Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! An uns, an die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, ist die Frage gestellt worden, ob wir einverstanden sein wollen
mit dem Vorhaben, den Reichstag in Berlin mit 100.000 m2 Stoff zu
verhüllen. Über diese Frage haben wir heute zu entscheiden.
Bei dieser Entscheidung helfen uns - das ist gesagt worden - künstlerische
Kriterien nicht weiter. Das ist keine Entscheidung über Kunst. Sie kann
und sie darf dies nicht sein. Niemand von uns wird sich anmaßen wollen,
zu entscheiden, ob das Vorhaben von Christo künstlerisch sinnvoll
ist oder nicht.
Christo selbst hat im vergangenen Jahr erklärt, er lasse sich auf
akademische Erörterungen über die Frage, was Kunst ist, nicht ein.
Ihm gehe es um die sozialen und politischen Elemente seiner Arbeit. Dies
müssen auch für uns die entscheidenden Gesichtspunkte sein.
Deshalb geht es nicht um die Frage, ob die einen mehr aufgeschlossen sind
für Kunst und für das, was mit Kunst bewirkt, auch provozierend
bewirkt werden kann, als die anderen. Man sollte den Kritikern und Gegnern der
Reichstagsverhüllung genausowenig Sensibilität und
Urteilsvermögen absprechen, wie den Befürwortern des Vorhabens.
Jedenfalls braucht den Vorwurf der Ignoranz niemand auf sich sitzen zu
lassen.
Ich meinerseits habe großen Respekt vor dem Werk und dem
Schaffen von Christo. Seine Aktionskunst scheint mir von hoher, - nicht nur
ästhetischer - Wirkung, und sie lehrt uns, vieles mit anderen Augen zu
sehen. Auch mich haben seine Werke beeindruckt, ob es die von rosafarbenen
Plastikbahnen umkränzten Inseln in Florida waren, die Schirmlandschaften
in Japan oder Kalifornien, der riesenhafte Vorhang quer durch eine Schlucht in
Colorado oder zuletzt die von sandfarbenem Kunststoff verhüllte
Brücke Pont Neuf in Paris.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Reichstag ist eben nicht
Pont Neuf.
Der Reichstag ist ein herausragendes politisches Symbol der jüngeren
deutschen Geschichte,
ein Symbol, das wie kaum ein zweites die Höhen wie die Tiefen unserer
Geschichte repräsentiert. Die Wechselfälle, die schmerzlichen
Zäsuren haben an dem Gebäude ihre Spuren unmittelbar hinterlassen. So
ist der Reichstag zu Berlin steinernes Zeugnis deutschen Schicksals in diesem
Jahrhundert.
Von einem seiner Balkone rief Philipp Scheidemann 1918 die erste freiheitliche
deutsche Republik aus. Im Februar 1933 lieferte der Reichstagsbrand den
Nationalsozialisten einen Vorwand, mit dem Ermächtigungsgesetz ihre
barbarische Diktatur zu errichten. Zwölf Jahre später hißten
zwei Rotarmisten auf seinem Dach die Sowjetflagge zum Zeichen des Untergangs
des Dritten Reiches.
Wir, der Deutsche Bundestag, haben während der Teilung Deutschlands und
Berlins mit unserer Präsenz im Reichstag unser Festhalten am Ziel der
Einheit in Frieden und Freiheit und an der Zugehörigkeit des freien
Berlins zur Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck gebracht.
Hinter der Ostfassade des Reichstags verlief fast 20 Jahre lang die
Schandmauer, die Berlin, Deutschland und Europa teilte. Vor der Westfassade
haben wir in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung
unseres Vaterlandes in Freiheit und Frieden feierlich begangen.
Wir Deutsche besitzen nicht viele Symbole, die die deutsche Geschichte
der letzten 100 Jahre mit ähnlicher Wucht, mit ähnlicher Dramatik
lebendig werden lassen. So ist der Reichstag wohl das symbolträchtigste
und bedeutungsvollste politische Bauwerk in Deutschland. Mit einem solchen
Symbol sollten wir sorgsam umgehen!
Nein.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie haben vielleicht zuwenig
bedacht, wie viele unserer Mitbürger Schwierigkeiten haben, die Debatte
und jede denkbare Entscheidung zu verstehen.
Wir sollten uns Mühe geben, unsere Argumente klar vorzutragen.
(Peter Conradi [SPD]: Herr Schäuble, wer hat denn die Debatte ins Plenum
geholt? Sie doch!)
- Herr Kollege Conradi, Sie haben die Debatte eröffnet, indem Sie
dafür geworben haben, daß man in Ruhe die Argumente austauschen
soll.
Ich finde, Ihre eigenen Ratschläge sollten Sie noch eine Dreiviertelstunde
später beherzigen.
Christo selbst wirbt für seine Projekte gerne mit dem Hinweis, daß
sich ihre Wirkung auf die Menschen im voraus kaum berechnen lasse, daß
man die Resultate erst konkret vor sich sehen müsse. Es sind
Experimente, und daran ist sonst ja auch nichts auszusetzen. Aber,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil der Reichstag eben nicht irgendein
Gebäude ist, sollten wir mit ihm gerade keine Experimente veranstalten.
Es ist auch gesagt worden, Christo bemühe sich seit 20 Jahren um das
Projekt. Mit allem Respekt: Mich irritiert etwas die Beliebigkeit, mit der die
Begründungen in diesen 20 Jahren abwechseln, die für das
Projekt vorgetragen worden sind.
Zunächst hieß es, der Reichstag sei ein Symbol des Dritten Reiches -
was historisch nun wirklich falsch ist -, seine Verhüllung ordne sich ein
in die Bemühungen, die NS-Vergangenheit in Deutschland aufzuarbeiten.
- Ich habe ja nicht gesagt, daß Christo das gesagt habe;
Begründungen werden ja auch von anderen vorgetragen.
Dann wurde gesagt, das Verhüllungsprojekt ziele auf die besondere
Dramatik, die sich mit der Lage des Reichstages im Schatten der Mauer, an der
Nahtstelle zwischen Ost und West verbinde. Der Reichstag werde durch die
Verhüllung als Symbol der Teilung ins Bewußtsein gehoben. - Jetzt,
nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, geht es angeblich weniger um die
Verhüllung als um Enthüllung. Jetzt geht es um den Reichstag als
Symbol für den Neuanfang im vereinten Deutschland.
Frank Schirrmacher schrieb dieser Tage in der "FAZ", alle
Argumente, die für das Verhüllungsprojekt vorgebracht werden,
hätten den Beiklang des Gesuchten. Das Verhüllungsprojekt sei
letztlich eben doch nur Selbstzweck. - Mir erscheint das richtig. Es
gibt keine konsistente und überzeugende Antwort auf die Frage, was das
Ganze eigentlich soll.
Warum gerade der Reichstag? In keinem anderen Land gab es bisher die
Überlegung, ein Gebäude von vergleichbarer Bedeutung zum Gegenstand
einer solchen Aktion zu machen. Auch in anderen Ländern drücken
Parlamentsgebäude Geschichte aus, aber die Hausherren im Palace of
Westminster, auf dem Capitol Hill oder im Palais Bourbon würden doch
niemals dem Gedanken einer Verhüllung ernsthaft nähertreten.
- Das ist ja nie geschehen. - Ist denn in diesen Ländern das
Verständnis von politischem Stil, politischer Würde, von politischer
Kultur gefestigter als bei uns?
Jedenfalls weiß man in anderen Demokratien um die Ehrwürde, die
einem Traditionsgebäude freiheitlicher Demokratie innewohnt und innewohnen
muß. Wir Deutsche tun uns schwer mit Symbolen, die unsere Geschichte zum
Ausdruck bringen, und angesichts der Brüche und Verletzungen ist das nur
zu verständlich. Aber gerade deshalb sollten wir behutsam sein.
Unsere repräsentative Demokratie, ihre Institutionen, auch ihre
Repräsentanten haben derzeit eher zuwenig als zu viel Vertrauen,
und weil solche Defizite bestehen, müssen sie abgebaut werden. Wir sollten
niemanden in Versuchung führen oder ihm Gelegenheit bieten, solche
Defizite für sich auszunutzen, um unsere freiheitliche Demokratie
zu schwächen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. - Peter W. Reuschenbach
[SPD]: Da hatten Sie aber ein weites Feld in Ihrer Politik!)
Die Menschen in unserem Land müssen heute vieles an Veränderungen und
an Verunsicherungen aushalten. Sie müssen die Belastungen aus dem
wirtschaftlichen Strukturwandel tragen; sie müssen Einschnitte hinnehmen,
die sie in 40 Jahren Wohlstand und sozialer Sicherung nicht mehr gewohnt waren.
Sie sehen sich neuen und zusätzlichen Gefährdungen ihrer Sicherheit
ausgesetzt, im Innern wie von außen her, und in dieser Situation
müssen wir den inneren Zusammenhalt unserer freiheitlichen staatlichen
Gemeinschaft stärken. Wir müssen uns der Grundlage unserer
Gemeinschaft, unseres Fundaments gemeinsamer Werte, auch unserer nationalen
Identität neu vergewissern. Wir brauchen diesen Zusammenhalt als Klammer
für die Kräfte, die auch angesichts enger werdender
Verteilungsspielräume eher auseinanderstreben, statt zusammenzufinden.
Wir müssen daran erinnern, daß die staatliche Gemeinschaft nicht nur
durch ein System perfektionierter Rechtsnormen oder durch ein System
perfektionierter Sozialleistungen, sondern vor allem durch
Institutionen, in denen die grundlegenden Normen Ausdruck finden,
zusammengehalten wird.
Wir müssen daran erinnern, daß wir diese
Institutionen stabil und integrationsfähig halten müssen, wenn diese
Gemeinschaft eine gute Zukunft haben soll.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. - Peter W. Reuschenbach
[SPD]: Was soll das mit diesem Werk zu tun haben, verehrter Herr
Schäuble?)
Und das hat auch mit den Bauwerken zu tun, die diese Institutionen
beherbergen. Das Bild dieser Bauwerke prägt sich den Menschen ein. Und so
verkörpern sie, die Bauwerke, diese Institutionen; sie repräsentieren
sie nach außen. Damit sie glaubwürdig repräsentieren
können, sollten wir mit ihrer äußeren Erscheinung keine
Experimente veranstalten.
So ist ein Bauwerk wie der Reichstag ein politisches Symbol. In
solchen Symbolen bündeln sich wie in einem Brennglas die historischen
Erfahrungen eines Volkes. Es sind ruhende Pole, Achsen, um die das Mit- und
Gegeneinander der politischen Kräfte über Jahrzehnte kreist. Insofern
verbinden sie ein Volk auch und gerade im Widerstreit der Interessen, der Ziele
und der Überzeugungen. In solchen Symbolen kann sich die innere Einheit
eines Volkes verkörpern. Die ganze staatliche Gemeinschaft soll sich in
solchen Symbolen wiederfinden können.
Dies, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist der Grund dafür - nicht
Humorlosigkeit, Intoleranz oder mangelnder Respekt vor künstlerischer
Freiheit -, warum man überall sonst auf der Welt nationalen Symbolen
behutsamen Respekt angedeihen läßt, warum man ihrer Verfremdung im
allgemeinen wenig abgewinnen kann.
Es ist auch gesagt worden, die Verpackung des Reichstages werde das ironische
Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte dokumentieren. Ich
sagte schon, daß wir Deutsche uns mit unserer Geschichte schwertun
angesichts all der Umbrüche und Blessuren, angesichts der
Wechselbäder von Hochstimmungen und Niederlagen gerade in den letzten 150
Jahren. Deswegen würde ich jedenfalls jeden Anschein von Ironie - und sei
es nur ein Mißverständnis - im Umgang mit unserer Geschichte meiden
wollen.
Staatliche Symbole, Symbole überhaupt, sollen einen, sie sollen
zusammenführen. Eine Verhüllung des Reichstags - Burkhard Hirsch hat
es gesagt - würde aber nicht einen, nicht zusammenführen, sie
würde polarisieren.
So viele Menschen würden es nicht verstehen und nicht akzeptieren
können.
So viele Menschen würden den Umgang mit einem Bauwerk, das in der
deutschen Geschichte eine so außergewöhnliche Bedeutung für den
deutschen Parlamentarismus, für die deutsche Demokratie hat, nicht
verstehen können. Wir haben doch heute schon genügend Dinge, die uns
Deutsche eher auseinanderbringen,
und zuwenig Dinge, die uns zusammenführen. Wir sollten es uns nicht
leisten, zu viele Menschen gleichsam am Wegesrand zurückzulassen, die ein
solches Unterfangen nicht verstehen und nicht nachvollziehen können.