Genau darum ist auf der Verknüpfung mit Politischer Bildung zu insistieren, in deren Strukturen, freilich prinzipiell mehr als faktisch, noch am ehesten Aussicht auf Bewahrung und wiederkehrende Verlebendigung des Geistes des Projekts der Verhüllung besteht. Sie käme vielleicht auch dem Anliegen der Verhüllung selbst näher als die zu erwartende alsbaldige Verbannung des Geschehens in die Annalen der Kunstgeschichte oder die Video-Abteilungen der Galerien und Museen.
Nicht der Reiz-Reaktions-Mechanismus der Inszenierung ist darum letztlich wichtig, sondern das, was jenseits punktueller Wirkungen dauerhaft verbleibt, sich sedimentiert und katalysatorisch wird. Auch wenn sich wahrscheinlich die Demoskopie auf die Effekte der Verhüllung stürzen und mancherlei drollige Stimmungsbilder erheben wird, ist es für die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik allenfalls marginal, ob sich einzelne Menschen von dem Ereignis zeitweilig imponieren lassen, ein paar Wissensfragmente hinzugewinnen oder gar behaupten, ihr Verhältnis zum Parlamentarismus grundlegend überdacht zu haben. Die Verhüllung wird kein Schlüsselerlebnis werden, das eine neue politische Generation hervorbringt. Dafür greift sie zu wenig in die Lebensverhältnisse ein, kann diese nicht einmal selbst zum Thema machen, sondern nur am Ende einer langen Kette von Entdeckungen vielleicht sich andeuten lassen, daß sie als Konstitutivum der Demokratie zu reflektieren sind.
Mittelbare Effekte, die man sich erhoffen kann, haben demgegenüber eine andere Relevanz: Viel gewonnen wäre, wenn die Reichstags-Verhüllung derart beeindruckend wäre, daß das, was sie zum Thema macht, fortan, ohne daß daraus schon gleich tiefgreifende Korrekturen der politischen Sozialisation hervorgehen, auch weiterhin wenigstens dort auf der Tagesordnung verbleibt, wo es eigentlich seinen festen Platz haben müßte: Immerhin bringt das Projekt in Erinnerung, daß die eigentlichen Aufgaben Politischer Bildung einer konzentrierten Bearbeitung grundlegender Fragen der politischen Existenz gwidmet sein sollten. Die Geschichte der Verwirklichung dieser pädagogischen Aufgabe zeigt, daß sich in Vergangenheit und Gegenwart diesbezüglich eine riesige Kluft auftut (vgl. Claußen 1995).
Würde in der Politischen Bildung der Impetus der Reichstags-Verhüllung aufgegriffen und gleichsam institutionalisiert, so müßte daraus eine erhebliche Distanz zu den affirmativen Konzepten jener seit kurzem modisch zu werden beginnenden Parlamentspädagogik (siehe Sarcinelli 1991 sowie zur verballhornenden "Präzisierung" Wissel 1995) resultieren: Denn unter Preisgabe nahezu aller Standards dessen, was Didaktik der Politischen Bildung zu leisten hat und schon zu leisten vermochte, wird neuerdings mit unreflektierten Mitteln der Kulturindustrie die pure immanente Einführung in die Funktionsweise von Parlamenten zur Politischen Bildung stilisiert und Vermittlung auf Präsentation oder Informationsauswahl verengt (siehe Wissel 1995). Gewiß liegt dem durchaus das Verständnis eines aufgeklärten Institutionalismus zugrunde, doch bleibt er ebenso wie seine didaktische Adaptation (wie Sarcinelli 1991 belegt) auf eine Rationalität beschränkt, die nach bloßer Effizienzsteigerung sucht und Reformen auf ornamentale Ausbesserungen reduziert. Es fehlt die Aufklärung über das, was aufgeklärter Instititionalismus ist und sein kann. Die Lernenden werde so zu staunenden Rezipienten degradiert, bekommen aber keinen Anreiz, sich selbst zu prüfen und mit anderen auf gehaltvolle kontroverse Diskussionen sich einzulassen.
Insofern die Reichstags-Verhüllung auch und mit einigem Gewicht auf solche Fragen verweist oder sie zu formulieren geradezu ermuntert, ist zwar nicht zu erwarten, daß dadurch die Defizite simpler und simplifizierender Parlamentspädagogik automatisch kompensiert werden. Es wird damit aber ein punktueller Kontrast geboten, der Anlaß und Grund liefert, entsprechende Erörterungen in Theorie und Praxis der Politischen endlich wieder einmal aufzunehmen.
Mit alledem ist die Reichstags-Verhüllung ein geradezu mustergültiges Beispiel für die Relevanz von Kunst für Politik und politische Sozialisation. Vielleicht gelingt dadurch eine Belebung des Nachdenkens über den Stellenwert von Kunst in der Politischen Bildung, die man sich durchaus als Fortschreibung, Aktualisierung und Ergänzung verstreut vorliegender Erwägungen (vgl. etwa Claußen 1975, Heyberger 1984, Schwöbel/Martinez 1989, Müller 1991 und Matthies 1994) vorstellen könnte. Das Spezifikum der Reichstags-Verhüllung besteht obendrein auch noch in der Demonstration, daß durch die Verwendung von Kunst für Zwecke politischen Lernens durchaus keine Reflexionsermäßigung oder eine Abkehr von der verbalen Kommunikation zu erwarten stehen muß!
Vielleicht weniger mit den direkten Effekten vor Ort als mit der Legitimationshilfe und Befruchtung einer Politischen Bildung, die längst schon auf eine kritische Beteiligung an der Parlamentarismusdebatte und andere Belebungen der politischen Kultur zielt (siehe Claußen 1990), läßt sich die Stimulanz politischen Lernens durch die Reichstags-Verhüllung evident machen. Falls damit nur ein Exemplum ihrer Distribution angesprochen sein sollte, wäre das gewiß nicht nachteilig. So oder so verweist das Verhüllungs-Projekt auf eine Zäsur: Dem Kunstereignis folgt der Umbau für den Einzug des Deutschen Bundestages, dessen innenarchitektonische Ästhetik gewiß Aufschlüsse über das herrschende parlamentarische Selbstverständnis geben wird. Die Qualität der darin dann in naher Zukunft zu leistenden Arbeit wird nicht unwesentlich davon abhängen, wie die kritische Öffentlichkeit außerhalb verfaßt ist.