Wie weit die allgemeine Ökonomisierung unserer Wahrnehmung bereits fortgeschritten ist, läßt sich an der durchgängigen debattenstrategischen Dominanz der wirtschaftlichen Umfeldargumente ablesen: von der selbsttragenden Finanzierung bis zum Berlin-Werbeeffekt, vom Schau-Tourismus, der bis zu 500 Millionen DM nach Berlin bringen soll, bis zu den Investitionsimpulsen für die gebeutelte Hauptstadt. Von all dem war im Bundestag und außerhalb gerade auf Seiten der Befürworter ausgiebig die Rede, nur von dem einen nicht: von der politischen Aktualität des Ästhetischen. Warum ist Kunst - jenseits aller Risiken dieser problematischen Beziehung - wichtig, vielleicht gar unverzichtbar für die Politik? Welche Schittmacherdienste leistet sie, was gibt sie der Politik, was diese nicht aus sich selbst heraus zu entwickeln vermag? Und was hiervon verspricht Christos Vorhaben, was löst es ein?
Noch bevor die Politik sich aufmacht in die neue Zeitordnung, noch bevor sie deren Heraufkunft auch nur wahrnimmt und begreift - samt ihren gänzlich vorbildlosen Zumutungen und Herausforderungen -, ist ausgerechnet das steinerne Heim, in welchem sie an der Jahrtausendschwelle für unabsehbar lange Zeit Wohnung nehmen wird, auf die Reise gegangen; eine Reise, von der dieses Haus, für viele mit zuviel fragwürdiger Vergangenheit belastet, nach den vierzehn Tagen als ein anderes zurückkommen wird.
Soviel läßt sich sagen: Das alte Reichstagsgebäude und das neue Bundeshaus werden sich nicht mehr gleichen. Und mehr als die unmittelbar nach der Verhüllungsaktion einsetzenden Um- und Ergänzungsbauten - die im übrigen ironischerweise ebenfalls mit einer nirgends je diskutierten bauroutinierten Eingerüstung und Plastikverhüllung beginnen - wird Christos virtuelle Zeitreise zu dieser irreversiblen Metamorphose beigetragen haben. Unsere aufs Gebäude bezogenen Bilder, Assoziationen und Vorstellungswelten werden andere sein als zuvor. Der Zeitraffer dieser vierzehn Tage wird - wie in einem gigantischen Brennglas für Temporalstrukturen, Sinneseindrücke, Imaginationen und Vorstellungselemente - viele Millionen Menschen in und aus aller Welt zusammenführen, bündeln und verknüpfen. Ein gigantisches Sozialexperiment in Sachen historisch-politischer Gebäude-Symbolik und ins Fiktionale erweiterter Erinnerungsemblematik!
Man muß es einfach sagen: Wolfgang Schäuble, der wort- und gedankenmächtigste der Bedenkenträger wider das Verpackungsprojekt, scheint die vorbildlose Tragweite dieses Experiments deutlicher begriffen zu haben, als manche seiner allzu zeitgeistnahen Befürworter, wenn er fast beschwörend davor warnt, die steinernen Zeugen der Vergangenheit zum Gegenstand von Wahrnehmungs- und Erfahrungsexperimenten solchen Ausmaßes zu machen.
Die Gefahren einer sozialen und psychischen Überforderung durch die Zumutungen der neuen Zeitordnung sind groß. Was wir brauchen, sind planvoll geschaffene Nischen für Gegenläufiges, Chancen für eine aktive Wiederverräumlichung. Der "verpackte Reichstag" verspricht uns Anteil an beidem: an der faszinierenden Unerbittlichkeit der Zumutungen der neuen Zeitordnung (deshalb ist er vielen Stolperstein und Ärgernis), aber auch an der einzigen denkbaren Therapie: daß wir unsere Orte neu erschaffen und sie uns zu eigen machen, auf daß sie uns immer wieder das Schauen lehren und das Wiedererkennen.