© 1995 by Christo & Luebbe Verlag
Christo zeigt im rheinischen Landesmuseum in Bonn der
Bundestagsvizepräsidentin
Annemarie Renger ein Modell des Verhüllten
Reichstages.
Foto: Wolfgang Volz
Christo trifft am 7. September in Bonn ein. Er bringt ein Modell des Reichstags im Maßstab 1:200 aus New York mit, das in Bonn - wie sich herausstellt im Hotelzimmer - "eingehüllt" wird. Während diese Arbeit im Gange ist, kommt ein Anruf aus der Bonner Berlin-Vertretung: Wegen der Schleyer-Entführung ist das Laubenpieperfest abgesagt. Cullen verbringt die Zeit bis zur Ausstellung in diesem bedrückenden Klima damit, alte Freunde des Projekts aufzusuchen und neue zu gewinnen.
Im Sommer hatte Willy Brandt bei Christo angefragt, ob er nicht für sein Büro eine Reichstags-Collage ausleihen dürfe. Selbstverständlich werden alle Besucher sie sehen, die in das Büro eintreten, und Christo kann die Idee nur begrüßen. Ein Termin wird vereinbart, und Christo kommt am 14. September gegen 10.30 Uhr in Brandts Büro in der SPD-Parteizentrale im Ollenhauer-Haus. Mit Christo sind Cullen und Volz und der italienische Kunstkritiker und Freund Christos, Germano Celant. Willy Brandt ist bedrückt, da er die ganze Nacht hindurch an einer Krisensitzung wegen der Schleyer-Affäre teilgenommen hat. Christo schildert Brandt den Ablauf des Running-Fence-Projektes. Brandt glaubt, daß Hermann Josef Abs, Berthold Beitz und Karl Claassens für das Projekt gewonnen werden könnten. Er verspricht auch, seine Parteifreunde zu animieren, sich die Ausstellung anzusehen.
Christo und Cullen finden Zeit, über das zu gründende Kuratorium zu sprechen. Christo möchte ein Honoratiorenkomitee ins Leben rufen, das nicht mit vielen Aufgaben belastet werde, während Cullen sich ein aktives, agiles Komitee wünscht; Christo läßt es vorerst bei diesem Meinungsunterschied bewenden; wenn die Leute zusammentreffen - Christo behält die Namen der Personen, die er dabei haben will, für sich -, können sie selbst ihre Tätigkeitsbereiche festlegen. Christo hofft, daß er am 25. November eine Zusammenkunft dieser Leute in Hannover ermöglichen kann, wenn er in der Kestner-Gesellschaft die Bonner Ausstellung zeigt, die diese übernommen hat.
Einige Tage vor der Ausstellungseröffnung in Bonn, am 12. September, gibt Christo der Korrespondentin des Bonner Generalanzeigers, Annelie Pohlen, ein Interview, das am 13. September erscheint. Es zeichnet sich genau das ab, was Karl Carstens nicht wollte: Es ist nämlich unmöglich, die in Gang gebrachte Diskussion ungeschehen zu machen. Die meisten Journalisten sind der Meinung, daß die Diskussion nur hilfreich sein könne. Die Ausstellung über das Running-Fence-Projekt ist als Dokumentation konzipiert; hier wird nichts zu kaufen sein. Sie muß deswegen in die Öffentlichkeit, sie muß ins Museum. Und wegen dieser Öffentlichkeit veranstaltet das Museum eine Pressekonferenz, um dem Wunsch vieler Journalisten nach Informationen, nach einer Begegnung mit Christo zu entsprechen. Wegen der hinzugefügten Abteilung über das Reichstags-Projekt ist das Interesse in Bonn besonders groß, so daß mehr Journalisten als sonst zur Pressekonferenz erscheinen. Christo wird fast ausschließlich zum Reichstags-Projekt befragt. Er betont, daß er es nach wie vor realisieren möchte.
Die Eröffnungs-Ansprache hält Bundestags-Vizepräsidentin Annemarie Renger. An ihrem Engagement ist nicht zu zweifeln. Dennoch muß sie ihre Gedanken vorsichtig aussprechen: "Ich möchte mich mit der Eröffnung dieser Ausstellung nicht gegen die Entscheidung des Bundestags-Präsidiums stellen, das ernsthafte politische Bedenken hat. Ich selbst habe erst allmählich Zugang zu dem Vorhaben gefunden. Vielleicht ist die Zeit für eine Verwirklichung auch noch nicht gekommen. ... Eine Ausführung des Werks könnte das Reichstagsgebäude mit seinen vielfältigen historischen Bezügen und in seiner aktuellen politischen Bedeutung als Symbol der nationalen Einheit den Deutschen selbst und der Weltöffentlichkeit bewußter machen."
Am 1. Oktober erscheint ein Aufsatz des Kunsthistorikers Tilmann Buddensieg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Am 7. Oktober erscheint ein langer Aufsatz über Christo von Günter Engelhard in der Deutschen Zeitung. Selbstverständlich wollen diese Autoren das Projekt verwirklicht sehen. Anläßlich von Buddensiegs Aufsatz druckt die Frankfurter Allgemeine einige Leserbriefe ab. Von drei Briefen sind zwei negativ. Einer schlägt Christo vor, die Mauer zu verpacken: "Dafür werde ich gerne ein paar Mark spenden." Ein Architekt, der vorgibt, ein ehemaliger Schüler und Mitarbeiter eines Wallot-Schülers zu sein, bezieht Position gegen das Projekt und meint, wenn der Bundestag dem zustimmen würde, würden die Deutschen ihre Selbstachtung aufgeben. Schließlich meint der Befürworter, daß die Verhüllung des Reichstages den Deutschen und der Welt ein differenzierteres Bild der deutschen Geschichte zeige.
In Berlin sind Bemühungen der SPD im Gange, die Reichstags-Ausstellung im Rathaus Schöneberg zu zeigen. Diese Idee wird sowohl von dem Parlamentspräsidenten Lorenz als auch vom kulturpolitischen Sprecher Biewald abgelehnt.
Am 23. September ist Gerold Benz (CDU) in Berlin, und in einem Gespräch mit Cullen schlägt er vor, anläßlich einer Ausstellung über Kunsteinkäufe des Bundestages Christos Reichstagsmodell im Bundeshaus zu zeigen. Benz ist erfolgreich und erwirkt die Entscheidung, das Modell aufzustellen. Am 13. Oktober besucht Karl Carstens die Bonner Ausstellung. Gleichzeitig ist Zeitungsmeldungen zu entnehmen, daß er seine Meinung nicht geändert habe.
Im November eröffnet Christo eine Reichstags-Ausstellung in der Galerie Annely Juda in London. Die Resonanz ist phänomenal. Die englische Presse schreibt viel darüber, zumeist Positives.
Die Running-Fence-Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft ist ein Erfolg, die geplante Gründung des Kuratoriums findet jedoch nicht statt.