper. In der Schlacht um Berlin wurde der
Reichstag dann schrecklich zerstört. Der sowjetische General
legte größten Wert darauf, den Reichstag einzunehmen. Das
Gebäude war zwar nicht von strategischer doch von hoher
symbolischer Bedeutung. Ein Nazi-Kommando verteidigte das
Gebäude, und offenbar starben Hunderte von sowjetischen Soldaten,
als der Reichstag Schritt für Schritt und Stockwerk für
Stockwerk erobert wurde. Es gibt zwei berühmte Photographien von
der Einnahme des Reichstags: Eine zeigt eine
Rakete vom Typ "Katjuscha", auf die ein russischer Soldat die
Worte "Für den Reichstag" geschrieben hat, und die andere einen
sowjetischen Soldaten, der auf dem Dach des Reichstags die
sowjetische Flagge hißt.
Bis in die späten sechziger Jahre blieb der Reichstag eine Ruine,
und schließlich wurde das Gebäude [zwischen 1957 und 1972] mit
großem finanziellen Aufwand von der westdeutschen Regierung
wiederaufgebaut, nachdem man sich mit dem kommunistischen
Deutschland über die Wiederherstellung geeinigt hatte. Die
Kuppel wurde jedoch nicht restauriert.
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