Die Medien sind - fast - ausnahmslos zu machtvollen Verbündeten der Kunst und der Künstler geworden. Aus eben diesem Grund riskiert auch kein Politiker mehr wirklich etwas, der sich medienwirksam für den medial erfolgreichen Groß-Künstler einsetzt. Und so kam, was wohl unvermeidlich kommen mußte: daß sich im Vorfeld des medialen Mega-Events "Reichstagsverhüllung" nicht wenige Zaungäste und Trittbrettfahrer einfanden, um sich mit Gratismut selbst die eigene Weltläufigkeit zu attestieren.
Zu den bezeichnenden Merkwürdigkeiten des Berliner Kunstspektakels gehört ja überhaupt, daß sich im Kometenschweif des Meisters weniger die unerschütterlichen künstlerischen Überzeugungs- als vielmehr die ephemeren Gelegenheitstäter versammeln. Wer von Kunst wirklich etwas versteht, an wessen Lebensfirmament ihre Sonne immer wieder als beharrliches Zentralgestirn aufscheint, der wird sich - schon aus Gründen augenzwinkernder Augurenpeinlichkeit - eher hüten, gerade seine omnipräsente Medienspectabilis Christo zum Anlaß zu nehmen, sich als Experte und Kunsttifoso zu outen. Ein spanischer Stierkampfexperte hat gerade diese Art von sekundärer Berührungsangst auf seiten des sensiblen Kenners auf die unüberbietbare Formel gebracht: Wer vom Stierkampf keine Ahnung hat, schwelgt und schwärmt für El Cordobes - denn da kann garantiert nichts schiefgehen. Und wie vielleicht ganz unvermeidlich Luciano Pavarotti zum fashionablen Idol all derer avancierte, die zur Oper und zur Musik im allgemeinen ein eher distanziertes Verhältnis pflegen, so wurde wohl auch Christo zum praeceptor artis vornehmlich jener, die die Kunst sonst kalt läßt.
Wenn sich die traditionell so kunstferne Politik plötzlich ebenso eilfertig wie musterknabenhaft um die traditionell so politikferne Kunst besorgt, ist, im Medienzeitalter, der Generalverdacht auf "parasitäre Publizität" sicher nicht völlig abwegig. Auch deshalb vermittelte die Bundestagsdebatte vom Februar 1994 den Eindruck einer provinziellen Bewältigung des (so gefürchteten) Provinzialismus. Der Aufbruch ins neue Berliner Hauptstadtzeitalter ist, wie auf allen seinen Etappen, so auch hier, von allzu forciertem Bemühen um gelassene Weltläufigkeit grundiert.
Vielleicht war ja dies für so manchen, den Christos Arbeiten begeistern und den auch das Konzept des "Wrapped Reichstag" elektrisierte, die befremdlichste Erfahrung - die falsche Befürwortergesellschaft, in der er sich plötzlich wiederfand: neben den parteipolitischen Erbschleichern wohlfeiler Public Relations vor allem auch jene mittlerweile notorische Gemeinde unbeirrbarer "Gutdenkmenschen" (Manfred Zeller), die unfehlbar zur Stelle ist, Zeugnis abzulegen, wo das Wahre, Edle, Aufrechte und Progressive medienwirksam verhandelt wird.
Nicht, daß zeitgenössische Kunst - wie die Kunst aller Zeiten - durch das Epitheton "schön" angemessen umschrieben wäre! Kunst kann mehr und anderes: nicht nur erheitern und erfreuen, sondern auch stören und verstören. Sie regt durch starke Bilder starke Gefühle an; sie durchbricht den eindimensionalen Bezug auf die handgreiflichen Realitäten; sie ist stets mehr dem Möglichen als dem Wirklichen verpflichtet. Und sie ist stets auf stupende Weise vieldeutig und vielbedeutsam. Deshalb zielte auch das von Wolfgang Schäuble und anderen in der Debatte genüßlich vorgebrachte Gegenargument der allzu wechselvollen Verhüllungs-Begründungen (mal als Mahnmal wider eine unselige Vergangenheit, mal als Symbol für die Wunden des Kalten Krieges und nun als Wegzeichen beim Aufbruch zu neuen Ufern der Demokratie) ins Leere: wenn der Kontext sich wandelt, innerhalb dessen ein Kunstwerk sich zeigt und sich zu bewähren hat, ändert sich seine Bedeutung. Das gilt für Christos im Jahr 1995 verpackten Reichstag nicht anders als für Kafkas 1995 wiedergelesenes "Schloß" oder Sophokles' 1995 neu inszenierte "Antigone".
Überall transmutieren die alten Raum- in die neuen Zeitordnungen. Was vielfach als "Zusammenbruch des Ostblocks" beschrieben wird, ist nur das prominenteste Beispiel der Aufhebung einst unerbittlich ein- oder ausschließender Raumgrenzen, ist ein Stück Vergleichzeitigung im ortlosen Nirgendwo des Jetzt, kurz: ist der irreversible Schritt vom Raum- zum Zeitgenossen.