Die Abstimmung
Foto: © Wolfgang Volz
Die Singularität dieses politischen Diskurses blieb in der Politikwissenschaft bislang unbeachtet (Engelniederhammer 1995, 14-19). Dabei besitzt dieses Werk weitreichende politische Implikationen. Der Verlauf des Entscheidungsprozesses ist im Lichte der Politikwissenschaft ebenso evident wie die Frage nach den inhaltlich-argumentativen Positionen, die in der Debatte um die Reichstagsverhüllung politisch diskutiert wurden.
Dennoch gestaltete sich der Prozeß der parlamentarischen Entscheidungsfindung schwierig, Taktieren und Lavieren bestimmten das Vorgehen. Das Bundestagspräsidium, die informelle Runde der Fraktionsvorsitzenden, der Ältestenrat, die Fraktionen und schließlich die Debatte mit der namentlichen Abstimmung waren die Stationen des "Verhüllten Reichstages" auf seinem Weg durch die parlamentarischen Instanzen. Anfang Februar 1994 war in einer Sitzung des Ältestenrates auf Drängen der CDU/CSU beschlossen worden, über die Reichstagsverhüllung im Plenum beraten und abstimmen zu lassen. Maßgeblich für diese Entscheidung war Helmut Kohl, der zugleich innerhalb der Unionsfraktion die Abstimmung frei gab, also keinen direkten "Fraktionszwang" über den interfraktionell eingebrachten Gruppenantrag verfügen konnte. Einen Tag vor der Debatte im Bundestag beantragte die Unionsfraktion jedoch die namentliche Abstimmung (Cullen/Volz 1995: 204-212). Nicht ohne Grund, denn namentliche Abstimmungen gelten gemeinhin als Mittel der Disziplinierung, da die Abgeordneten dadurch "öffentlich Farbe zu bekennen" hätten (Ismayr 1992: 493). Doch die hiervon beabsichtigte Wirkung blieb aus. Auch des Kanzlers letzter Trumpf stach nicht, wie ein später veröffentlichtes Pressefoto illustrierte: Während der Debatte saß Kohl, der das Wort nicht ergriff, auf seinem Platz, lächelte, verfolgte die Redebeiträge und spielte dabei demonstrativ mit einem der drei Abstimmungschips auf seinem Pult. Er spielte mit dem roten Chip. Für alle im Plenarsaal war somit die beabsichtigte Stimmabgabe des Kanzlers sichtbar, roter Chip, das bedeutet bei Abstimmungen "Nein", also die Ablehnung des Antrags. Doch die Parlamentarier votierten mit einer überraschend deutlichen Mehrheit von 292 Ja-Stimmen gegenüber 223 Nein-Stimmen, bei 9 Enthaltungen und einer ungültigen Stimme" (DBT 12/ 211, 18294) für die Verhüllung des Reichstages. Nach über zwanzigjähriger Diskussion war somit eine Entscheidung herbeigeführt.