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Virtuelles Parlament
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Bernhard Claußen

Die Reichstags-Verhüllung als Stimulus des politischen Lernens?

Über den kritischen Umgang mit Parlamentarismus durch Kunst

Schmuckfigur des Reichstags
Archiv Cullen

    "Unabdingbar bleibt der ästhetischen Brechung das, was gebrochen wird; der Imagination das, was sie vorstellt. (...) Kunstwerke sind Nachbilder des empirisch Lebendigen, soweit sie diesen zukommen lassen, was ihnen draußen verweigert wird, und dadurch von dem befreien, wozu ihre dinghaft-auswendige Erfahrung sie zurichtet" (Adorno 1993: 14).

  1. Annotationen zum politischen Lernen: ein Prolog zur Reichstags-Verhüllung
  2. Über Implikationen der Reichstags-Verhüllung zu handeln, noch bevor die Verhüllung selbst stattgefunden hat, ist nicht unproblematisch. Bei voreiliger Einschätzung der Bedeutung dessen, was noch nicht ist, könnte daraus nur zu leicht eine Art Virtualisierung werden. Diejenige eines ästhetischen Ereignisses nämlich, das seinerseits womöglich ein virtuelles Bild von Politik liefert, die (wie z.B. Edelman 1990 in Grundzügen zeigt) ohnehin schon häufig keine realitätsgerechte (Selbst-)Darstellung erfährt. Zur Basis hat sie in erster Linie lediglich die massenmediale und darum verzerrte Thematisierung der Vorbereitung eben dieses Ereignisses. Da besteht durchaus die Gefahr einer geradezu ins vollends Absurde gesteigerten Ausdehnung und Bekräftigung der (beispielsweise und insbesondere bei Meyer 1992 eher unkritisch) sympathisierenden Anerkennung der vermeintlich alleinigen Unausweichlichkeit der Kommunikation über Politik durch symbolisch vermittelte Scheinwelten und Inszenierungen.

    Indes ist die Reichstags-Verhüllung mehr und anderes als die nur wenige Tage währende faktische Ummantelung eines gleichermaßen prominenten, geschichtsträchtigen, bedeutungsschweren und gerade darum wohl mythenumwobenen Parlamentsgebäudes. Folgt man der langjährigen Geschichte ihrer Vorbereitung (wie sie von Cullen/Volz 1995b rekonstruiert und von Buddensieg 1995b fokussiert wird), handelt es sich bei ihr um ein komplexeres Projekt. Dessen Prozeßcharakter zielt naheliegenderweise darauf und hat realiter es schon mit sich gebracht, daß die Stationen der Vorbereitung mitsamt der um sie geführten Auseinandersetzungen, Berichterstattungen und Assoziationen wichtiges Konstitutivum des ästhetischen Werkes sind. Zumal angesichts der kaum ausbleibenden öffentlichen Resonanz, auf welche die schließlich sichtbare Verhüllung und die daran noch anschließenden Reaktionen stoßen werden, ist ungeachtet der Absichten und Wirkungen, die ausdrücklich mit dem Projekt verbunden oder davon erwartet werden, selbst die Zeit jenseits des unmittelbaren äußerlichen Ereignisses noch ein Stück weit innerer Bestandteil des Vorhabens.

    Zwar wäre es einigermaßen übertrieben, sich vermittels einiger Überlegungen zur Frage nach der etwaigen Stimulanz des politischen Lernens durch die Reichstags-Verhüllung gleich der Zugehörigkeit zum Projekt anheischig zu machen oder gar als Teil des ästhetischen Ereignisses sich zu gerieren. Es ist aber aufgrund des Aktionscharakters der Inszenierung doch zulässig, mehr als nur spekulativ auf diese Frage sich einzulassen. Denn:

    Vielleicht beginnt politisches Lernen aus Anlaß der Reichstags-Verhüllung bereits damit, sich dessen konkret bewußt zu werden - und darauf detailliert sich einzulassen?! Auch wenn dadurch womöglich ein Teil der mit dem Projekt verknüpften Kalkulation aufzugehen beginnt, bedeutet das doch keine Auslieferung an mehr oder minder unverhüllte manipulative Fremdintentionen. Der Verlauf und das Ergebnis eines solchen Folge- und Begleitprozesses nämlich sind offen. Und sie bezeichnen sowieso nur wenige der vielen möglichen, prognostizierbaren und überraschungsreichen Pfade, die politisches Lernen im Kontext der Reichstags-Verhüllung einschlagen könnte.

    Von solchen Pfaden soll in diesem Beitrag die Rede sein. Wenn das ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder umfassende Systematisierung geschieht, so weniger aus Phantasiemangel als aus Respekt vor dem noch unabgeschlossenen Projekt. Denn mag es insgesamt auch mehr als die bloße Verhüllung sein, so ist doch diese der ästhetische Kern oder/und Höhepunkt jahrzehntewährenden Strebens und Bemühens. Jedwede über generelle (und schon bei Buddensieg 1992b in andere Richtung nur äußerst behutsam formulierten) Erwartungen hinausgehende Vorabausdeutung des noch nicht stattgefundenen Ereignisses würde dem Werk Gewalt antun. Sie könnte kaum anders als banausenhaft sein - und würde nicht zuletzt deshalb den erst später möglichen Fluß weiterführender Reflexionen sträflichst kanalisieren oder vorschnell versiegen zu lassen begünstigen.

    Die Parteinahme für die Offenheit des Umgangs mit dem Ereignis ist selbst bereits, wenn auch wenig spektakulär und zunächst noch vordergründig, politisch. Denn Sie beinhaltet Symapthie für die Verhüllung des Reichstages und mit den daran geknüpften Erwartungen oder daraus erwachsenden Möglichkeiten des sinnlichen Vergnügens, der Provokation von Kommunikation und der Mobilisierung von Bewußtseinsleistungen. Die Hypothese, daß also die Reichstags-Verhüllung ein Stimuls politischen Lernens zu sein vermag, ist dadurch einmal mehr formuliert.

    Daß sie keineswegs illusionärem Wunschdenken aufsitzt, wird zu zeigen sein. Widersprochen wird damit all jenen, die der Reichstags-Verhüllung nichts abgewinnen mögen, sie als verwerflich ansehen oder ihr Relevanz für politisches Lernen von vornherein absprechen. Bleibt dieser Widerspruch nicht fundamentalistisch bornierte Abwehrhaltung und Ausgrenzung, sondern Anlaß und Bereitschaft zur produktiven Auseinandersetzung mit Gegnerinnen und Gegnern des Projekts, so wird daraus ein Element demokratischer Streitkultur.

    Der Streit selbst kann hier nicht ausgefochten werden. Seine Konturen und die Möglichkeiten einer Vorbereitung auf die Teilhabe an ihm anzudeuten, soll aber den Fokus der Auslotung von Möglichkeiten politischen Lernens aus Anlaß und im Umfeld der Reichstags-Verhüllung und damit den Grund der Auswahl von Aspekten des Themas bezeichnen.

    Im übrigen bleibt die Gedankenfolge eine Kette von locker verbundenen, notizenhaften Anmerkungen. Es ist dies wohl die Form, die dem vielschichtigen, schwebenden und später noch nachklingenden Inhalt - also dem Prozeß der Vorbereitung, der Verhüllung als solcher sowie den damit verbundenen früheren, gegenwärtigen und fernen Umständen - am ehesten gerecht zu werden vermag. Und vielleicht kann die pralle Sinnlichkeit der Verhüllung auch besser zur Geltung kommen und Wirkung entfalten, wenn ihr nicht durch üppige und bildreiche Beurteilungsfloskeln nachgeeifert, sondern ihre Relevanz entlang bewährter nüchterner Kategorien der Illustration oder Anstiftung einer Kultivierung politischen Lernens dargelegt wird. Dabei gehört es zur Vermeidung voreiliger Schlüsse über den Wert der Reichtstags-Verhüllung, daß deren Relevanz für politisches Lernen nicht unmittelbar und pragmatistisch behauptet wird, sondern zunächst in theoretischer und praktischer Hinsicht grundlegender Voraussetzungen sich zu vergewissern trachtet.


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