© 1995 by Christo & Luebbe Verlag
Christo auf dem Dach des Reichstagsgebäude
Foto: Wolfgang Volz
Für Christo ist eine Begehung des Reichstagsgebäudes mit dem Architekten Bernd Zachariae, einem ehemaligen Mitarbeiter des Architekten Paul Baumgarten, der das Reichstagsgebäude wieder aufgebaut hat, vereinbart. Bei der Begehung im Reichstagsgebäude sind anwesend: Christo, Cullen und Volz, Bernd Zachariae und Nancy Kienholz. Mit Ausnahme der Türme und des Daches werden Christo alle Teile des Gebäudes gezeigt.
In der Pressekonferenz erzählt Christo über seine bisherigen Erfahrungen, die Genehmigung für sein Running-Fence-Projekt zu erhalten.
Er mußte die Einwilligung von 59 Grundstückseigentümern, von Bezirksverwaltungen, vom Bundesstaat Kalifornien und von der Bundesregierung einholen. Er mußte zudem 18 öffentliche Anhörungen durchstehen und als Zeuge bei drei weiteren Gerichstverhandlungen auftreten. Als der Staat Kalifornien ihm schließlich eine Genehmigung erteilt, wird der Staat - nicht Christo - von Umweltschutzgruppen verklagt. Das Gericht setzt fest, daß ein Umweltschutzbericht auf Christos Kosten erstellt werden soll. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Christo 1,6 Millionen Dollar für das Projekt aufgebracht, ohne dabei öffentliche Gelder zu beanspruchen. Christo finanziert seine Projekte durch den Verkauf seiner Collagen und Zeichnungen und will das Reichstags-Projekt auch so finanzieren.
Auf die Frage eines Journalisten, warum er nicht so etwas wie die Mauer, den Steglitzer Kreisel, die Siegessäule oder das Europa-Center verpacke, antwortet er, daß er mit diesem Projekt keine Witze machen wolle: Die Mauer einzupacken, sei schlechthin unmöglich, und die anderen Bauwerke führten kaum zu einer Bewußtseinserweiterung. Denn das Reichstagsgebäude habe für ihn eine politische wie eine metaphysische Bedeutung. Er wollte immer ein Großstadtprojekt machen und Berlin erscheine ihm als die geeignetste Stadt. In New York rede er häufig von der ideologischen Konfrontation zweier Welten, in Berlin sei insbesondere am Reichstag der Schnittpunkt deutlich sichtbar.
Ansonsten wolle er keine Interpretationshilfen geben, denn diese würden die Interpretationsmöglichkeiten von vornherein einengen. Auf die Frage, ob es nicht besser sei, mit solchen Mitteln Krankenhäuser, Schulen und ähnliche soziale Einrichtungen zu finanzieren, antwortet Christo, daß künstlerische Objekte für ihn einen großen Nutzen darstellten, daß der Mensch nicht nur davon leben könne, seine materiellen Interessen zu befriedigen. Man könne ebensogut fragen, wo der Sinn oder Nutzen eines Klavierkonzerts, eines großen Gemäldes oder einer Bergsteigerexpedition liege.
Am Nachmittag empfängt der kulturpolitische Sprecher der Berliner CDU-Fraktion, Dieter Biewald, Christo, Volz und Cullen. Biewald betont, daß er und seine Partei in Berlin alles Erdenkliche tun werden, damit das Projekt realisiert werden könne. Er ist der Meinung, daß die SPD nur halbherzig mitmachen werde. Die älteren und die Jüngeren würden seiner Meinung nach bestimmt gegen das Projekt sein. Die CDU sei besonders dafür, weil es das Ansehen der Stadt fördere.
Am selben Nachmittag sprechen Cullen, Volz und Christo mit dem SPD-Politiker und Leiter der Senatsplanungsstelle, Nils Diederich. Christo hat sofort einen günstigen Eindruck von ihm, weil an der Wand eine Grafik von Max Ernst hängt. Diederich ist mit Christo der Meinung, daß es sehr wichtig wäre, mit dem Direktor des Reichstagsgebäudes, Hans-Jürgen Heß, zu reden. Cullen sagt, daß alle Bemühungen, einen Termin zwischen den beiden zu arrangieren, gescheitert seien. Daraufhin vereinbart Diederich einen Termin für Christo, Cullen und Volz um 17.00 Uhr in der Privatwohnung von Heß in Zehlendorf. Heß sagt geradeheraus, daß es ihn unglücklich mache, daß das Projekt bereits in die Presse gelangt sei, womit er sofort Christos Zustimmung findet. Er verspricht, Christos Wünschen nachzukommen und zu versuchen, einen Termin mit der seit Dezember 1972 amtierenden Bundestagspräsidentin Annemarie Renger zu vereinbaren.
Zunächst findet ein Termin zwischen Christo, Cullen und Volz und den kulturpolitischen Sprechern der drei Fraktionen, Herrn Dr. Biewald, Herrn Roloff und Herrn Professor Glagow, sowie mit den beiden Direktoren des Reichstags, Heß und Mattig, statt. Christo erklärt hier seine Vorstellungen und erreicht bei den drei Politikern Zustimmung. Man hat jedoch das Gefühl, daß die beiden Reichstagsdirektoren dem Projekt etwas skeptisch gegenüberstehen.
Frau Renger erscheint um 15.00 in Begleitung von sieben Mitarbeitern. Man stellt sich gegenseitig vor; mit Christo sind Cullen, Volz, der Rechtsanwalt Dr. Peter Raue, Karl Ruhrberg, der Ingenieur Hans-Jürgen Peschlow und als Protokollantin Dagmar Bäck - mit Frau Renger sind Herr Maier, Herr Heß, Herr Mattig, Herr Beppler, Herr Lämmchen, Paul Baumgarten, der Architekt des Wiederaufbaus, sowie Peter Mayer und Heinz Raack von der Bundesbaudirektion.
Die Runde beginnt mit einem Vortrag von Karl Ruhrberg, in dem er Christos Arbeit, Werdegang und Absichten erläutert. Ruhrberg zählt alle bisherigen Werke auf. Cullen erklärt daraufhin Christos Gründe, ausgerechnet in Berlin sein Projekt realisieren zu wollen. Berlin sei nicht eine beliebige Großstadt, sondern durch die Teilung Schnittpunkt zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus; die Stadt sei, wie Ruhrberg sagt, eine "Stadt im Exil".
Cullen erklärt weiterhin, daß man hier nur eine politische und keine sachliche Genehmigung erwarte, daß aufgrund einer politischen Genehmigung ein Katalog von Bedingungen erstellt werden solle, zu dem Christo und seine Ingenieure Stellung nehmen würden. Erst dann könnte ein solches Projekt durchgeführt werden. Christo sagt, daß er bereit sei, alle Auflagen hinsichtlich Kaution, Fristen, Sicherheit, usw. zu erfüllen, wenn die politisch Verantwortlichen das Projekt genehmigen. Er erklärt ferner, daß er Collagen verkaufe, um sein Projekt zu finanzieren, daß es den Staat, den Bundestag oder die Stadt Berlin nichts kosten würde.
Christo erzählt auch, wie er sich das Projekt vorstelle, mit schneeweißem Nylonstoff, der sich mit dem Wind leicht bewege und die Plastizität des Gebäudes erhöhe.
Danach wird ein etwa zehnminütiger Ausschnitt aus dem Valley-Curtain-Film vorgeführt, und auch dieser Film verfehlt seine Wirkung nicht. Paul Baumgarten berichtet, welch starke emotionale Beziehung er zu dem Gebäude und zu dessen Geschichte habe, da er es ja noch aus Kaisers Zeiten kenne und er nun schon sein Leben lang mit dem Reichstag beschäftigt sei. Er habe das Gebäude als Architekturstudent gründlich untersucht, unter Professoren, die Wallots Schüler waren.
Er habe während des Zweiten Weltkrieges Flakstellungen am Reichstagsgebäude ausbauen müssen, und er habe den Wiederaufbau künstlerisch besorgt. Dann sagt er, daß es ihm ganz persönlich Freude machen würde, das Projekt realisiert zu sehen, und dieses möge so schnell wie möglich geschehen, denn er sei nicht mehr der Jüngste (Jahrgang 1900). Er erklärt, daß der Baukörper regelrecht prädestiniert sei für ein solches Projekt. Frau Renger sagt, sie würde sich auf seine Befürwortung berufen. Sie erklärt, daß sie nicht allein die Entscheidung treffen könne, da die Alliierten ein Wort mitzureden hätten.
Cullen wirft ein, daß Vorgespräche mit dem amerikanischen Botschafter Hillenbrand nur positive Ergebnisse gebracht hätten. Frau Renger schlägt vor, daß man eine Informationsmappe über Christo und sein Werk, Ziele und Vorstellung anfertige, und denkt dabei an etwa 30 bis 40 Exemplare, die sie dann im Bundeshaus verteilen lassen wolle. Sie sei nur deshalb gekommen, um sich über das Projekt zu informieren und könne keine Stellung dazu nehmen. Sie hofft, sich nach den Wahlen eingehender mit dem Projekt beschäftigen zu können.
Christo erläutert weiterhin, welche Eindrücke er von Berlin und dem Reichstag habe, wie er den Reichstag im Winter erlebe und wiederum im Sommer, und wie anders das Haus wirke. Bevor die Runde sich auflöst, werden Vereinbarungen über das weitere Verfahren getroffen. Frau Renger erklärt, man müsse ja sowieso zuerst die Parlamentsferien abwarten und danach gebe es in Bonn nur noch einen Gedanken: die Wahlen und wie man sie gewinne. Letztendlich sei die Entscheidung vom Wahlergebnis abhängig, man solle nicht drängen. Allgemein ist man der Meinung, daß es viel zu früh wäre, publizistische Schützenhilfe zu suchen.
Nach der Begegnung mit Frau Renger unternimmt ein Techniker des Reichstags eine Führung mit Christo, Volz und Cullen durch das Reichstagsgebäude, wo sie diesmal mit ausdrücklicher Genehmigung von Frau Renger den südwestlichen Turm besteigen und sich auf das Dach begeben können.
Die Bundestagswahlen am 19. November ergeben zwar für die sozialliberale Koalition eine Mehrheit, jedoch geht das Amt des Bundestagspräsidenten an die Union. Der neue Bundestagspräsident heißt Professor Karl Carstens.