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Daimler-Benz News vom 2.4.1995

Virtual Prototyping und
der virtuelle Mercedes

Das Virtual-Reality-Labor
der Daimler-Benz-Forschung

Hannover, 02. April 1995
Virtuelle Techniken halten Einzug in die Realität: Im Virtual-Reality-Labor von Daimler-Benz werden reale Konstruktionsmodelle per 3-D-Scanner in virtuelle Welten übertragen. Am Bildschirm läßt sich das künftige Produkt dreidimensional betrachten, lange bevor es in die Produktion geht. Dies bietet die Möglichkeit, schnell und schon in einer frühen Phase Veränderungen am Aussehen vorzunehmen.

"Virtual Prototyping" ist eine Technik, der in Zukunft große Bedeutung bei der Beschleunigung der Produktionsprozesse und bei der Kostenreduktion in Produktion und Entwicklung zukommen wird: Die Zeiten, in denen in wochenlanger Arbeit Holzmodelle von Produkten hergestellt werden mußten, gehen dem Ende entgegen. Ein ganz konkretes Beispiel für den Einsatz von Virtual Reality im Daimler-Benz-Konzern ist das Forschungsprojekt "Raumwahrnehmung in Fahrzeuginnenräumen":

Bei dem Projekt stehen psychologische Untersuchungen im Vordergrund. Wie wird ein Mercedes-Innenraum beurteilt? Wie wird die Raumgröße wahrgenommen? Welche Faktoren sind dabei entscheidend? Ist es die Farbe, das Muster, die veränderte Geometrie des Autos? Testpersonen sollen durch Vergleichen verschiedener Fahrzeugmodelle die Fragen der Forscher beantworten helfen.

Der Versuch verläuft immer nach dem gleichen Schema. Die Testperson nimmt auf einem Pkw-Fahrersitz Platz. Ein Lenkrad steckt in einem angedeuteten Armaturenbrett, mehr ist von einem Mercedes nicht zu sehen. Doch kaum hat die Testperson einen Stereo-Display-Helm auf, taucht sie ein in eine künstliche dreidimensionale Welt. Wohin sie den Kopf auch wendet, erblickt die Versuchsperson den Innenraum eines Mercedes: blaue Sitzpolster mit zarten weißen Streifen, ein ausgefeiltes Armaturenbrett, überzogen mit blauschimmerndem Leder, die Rückbank mit den aufgesetzten Nackenstützen. Das sieht täuschend echt aus, obwohl die Bilder aus dem Computer kommen. Der Rechner schickt sie in schneller Folge als Stereobilder auf die Sichtscheiben im Monitorhelm. Dreht die Versuchsperson ihren Kopf, zieht der Computer sofort mit den Bildern nach, so daß der Eindruck einer wirklichen dreidimensionalen Szenerie entsteht.

Durch ein paar Knopfdrücke am Computer wechselt das blaue Auto seine Farbe - erst zu rot, dann zu beige. Aber nicht nur in verschiedenen Farben läßt sich der Innenraum blitzschnell umgestalten. Auf Knopfdruck neigen sich auch die beiden Dachstützen der Windschutzscheibe ein wenig und verändern optisch die Raumgröße. Wie diese Veränderungen von den Testpersonen gesehen oder ob sie überhaupt bemerkt werden, versuchen die Daimler-Forscher mit einem speziellen Fragebogen zu klären.

Auf einer Skala von eins bis sieben müssen die Versuchspersonen ihre Eindrücke bewerten: Ist der Fahrzeuginnenraum praktisch oder eher unpraktisch? Eher groß oder klein, beruhigend oder aufregend? Insgesamt 26 Fragen legen die Forscher den Probanden vor. Auf die Ergebnisse sind nicht nur sie neugierig, sondern auch die Pkw-Entwickler von Mercedes-Benz. Etwa Ende des Jahres wollen die Daimler-Forscher erste Daten vorlegen. Dann werden sie Fragen beantworten können, wie Kunden einen Mercedes beurteilen und wie Fahrzeuge in Zukunft gebaut werden sollen.

Beim Projektstart vor drei Jahren wollten die Berliner Forscher ursprünglich noch reale Autos für ihre Tests nehmen. Doch sie merkten schnell, daß das Wechseln von einem Fahrzeug zum anderen die Testaussagen zu sehr verfälschte. Das Umsteigen dauerte einfach zu lang und erschwerte so den direkten Vergleich zwischen den verschiedenen Modellen. Da kamen den Psychologen die Verheißungen der "virtuellen Realität" wie gerufen: Statt in Blech ein Mercedes nur aus Bits und Bytes. Der künstliche Mercedes aus dem Computer bot die Chance, verschiedene Modelle im Monitorhelm auf Knopfdruck zu simulieren.

Die Vorlage für den Schein-Mercedes lieferten die Konstrukteure. Jedes Bauteil, von der Karosserie bis zum Stern auf der Haube, schlummert als 3-D-Objekt im Computer. Aus diesem Bausteinen wollten die Forscher einen dreidimensionalen Mercedes schaffen, in den sich eine Testperson wie in ein echtes Auto setzen kann. Da die Daimler-Benz-Psychologen selbst keine Computerspezialisten sind, suchten sie Unterstützung bei "Art + Com", dem Berliner Forschungs- und Entwicklungszentrum für rechnergestütztes Gestalten und Darstellen. Dort wurden die Konstruktionsdaten in bewegte Bilder transformiert.

Eine gewölbte Oberfläche - etwa beim Armaturenbrett - besteht im Computer aus vielen kleinen drei- und mehreckigen Flächen, die sich wie ein Netz über Rundungen und Kanten legen. Je feiner die Formen, desto mehr der puzzleartigen Polygone sind für das Computerbild nötig. So besteht beispielsweise allein die Oberfläche des Mercedes-Sterns aus etwa tausend Polygonen. Bis auf einen Viertelmillimeter exakt müssen die Formangaben für die Werkzeugmaschinen sein.

Allerdings wäre für eine virtuelle Darstellung diese Auflösung zu fein. Denn je mehr Dreiecksflächen, desto länger rechnet der Grafikcomputer an einem Bild. Für einen realitätsnahen Filmeindruck sind jedoch 25 bis 30 Bilder pro Sekunde nötig. Bei dieser Geschwindigkeit schafft der Grafikcomputer im Berliner Forschungslabor nicht mehr als 30 000 Polygone pro Bild. Deshalb mußten die Konstruktionsdaten erst einmal gewaltig abgespeckt werden. Alle für den optischen Eindruck verzichtbaren Polygone wurden - zum Teil "von Hand" - aus den Programmen entfernt und zu neun Mercedes-Varianten verarbeitet: drei Wagen in unterschiedlichen Größen und in jeweils drei verschiedenen Farben.

Nach den Plänen der Berliner Autopsychologen soll das aber nur ein Anfang sein. Die Gestalter der virtuellen Realität denken schon weiter: Vielleicht wird es ihnen in den nächsten zehn Jahren möglich sein, daß sich die Mercedes-Kunden in den Verkaufshäusern virtuell in ihr neues Auto setzen und es - noch beim Verkaufsgespräch - ganz nach ihren Wünschen ausstatten und sofort begutachten können.

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