hide random home http://www.kulturbox.de/christo/buch/engelnie.htm (Einblicke ins Internet, 10/1995)

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Stefan Engelniederhammer

Zwischen Pathos und Polemik
Die Reichstagsverhüllung im politischen Diskurs

Die Abstimmung
Foto: © Wolfgang Volz

Stets im Blick auf das Aktuelle und mit Sinn für das Zeitlose wurde die Frage, ob Christo und Jeanne-Claude den Reichstag mit Stoffbahnen verhüllen dürfen, politisch kontrovers diskutiert und letztlich sogar parlamentarisch entschieden. Beispielhaft wie selten zuvor war dadurch das klassische Thema "Kunst und Politik" in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt worden. Anfangs war es nur eine belächelte Idee, die im Feuilleton Beachtung fand. Die Reichstagsverhüllung erhielt in der Publizistik jedoch bald das Etikett, Kunstwerk und Politikum zugleich zu sein. "Politikum" ist allerdings ein falsch gewählter, ein zu schwacher Begriff, um zu beschreiben, welche Wirkungen das Projekt in den Diskussionen erzielte, und welche Bedeutungszuschreibungen ihm dabei widerfuhren. Politikum läßt an streitbare, inhaltlich-politische Kunst und Provokationen vermeintlich kleinbürgerlicher Kulturbilder erinnern. Weder das eine noch das andere treffen auf den "Verhüllten Reichstag" zu. Mit Christos Konzept wurden in den mehr als 20 Jahren zugleich stets auch gesellschaftliche Befunde und politische Zielsetzungen verknüpft. Selten war Politik bildhafter diskutiert und transportiert worden als am Beispiel der Reichstagsverhüllung. Denn es wurde nicht nur über die Reichstagsverhüllung diskutiert, es wurde mit ihr - als Bild, Metapher und Symbol - argumentiert. Reichstag und Verhüllung dienten als Projektionsflächen der politischen Meinungen. Auf beiden Seiten, bei Skeptikern und Gegnern sowie Befürwortern und Unterstützern, gab es dabei weitreichende, gar überzogene Positionen. Irgendwo zwischen Pathos und Polemik schienen zuletzt die Diskussionslinien zu verlaufen. Bereits heute ist die Debatte zu einem festen Bestandteil deutscher Kulturgeschichte, sowohl der Bonner als auch der Berliner Republik, geworden.

Die Singularität dieses politischen Diskurses blieb in der Politikwissenschaft bislang unbeachtet (Engelniederhammer 1995, 14-19). Dabei besitzt dieses Werk weitreichende politische Implikationen. Der Verlauf des Entscheidungsprozesses ist im Lichte der Politikwissenschaft ebenso evident wie die Frage nach den inhaltlich-argumentativen Positionen, die in der Debatte um die Reichstagsverhüllung politisch diskutiert wurden.

1. Die drei Etappen im Entscheidungsprozeß

Die Überzeugungsarbeit des Ehepaares Christo für das Kunstprojekt hatte sich zu einem in der Bundesrepublik bislang einmaligen politischen Prozeß entwickelt. Von der Ursprungsidee bis zur formalen Entscheidung vergingen fast 23 Jahre. Gleichzeitig ist wohl selten ein politischer Entscheidungsprozeß so lückenlos festgehalten worden. Seit 1971, als Michael S. Cullen durch jene vielzitierte Postkarte an Christo den Anstoß zur Reichstagsverhüllung gab, dokumentiert Cullen die Geschichte des Projektes in Form einer kalendarischen Chronik (zuletzt in: Cullen/Volz 1995). Anhand dieser Dokumentation lassen sich schwerpunktmäßig drei relevante Etappen oder Phasen des Entscheidungsprozesses unterscheiden (nach: Engelniederhammer 1995, 47-52).

1.1 Die ersten konkreten Bemühungen 1976/77

Christo begann 1976, konkret auf eine Realisierung des Projektes hinzuarbeiten. Er besuchte zum ersten Male Berlin und Bonn, führte die ersten Gespräche mit Politikern und ließ die Presse ebenfalls in breiterem Umfang informieren. Da die juristische Zuständigkeit für das Berliner Reichstagsgebäude auch damals schon beim Präsidenten des Bundestages lag (Schick 1987), bemühten sich Christo und die rasch wachsende Zahl seiner Unterstützer stets, die jeweiligen Bundestagspräsidenten und -präsidentinnen für das Projekt zu gewinnen. Eine Realisierung schien damals durchaus greifbar, da Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) das Projekt aktiv unterstützte. Doch endete diese erste Hoffnung rasch mit der Ablehnung durch ihren Nachfolger, Karl Carstens (CDU), im Mai 1977. Das Projekt beschädige die geschichtliche Bedeutung und den Symbolgehalt des Reichstags. Bereits die Diskussion darüber sei schädlich. Denn, so Carstens, "ein großer Teil unserer Mitbürger würde es nicht verstehen, wenn gerade das Reichstagsgebäude mit seiner besonderen geschichtlichen Bedeutung und seinem Symbolcharakter für die fortbestehende Einheit der deutschen Nation zum Gegenstand eines umstrittenen künstlerischen Experiments gemacht würde" (Carstens 1977). Diese ablehnende Haltung bekräftigte später Richard Stücklen (CSU), der - im Gegensatz zu seinem Vorgänger - sogar jegliche Gespräche mit Christo abgelehnt hatte (Cullen/Volz 1995, 61). Da die Ablehnungen von Carstens und Stücklen ohne formale Abstimmung mit dem Präsidium des Bundestages erfolgten, erklärte sie Christo für sich und sein Konzept als nicht bindend. Er wertete sie lediglich als momentane Genehmigungsverweigerung und kündigte an, das Projekt weiterhin zu verfolgen.

1.2 Der zweite Anlauf 1984-87

Das Interesse an Christos Pont-Neuf-Projekt führte Mitte der achtziger Jahre langsam zu einer Wiederentdeckung des "Projektes für Berlin". Die Kulturpolitik der damaligen CDU-geführten Berliner Senatsregierungen, unter den Senatoren Kewenig und Hassemer, gab sich betont offen und weltstädtisch. Kunst und Kultur sollten als Image- und Werbefaktoren für West-Berlin dienen. Die Feierlichkeiten zum 750-jährigen Stadtjubiläum warfen ihren Glanz voraus und wirkten dabei politikstilbildend. Dies beflügelte den zweiten Anlauf der Christos. Auch in Bonn war man dem Projekt gegenüber zunehmend aufgeschlossener. Sogar Bundestagspräsident Barzel (CDU) signalisierte seine Zustimmung, Termine für eine Verhüllung wurden bereits diskutiert. Doch ehe Konkretes vereinbart werden konnte, mußte Barzel zurücktreten, und so endete auch dieser Vorstoß mit der Ablehnung eines Nachfolgers, nämlich durch Philipp Jenninger (CDU). Jenningers Rolle war ambivalent. Lange Zeit war er dem Projekt gegenüber unaufgeschlossen, dann teilweise zugeneigt, schließlich erfolgte seine "offizielle Ablehnung" in enger Abstimmung mit Bundeskanzler Kohl im Jahr 1987 (Cullen/Volz 1995: 116). Kohl hatte zunehmend eine Schlüsselrolle in der Phalanx der Projektgegner eingenommen. Im Gegensatz zu den übrigen Gegnern hatte Kohl kaum versucht, seine strikt ablehnende Haltung argumentativ zu begründen. Seine Stellungnahmen waren stets ebenso einsilbig wie kategorisch. Jenninger hatte in dieser Phase vielmehr als "Sprachrohr" Kohls zu fungieren, um die Ablehnung gegenüber der Öffentlichkeit vorzutragen. Da Jenninger allerdings wenig später zurücktreten mußte, sah Christo wiederum die Möglichkeit, langen Atem zu beweisen und am Projekt festzuhalten.

1.3 Die "letzte Chance": Die Kampagne 1992-1994

Mit dem Kontakt zu Jenningers Nachfolgerin, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), begann der dritte und letztlich entscheidende Vorstoß. Süssmuth begeisterte sich rasch für das Projekt und sicherte ihre persönliche Unterstützung zu: Eine "demokratische Mehrheit" müsse gefunden werden. Damit versuchte erstmals eine amtierende Bundestagspräsidentin die Entscheidung für das Projekt in den entsprechenden Gremien herbeizuführen und dadurch nach demokratischen Spielregeln zu legitimieren. Unklar war lange Zeit lediglich, in welchem Gremium diese Mehrheit erfolgen könne. Doch der "Alleingang" Süssmuths gab dem Projekt den notwendigen, neuen Auftrieb. Diese zeitlich "letzte Chance" mußte nun genutzt werden, da mit dem Bonn-Berlin-Beschluß und der Entscheidung, den Bundestag in das Reichstagsgebäude zu verlegen, klar geworden war, daß die Verhüllung vor dem geplanten Umbau stattfinden müsse. Die Zeit drängte. Christo mußte offensiver und gezielter für das Projekt werben. Kampagnenartig arbeitete nun das Christo-Team auf die Realisierung hin. Eine konsequente Lobby-Arbeit nach quasi amerikanischem Muster begann vor Ort, in Bonn, zwischen Wasserwerk und Behnisch-Bau. Die Christos führten weit über 300 Einzelgespräche mit Parlamentariern, unzählige Presse- und Fototermine wurden organisiert (Engelniederhammer: 67-69).

Dennoch gestaltete sich der Prozeß der parlamentarischen Entscheidungsfindung schwierig, Taktieren und Lavieren bestimmten das Vorgehen. Das Bundestagspräsidium, die informelle Runde der Fraktionsvorsitzenden, der Ältestenrat, die Fraktionen und schließlich die Debatte mit der namentlichen Abstimmung waren die Stationen des "Verhüllten Reichstages" auf seinem Weg durch die parlamentarischen Instanzen. Anfang Februar 1994 war in einer Sitzung des Ältestenrates auf Drängen der CDU/CSU beschlossen worden, über die Reichstagsverhüllung im Plenum beraten und abstimmen zu lassen. Maßgeblich für diese Entscheidung war Helmut Kohl, der zugleich innerhalb der Unionsfraktion die Abstimmung frei gab, also keinen direkten "Fraktionszwang" über den interfraktionell eingebrachten Gruppenantrag verfügen konnte. Einen Tag vor der Debatte im Bundestag beantragte die Unionsfraktion jedoch die namentliche Abstimmung (Cullen/Volz 1995: 204-212). Nicht ohne Grund, denn namentliche Abstimmungen gelten gemeinhin als Mittel der Disziplinierung, da die Abgeordneten dadurch "öffentlich Farbe zu bekennen" hätten (Ismayr 1992: 493). Doch die hiervon beabsichtigte Wirkung blieb aus. Auch des Kanzlers letzter Trumpf stach nicht, wie ein später veröffentlichtes Pressefoto illustrierte: Während der Debatte saß Kohl, der das Wort nicht ergriff, auf seinem Platz, lächelte, verfolgte die Redebeiträge und spielte dabei demonstrativ mit einem der drei Abstimmungschips auf seinem Pult. Er spielte mit dem roten Chip. Für alle im Plenarsaal war somit die beabsichtigte Stimmabgabe des Kanzlers sichtbar, roter Chip, das bedeutet bei Abstimmungen "Nein", also die Ablehnung des Antrags. Doch die Parlamentarier votierten mit einer überraschend deutlichen Mehrheit von 292 Ja-Stimmen gegenüber 223 Nein-Stimmen, bei 9 Enthaltungen und einer ungültigen Stimme" (DBT 12/ 211, 18294) für die Verhüllung des Reichstages. Nach über zwanzigjähriger Diskussion war somit eine Entscheidung herbeigeführt.


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