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Virtuelles Parlament
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Bernd Guggenberger

Wrapped Reichstag:

An der Schwelle zur neuen Zeitordnung

Anmerkungen zur politischen Aktualität des Ästhetischen

7. Die große Fahrt in die Zeit

Die modernen Kommunikationsmedien sind nur das Flaggschiff einer ganzen Armada der Entwirklichung und Enträumlichung, die uns Christo mit seiner Aktion - auch in ihrer Unvermeidlichkeit - vor Augen stellt. Der verhüllte Reichstag wird zugleich der für die Zeit von vierzehn Tagen aus seinem raum-zeitlichem Kontinuum herausgelöste "Reichstag" sein, seiner Ortsbindung - der Eindeutigkeit seiner territorialen Verankerung - auf ganz ähnliche Weise enthoben wie einst die ins Museum verpflanzten Ready Mades Duchamps: der Flaschentrockner, das Pissoir oder das Vorderrad waren der Eindeutigkeit ihrer funktionalen Verortung im Kontext klar umschriebener Alltagsverrichtungen enthoben. So wie diesen gerade aus dem Verlust ihrer angestammten funktionalen Verortung eine neue "Leichtigkeit des Seins" zuwuchs, die sie zur Existenzebene von Kunstwerken "aufsteigen" ließ, so wird die Gebäudemasse des alten Reichstags mit allem, was an "Erblasten" einer historisch wechselvollen Geschichte und Gebäudegeschichte auf ihm lastet, für einen kurzen Augenblick erleichtert und erhoben, so daß er, im Sinne des Wortes, sich aus dem erdenschweren Verharren auf seinem Territorium lösen und mit sich sanft bauschenden Plastiksegeln die große Fahrt "in die Zeit" aufnehmen kann.

8. Herausgeforderte Vorstellungskraft

Das Schöne an Christos Projektvorhaben ist gerade, daß es eigentlich keiner der im Dutzend feilgebotenen politpädagogischen Scheinrationalisierungen bedarf, die jene Befürworter stimmaufwendig unters Volk streuen, welche selbst von der Muse nie geküßt wurden und bei denen auch wenig Aussicht auf solches Geschick besteht. Einer anderen als der künstlerischen Begründung ("beglückend und belehrend") bedarf nur der, dem sich die Reichtstagsverhüllung nicht unmittelbar als eine "Performance der aktiven Wiederverzauberung der Welt auf Zeit" erschließt. Wen nicht schon die eigene Vorstellungskraft betört und bezaubert, die ihn sehen läßt, durch welch kleine Zutat, welch' winzige Veränderung es möglich ist, diesen Vieltausendtonnenkoloß steingewordener Immobilität, zusätzlich schwer gemacht von den Druckstellen und Wundmalen der von ihm bezeugten Geschichte, von einem Augenblick auf den anderen zum Tanzen zu bringen, zum Abheben und zum Entschweben, dem kann es auch vom Künstler nicht - und wohl auch von keinem anderen - gegeben werden.

9. Angst vor dem Schönen: Verpaßte Gelegenheiten der politischen Diskussion

Hieran wird, noch einmal, deutlich, was an der Debatte um Christos Reichstagsverhüllung vor allem irritierte: daß sie zu keinem Zeitpunkt eine Debatte über Ästhetik war. Warum nur blieben alle ästhetischen Fragen so peinlich ausgeklammert? Warum wurde das "Einfach schön" nie mutig als keiner weiteren Begründung bedürftiges Argument im Pro und Contra gehandelt? Warum hat kaum jemand laut und vernehmlich darüber spekuliert, was das sei, was die Kunst der Politik zu geben haben könnte: Welche Denkzwischenfälle sie stiften, welche Impulse sie setzen könnte, wieviele ihrer Visionen und antizipatorischen Fähigkeiten für die Politik fruchtbar zu machen wären?

Wie weit die allgemeine Ökonomisierung unserer Wahrnehmung bereits fortgeschritten ist, läßt sich an der durchgängigen debattenstrategischen Dominanz der wirtschaftlichen Umfeldargumente ablesen: von der selbsttragenden Finanzierung bis zum Berlin-Werbeeffekt, vom Schau-Tourismus, der bis zu 500 Millionen DM nach Berlin bringen soll, bis zu den Investitionsimpulsen für die gebeutelte Hauptstadt. Von all dem war im Bundestag und außerhalb gerade auf Seiten der Befürworter ausgiebig die Rede, nur von dem einen nicht: von der politischen Aktualität des Ästhetischen. Warum ist Kunst - jenseits aller Risiken dieser problematischen Beziehung - wichtig, vielleicht gar unverzichtbar für die Politik? Welche Schittmacherdienste leistet sie, was gibt sie der Politik, was diese nicht aus sich selbst heraus zu entwickeln vermag? Und was hiervon verspricht Christos Vorhaben, was löst es ein?

10. Irreversible Metamorphosen

Christos verhüllter Reichstag hat nicht wenig von jenen bekannten Zaubererszenarien, bei denen der Illusionist ein ausladendes Tuch über Käfig und Taube breitet, die er verschwinden läßt. Auch Christo hebt für zauberhafte vierzehn Tage die Ortsbindung des Reichstagsgebäudes auf und läßt es hinter weit wallendem, sanft im Winde atmenden Tuch verschwinden. Vielleicht ist garnichts mehr da, wenn er nach vierzehn Tagen sein Tuch wieder lüftet? Vielleicht hat sich die "Immobilie", einmal mobil geworden, endgültig verflüchtigt? Vielleicht hat sie sich dem nächstbesten Laserstrahl anvertraut und schwingt sich nun auf den Bahnen des Zeitpfeils von Horizont zu Horizont?

Noch bevor die Politik sich aufmacht in die neue Zeitordnung, noch bevor sie deren Heraufkunft auch nur wahrnimmt und begreift - samt ihren gänzlich vorbildlosen Zumutungen und Herausforderungen -, ist ausgerechnet das steinerne Heim, in welchem sie an der Jahrtausendschwelle für unabsehbar lange Zeit Wohnung nehmen wird, auf die Reise gegangen; eine Reise, von der dieses Haus, für viele mit zuviel fragwürdiger Vergangenheit belastet, nach den vierzehn Tagen als ein anderes zurückkommen wird.

Soviel läßt sich sagen: Das alte Reichstagsgebäude und das neue Bundeshaus werden sich nicht mehr gleichen. Und mehr als die unmittelbar nach der Verhüllungsaktion einsetzenden Um- und Ergänzungsbauten - die im übrigen ironischerweise ebenfalls mit einer nirgends je diskutierten bauroutinierten Eingerüstung und Plastikverhüllung beginnen - wird Christos virtuelle Zeitreise zu dieser irreversiblen Metamorphose beigetragen haben. Unsere aufs Gebäude bezogenen Bilder, Assoziationen und Vorstellungswelten werden andere sein als zuvor. Der Zeitraffer dieser vierzehn Tage wird - wie in einem gigantischen Brennglas für Temporalstrukturen, Sinneseindrücke, Imaginationen und Vorstellungselemente - viele Millionen Menschen in und aus aller Welt zusammenführen, bündeln und verknüpfen. Ein gigantisches Sozialexperiment in Sachen historisch-politischer Gebäude-Symbolik und ins Fiktionale erweiterter Erinnerungsemblematik!

Man muß es einfach sagen: Wolfgang Schäuble, der wort- und gedankenmächtigste der Bedenkenträger wider das Verpackungsprojekt, scheint die vorbildlose Tragweite dieses Experiments deutlicher begriffen zu haben, als manche seiner allzu zeitgeistnahen Befürworter, wenn er fast beschwörend davor warnt, die steinernen Zeugen der Vergangenheit zum Gegenstand von Wahrnehmungs- und Erfahrungsexperimenten solchen Ausmaßes zu machen.

11. Aufbruch ins Zeitalter der Ortlosigkeit

Mit dem verhüllten Reichstag brechen wir nun, nolens volens, alle auf ins neue Zeitalter der Ortlosigkeit, eine Zeit, in der die Herkunftswelten verblassen und die Behausungen eng werden, eine Zeit der sich endlos wiederholenden Aufbrüche, in eine Zeit, in der wir im wesentlichen unterwegs sein werden, ortlos eben, immer im Trans(p)ort; eine Zeit, in der die Zeit selbst keine angestammte Bleibe mehr findet, keine Erinnerungen, die leiten und trösten könnten; eine Zeit, die das erdbürtige Maulwurfwesen Mensch immer wieder nötigen wird, sich virtuelle Notbehausungen auf Zeit und Abruf zu bauen, Orte zum Innehalten, Atemholen, Staunen, Orte zur Wiederverzauberung seiner Welt - und sei es, daß sie nach vierzehn Tagen wieder verschwinden.

Die Gefahren einer sozialen und psychischen Überforderung durch die Zumutungen der neuen Zeitordnung sind groß. Was wir brauchen, sind planvoll geschaffene Nischen für Gegenläufiges, Chancen für eine aktive Wiederverräumlichung. Der "verpackte Reichstag" verspricht uns Anteil an beidem: an der faszinierenden Unerbittlichkeit der Zumutungen der neuen Zeitordnung (deshalb ist er vielen Stolperstein und Ärgernis), aber auch an der einzigen denkbaren Therapie: daß wir unsere Orte neu erschaffen und sie uns zu eigen machen, auf daß sie uns immer wieder das Schauen lehren und das Wiedererkennen.

12. Ästhetik und Politik

Und doch gibt es zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen eine prekäre, wohl stets umkämpfte Grenze, die, bei allen Verschiebungen hier und da, im Ganzen zu respektieren ist, sollen sie sich wechselseitig bereichern, ohne sich zu hemmen und zu blockieren: Das Ästhetische hat immer mit Anwesenheit zu tun, mit der unmittelbaren Präsenz. Es ist in den Menschen, den Dingen und ihren Konfigurationen, die es gegenwärtig verkörpern. Der Zeithorizont, den es erschließt, ist der des Eben-Jetzt, der flüchtige, aber in seiner Vergänglichkeit sich gerade der Gegenwart eröffnende Augenblick. Die Verfallenheit an den Augenblick - sie eben setzt ein latentes Spannungsverhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen, langfristig wahrscheinlich gar einen konfliktträchtigen Widerspruch: In der Politik versuchen die Menschen, sich eine unabhängige und starke Instanz zu errichten, etwas, das die Affekte des Tages ebenso überdauert, wie es den Launen Fortunas standhält.


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