© 1995 by Christo & Luebbe Verlag
Chronologie des Reichstags-Projektes
Oktober - Dezember 1985
1. Oktober 1985:
Werner Spies schreibt in der FAZ: "Stehen wir da
mit unserem Reichstag, den Christo ab und zu wieder einmal beinahe, dann wieder
nicht verpacken darf, nicht wie düpierte ängstliche Provinzler da?
Ist da nicht die jüngste Absage an dieses Vorhaben ein Zeichen für
lamentable staatliche >Kunstpflege<, die sich möglichst im
Niemandsland Festsaal zwischen Gummibäumen und Streichquartett abzuspielen
hat? Wenn der Bundeskanzler meint, der Reichstag wirke für sich, dann mag
dies stimmen, aber er wirkt leider nur so, wie alle Denkmäler wirken, und
von denen hat Musil mit Recht gesagt, sie seien geradezu gegen Aufmerksamkeit
imprägniert. Wir sind überzeugt, daß Christo diese
Unsichtbarkeit abschaffen würde."
2. Oktober 1985:
Senator Kewenig und Christo essen zusammen in Paris.
5. Oktober 1985:
Diepgen läßt bekannt werden, daß er
das Reichstags-Projekt gutheißen würde, wenn das Publikum dafür
sei. Senator Hassemer besucht zusammen mit seinem Planungsreferenten, Bernhard
Schneider, Christo in Paris. Christo führt ihn um den Pont Neuf und beide
haben zwei Stunden Zeit, über das Reichstags-Projekt zu sprechen. Sie
beschließen, eine "Risikogemeinschaft" einzugehen.
Die Berliner Morgenpost höhnt: Sei nicht Jenningers "nein" gut
genug für Hassemer? Habe Hassemer überhaupt das Recht, auf Kosten des
Steuerzahlers eine Reise nach Paris zu unternehmen?
16. Oktober 1985:
Bei der Live-TV-Sendung Stadtgespräch (SFB
III) treffen sich auf der Pro-Christo-Seite Walter Scheel und Hassemer, auf der
Gegenseite Morgenpost-Chefredakteur Johannes Otto und CDU-MdB Peter
Kittelmann (im Februar 1994 wird Kittelmann einer der Hauptantragsteller
für das Projekt sein). Otto fragt Hassemer, ob Jenningers Wort für
ihn nichts, ob Jenninger selbst ein "Nullum" sei. Als Otto behauptet, das
Projekt verletze die Gefühle der Berliner, hagelt es Proteste und
später sogar in der Berliner Morgenpost Leserbriefe: Viele Leser
verbitten es sich, daß Otto ihnen verletzte Gefühle unterstellt.
17. Oktober 1985:
Peter Kittelmann führt ein
"Reichstagsgespräch" im Reichstagsgebäude über das
Christo-Projekt; Teilnehmer sind Volker Hassemer, Klaus-Rüdiger Landowsky
und der Kunsthistoriker Otto von Simson, Moderator ist SFB-Redakteur Harald
Karas. Kittelmann selbst ist kein Befürworter des Projekts.
19. Oktober 1985:
Meldung im Tagesspiegel: "Der
Landesausschuß der Jungen Union Berlin hat sich auf seiner jüngsten
Sitzung mit großer Mehrheit für eine Verpackung des
Reichstagsgebäudes durch den amerikanischen Künstler Christo
Javacheff ausgesprochen. Einen entsprechenden Antrag will die Junge Union auf
dem Landesparteitag der Berliner CDU am 22./23. November einbringen."
23. Oktober 1985:
Aufgrund eines Vorstoßes von Berlins
Kultursenator Volker Hassemer ändert Bundestagspräsident Philipp
Jenninger seine Haltung. Der RIAS strahlt ein mit Jenninger geführtes
Interview aus, in dem er sagt, als Präsident des Bundestags und Hausherr
im Reichstag könne er die Tatsache nicht außer Acht lassen,
daß er gerade in den letzten Monaten wieder eine Fülle von Briefen
der Berliner Bevölkerung erhalten habe, in denen Unmut über das
Projekt geäußert werde. So sei beispielsweise die Argumentation
ernstzunehmen, daß ein Gebäude, das gleichzeitig Symbol der
parlamentarischen Tradition und Wahrzeichen des Scheiterns der ersten
Demokratie ist, nicht Objekt spektakulärer Aktionen werden dürfe.
Jenninger nennt "Bedingungen" für eine Reichstags-"Verpackung": Er
könnte über diese Idee neuerlich nachdenken und neu entscheiden, wenn
der Reichstag "verpackt und anschließend in neuem Glanz und einer
neugestalteten Umgebung wieder ausgepackt werden würde". Jenninger meinte
nach Angaben des Senders, eine Zustimmung zur Reichstags->Verpackung<
würde es nur geben, wenn dieses Ereignis mit einer Neugestaltung des
Gebäudes und des davorliegenden Platzes der Republik einherginge.
24. Oktober 1985:
Die Berliner Abendschau berichtet, wie
zufrieden die Pariser Handelskammer mit dem Pont-Neuf-Projekt war. Die
Zeitungen berichten über Jenningers Rundfunk-Interview.
Am selben Tag erscheint ein großer Artikel von Tilmann Buddensieg in der
FAZ: "Die mächtigen Maße, die großen Formen und die
düstere Bildersprache des Reichstags sind zu einer
>Götterdämmerung< verdorben worden, in die gleichförmige
Verständlichkeit von jedem und allem überall. Lustiger kann man sich
über diesen schreienden Widerspruch zwischen Inhalt und Form gar nicht
mehr machen. Nur Verhüllung mag hier den Unsinn offenlegen, erklären
und verändern."
26. Oktober 1985:
Kommentator Enno von Loewenstern schreibt in der
Welt, daß es noch Christo-Sympathisanten im Senat, sogar bei den
CDU-Mitgliedern, gebe: "Natürlich hoffen sie nebenher auf Schulterklopfen
seitens progressistischer Feuilletons nach dem Motto, daß die Partei des
Bösen ja doch manchmal ganz brauchbare Einsichten habe." Aber: "Gut
gemeint ist nicht immer gut. Des Reichstags Geschichte ist bitter und
wechselvoll, hier tat die deutsche Demokratie ihre ersten Schrittes; Menschen,
die hier für ihre Überzeugungen stritten, sind ermordet worden.
Christo mag seine Spiele an Brücken oder Privathäusern veranstalten;
den Reichstag dafür herzunehmen, verbietet sich."
29. Oktober 1985:
Die Berliner Morgenpost berichtet, daß
Hassemer und sein Kollege Bausenator Franke wegen der Verhüllung des
Reichstags im offenen Streit sind.
November, Dezember 1985:
Das Modell des verhüllten Reichstags wird
in der Gallery Carpenter + Hochman, Dallas, Texas, ausgestellt.
14. November 1985:
Auf Vermittlung des Rechtsanwalts und
Christo-Freundes Dr. Peter Raue lernt Cullen den Berliner Geschäftsmann
Roland Specker kennen, der Christo helfen will. Beim Mittagessen im Restaurant
des Hotel Steigenberger wird vereinbart, daß Specker dem Christo-Team
beim nächsten Besuch im Dezember Wagen und Fahrer zur Verfügung
stellen wird.
16. November 1985:
Jenninger sagt gegenüber der B.Z.: "Erst
wird der Reichstag renoviert, dann können wir übers Verpacken
reden."
25. November 1985:
Wieder findet eine Diskussion über das
Reichstags-Projekt, diesmal organisiert von der Jungen Union Berlin, im
Reichstagsgebäude statt. Teilnehmer sind diesmal Dr. Hassemer, Herr
Kittelmann, Alexander Longolius, SPD-Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses,
Peter Gierich, CDU-Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, und Michael S.
Cullen.
28. November 1985:
Der Bürgermeister von Rüdesheim, Hubert
Schlephorst, schreibt Christo einen Brief und bittet ihn, das Niederwalddenkmal
zu verhüllen.
30. November 1985:
Ankunft des Britischen Gesandten Sir Michael Burton
und Gattin Henrietta in Berlin. Beide werden große Befürworter des
Projekts und mehr als einmal behilflich sein, verschlossene Türen zu
öffnen.
Christo im Gespräch mit Michael Cullen und dem damaligen
Gerneralsekretär
der Berliner CDU, Klaus Landowsky, Berlin, Dezember
1985.
Foto: Wolfgang Volz
4. Dezember 1985:
Jeanne-Claude schreibt an Herrn Schlephorst, sie
bedauere: Christo will nur das Reichstagsgebäude verhüllen, sonst
nichts auf der Welt.
14. Dezember 1985:
Brigitte Grunert schreibt im Tagesspiegel:
"Christo läßt nicht locker." Sie weiß zu berichten: "Der
Regierende Bürgermeister Diepgen hält sich zwar zurück, sorgte
aber auf dem letzten CDU-Parteitag dafür, daß ein Antrag auf
Ablehnung der Verhüllung zurückgezogen wurde."
18. Dezember 1985:
Auf Einladung Volker Hassemers besuchen Christo und
Jeanne-Claude Berlin. Hassemer ist der Meinung, daß Christo sein bester
Botschafter ist. Wiedersehen in Berlin: Zum ersten Mal seit 1956 trifft Christo
seinen jüngeren Bruder Stefan, der ein Besuchervisum für die
Bundesrepublik (und stillschweigend für Westberlin) erhalten hat. Arend
Oetker schließt sich dem Christo-Team an.
Zusammen fahren sie zu vielen Terminen. Zunächst geht es zum KaDeWe, wo
der Direktor, Herr Breuch, für Christo einen kleinen Drink vorbereitet
hat. Christo wird auf Schritt und Tritt von Fernsehkameras der
Tagesthemen-Redaktion verfolgt.
Danach geht es in die Redaktion vom Tagesspiegel, zu einem Gespräch
mit den Redakteuren Joachim Boelke und Günter Matthes, dann zu
Tip-Magazin und Bild.
Am Abend gibt der US-Gesandte John Kornblum einen Empfang für das Ehepaar
Christo, wo auch die Reichstagsverwalter Heß und Mattig erscheinen.
Am späten Abend geben der Direktor des Steigenberger Hotels, Jean van
Daalen, und seine Frau Maryann, einen Weihnachtsempfang für die Christos
im Steigenberger Hotel, wo das Künstlerehepaar auch wohnt.
19. Dezember 1985:
Die Presseberichte am nächsten Morgen sind fast
durchweg freundlich, aber die Berliner Morgenpost behauptet auf Seite 1,
daß das Berlin-Museum auf Anweisung Hassemers öffentliche Gelder
für eine Christo-Zeichnung ausgegeben habe.
Nach dem Frühstück besuchen die Christos, Cullen, Volz und Arend
Oetker den RIAS; dessen Redakteure Wilhelm Kundler, Lutz Meunier und Detlef
Cramer versuchen Christo zu erklären, was der ältestenrat im
Bundestag ist.
Danach geht es zur Konkurrenz, zum SFB-Redakteur Joachim Braun. Ein
Fernsehinterview wird für den Februar 1986 vereinbart. Mittagessen im
Hause der Deutschen Bank Berlin: Gäste sind u. a. der ehemalige
Bundespräsident Walter Scheel, der Berliner F.D.P.-Politiker Walter Rasch
und der Schauspieler Bernhard Minetti, der eine flammende Rede für das
Reichstags-Projekt hält.
Abends verläßt Arend Oetker Berlin, Gräfin Metternich trifft
ein. Christos Vortrag über das Reichstags-Projekt in der Urania an diesem
Abend ist ausverkauft. (Großer Bericht im Tagesspiegel vom 21.
Dezember.)
20. Dezember 1985:
Nach dem Frühstück trifft sich das
Christo-Team mit den CDU-MdB Klaus Daweke, Vorsitzender der Arbeitsgruppe
Bildung und Wissenschaft von der CDU/CSU Bundestagsfraktion, und Dieter
Weirich. Beide überbringen Christo die Botschaft von Jenninger, daß
er nicht gegen das Projekt sei, keinesfalls aber vor den Wahlen im Januar 1987,
also erst in mehr als einem Jahr, seine Meinung kundtun werde. Auf Christos
Einwand, es gebe immer wieder Wahlen, man könne sich nicht darauf
einlassen, wirken beide etwas verdutzt.
Die Berliner Morgenpost hat, auf Drängen Hassemers, einen kleinen
Rückzieher abgedruckt, aber nicht auf Seite 1, sondern auf Seite 27: Der
Senator greife nicht in die Einkaufspolitik des Museums ein. Gespräche in
der Redaktion der Frankfurter Allgemeine Zeitung mit Sybille Wirsing und
Peter Jochen Winters. Ein bereits mit der US-Air-Force für Jeanne-Claude
und Cullen vereinbarter Hubschrauberflug zum Reichstag wird wegen
ungünstigen Wetters abgesagt.
Drehtermin für die ZDF-Sendung "Aspekte" vor dem Reichstag. Da das ZDF es
versäumt hatte, eine Drehgenehmigung zu besorgen, entsteht zwischen den
Vertretern des Senders und der Reichstagsverwaltung eine Verstimmung, die
Jeanne-Claude nur mit Mühe beilegen kann, damit Dreharbeiten und Projekt
nicht gefährdet werden. Mittagessen auf Einladung von Herrn Heß im
Reichstagsrestaurant.
Am späten Nachmittag findet ein mit Spannung erwarteter Termin mit
Johannes Otto in der Redaktion der Berliner Morgenpost statt. Es
knistert förmlich. Christo greift Otto wegen seines Artikels über den
Museumskaufs an, Otto fragt Gräfin Metternich, was eine adlige Frau wie
sie mit einem solchen Menschen wie Christo überhaupt zu tun haben kann.
Eine Annäherung ist nicht möglich, und nach einer Viertelstunde wird
das Gespräch so frostig beendet, wie es begonnen hatte. Christo fährt
zum Berlin-Museum und signiert Plakate. Abendessen mit Senator Kewenig, Dr.
Peter und Ursula Raue. Kewenig schlägt vor, Christo möge auf dem
Berliner Presseball am 11. Januar erscheinen und ein Tombola-Geschenk machen.
21. Dezember 1985:
Frühstück mit Volker Skierka. Christo ist
Gast in einer RIAS-live-Sendung von Horst Wendt. Die ersten fünf Anrufer
erhalten von Christo signierte Plakate. Gegen 12.30 Uhr findet im
Senatsgästehaus in Berlin-Grunewald ein Gespräch mit dem Regierenden
Bürgermeister statt. Diepgen schickt Cullen und Volz aus dem Raum, um
allein mit Christo und Jeanne-Claude zu sprechen. Diepgen schlägt Mai/Juni
1988 als Realisierungsdatum vor. September, Christos bevorzugter Monat, sei
wegen der geplanten Tagung der Weltbank ungeeignet. Als Christo sagt, daß
er in jedem Fall zwischen 12 und 18 Monate Vorbereitungszeit benötige,
versucht Diepgen Christo davon zu überzeugen, daß eine kürzere
Frist zwischen grünem Licht und Vollendung vom Standpunkt eines Politikers
besser wäre. Diepgen kann nicht sagen, daß er das Projekt
unterstützen werde. Außerdem rät er Christo vom Besuch des
Presseballs ab. Abendessen bei Roland Specker, der bekanntgibt, daß er
einen Verein, "Berliner für den Reichstag", gründen will, um a)
für das Projekt, und b) für den Wiederaufbau der Kuppel zu
kämpfen.
22. Dezember 1985:
Die Christos verlassen Berlin.
Es erscheint ein Artikel im Handelsblatt von Rainer Höynck: Christo
habe zwar keinen Durchbruch, aber zumindest einen "Geländegewinn"
erzielt.
25. Dezember 1985:
Die Berliner Morgenpost kann nicht genug vor
dem Christo-Projekt warnen: "Hände weg", schreibt ein Kommentator. "Der
Reichstag repräsentiert die Würde der Geschichte, im Guten wie im
Bösen. Hier rief Scheidemann die Republik aus. Hier vollzog sich wie in
einem Spiegel des Reiches der Untergang Weimars. Heute symbolisiert der
Reichstag in seiner bloßen Existenz die offene deutsche Frage. Er steht
für den Tag, an dem die Deutschen wieder eins sind."
© 1995 Christo & Luebbe Verlag
Text HTML-edited by Oskar Schirmer