© 1995 by Christo & Luebbe Verlag
Christo verhüllt das Modell des Reichstag im Hotelzimmer
Foto: Wolfgang Volz
Am 3. Juni erscheint in der Zeit auf der ersten Seite die These, daß das Projekt noch lange nicht gestorben sei, daß der Berliner Senat jetzt das Wort habe. Das einzige Foto von Christo mit Carstens erscheint am 11. Juni im Ost-Holsteinischen Anzeiger. Und am 14. Juni 1977 beantworten Carstens und Brandt die Frage nach der Verpackung in der Berliner Zeitung Der Abend: Willy Brandt ist der Meinung, daß es gefährlich sei, einer Diskussion um diesen Teil der Geschichte auszuweichen, und vertritt die Auffassung, daß Christos Projekt eine Auseinandersetzung darüber veranlassen könnte, was den Deutschen der Reichstag wert sei. Brandt schließt mit dem Wunsch, daß Christos Vorhaben doch zu einem guten Ende geführt werden möge. Carstens meint dagegen, daß die öffentliche Meinung gegen die Verwirklichung des Projektes sei, und wiederholt seinen Standpunkt, daß die Diskussion dem Wert des Hauses abträglich sei. In der SPD-Zeitung Vorwärts schreibt man, daß Carstens Christos Plan "vorerst" zunichte gemacht habe, die Diskussion aber weitergeführt werde. Carstens' Meinung wird als Bevormundung beschrieben. Es zeigt sich immer wieder in den Zeitungen, daß viele Leute der Ansicht sind, daß Steuergelder verwendet werden würden.
Über ein Gespräch zwischen Carstens und dem Berliner Senator für Kultur, Dieter Sauberzweig, erfährt man nachträglich, Carstens habe Sauberzweig gefragt, ob er für den Senat spreche oder für sich selbst. Sauberzweig habe gesagt, er spreche für sich, weil der Senat noch nicht in der Lage sei, darüber ein Urteil zu fällen.
Cullen bemüht sich um eine Stellungnahme des Senats. In einem Interview für das Spandauer Volksblatt hat der neue Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe die Meinung vertreten, daß das Projekt eine "positive Provokation" sei. Die Bemühungen werden fortgesetzt, damit der Senat eine Position bezieht. Stobbe schreibt Cullen am 23. Juni, daß er bisher keine Gelegenheit gehabt habe, in jenen Wochen der Senatsbildung mit Christo zusammenzukommen. Dann meint er, "ich würde für die Zukunft ein solches Zusammentreffen grundsätzlich begrüßen, zumal mich der Künstler und seine Absichten durchaus beeindrucken. Die Chancen für das Projekt Reichstag stehen nach der Bonner Entscheidung derzeit nicht sonderlich gut. Ob und wie endgültig diese Entscheidung ist, kann ich zur Stunde nicht beurteilen, zumal ein kürzlich vorgesehenes Gespräch zwischen dem Herrn Bundestagspräsidenten und mir leider bis nach der Sommerpause verschoben werden mußte.
Berlin, so habe ich gesagt, will die positive Provokation, das muß diese Stadt, denn sie will Impulse geben und ihre Ausstrahlung verstärken. Wo ginge das besser als in der Kunst.
Wir wissen, daß es dem Ziel, positive Provokation zu sein, abträglich ist, wenn sich um künstlerische Vorhaben politische Kampagnen ranken. Deshalb muß das Vorhaben des Künstlers Christo in ernsten Gesprächen und möglichst unbefrachtet von Vorurteilen diskutiert und der sicherlich zögernden Öffentlichkeit verständlich gemacht werden."
Am Tag, als Stobbes Brief eintrifft, erfährt Cullen durch den Senatsbaudirektor Müller, daß das Christo-Projekt auf der Tagesordnung des Senats für den 28. Juni steht.
Anfang Juli erscheint in der Ostberliner Wochenzeitschrift Eulenspiegel ein langer Aufsatz des Korrespondenten John Stave. Dazu sind drei Karikaturen abgebildet. Die Zeitschrift bemüht sich, komisch zu sein - was vielleicht für westliche Ohren nicht mehr der Fall ist. In einer Karikatur sind mehrere Arbeiter des Nachts zu sehen, wie sie aus einer Fabrik Akten und Geräte herausholen. Auf deinem Aktenband steht das Wort "Entlassungen", und unter der Karikatur ist zu lesen: "Laßt doch den Christo ruhig einpacken! Wenn die Leute alle nach dem Reichstag gucken, merken sie nicht, wer sonst noch alles in Berlin einpackt!" Stave ist der Meinung, daß Carstens die richtige Entscheidung getroffen habe, aber aus den falschen Gründen. "Ein einsichtsvoller Mann, dieser Professor Carstens. Obwohl soviel Einsicht eigentlich gar nicht in seine politische Marschrichtung paßt ... oder?" Das Carstens-Wort von Christos künstlerischen Absichten wird zitiert sowie jene Formulierung, daß das Reichstagsgebäude ein Symbol der fortbestehenden Einheit der Deutschen Nation sei. Dazu schreibt der Journalist: "Manch einem geht selbst durch einen Reichstagsbrand kein Licht auf."