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Virtuelles Parlament
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Bernd Guggenberger

Wrapped Reichstag:

An der Schwelle zur neuen Zeitordnung

Anmerkungen zur politischen Aktualität des Ästhetischen

3. Politische Berührungsängste und die Macht der Medien

Gewiß war es keine Entscheidung, bei der expressis verbis über Künstlerstatus und -rang von Christo abgestimmt wurde - aber eben doch nur deshalb nicht, weil beides gewissermaßen für die Abstimmungsbeteiligten schon feststand, mindestens so "fest", daß kein kunstkonservativer Beckmesser öffentlich daran zu kratzen wagte - und sei es aus Angst, sich in eine peinliche Abseitsposition zu bringen. Wenn es um Kunst geht, kennen die Medien schließlich kein Pardon. Wer will da schon riskieren, zum "Kunstmuffel" der Nation ausgelobt zu werden?

Die Medien sind - fast - ausnahmslos zu machtvollen Verbündeten der Kunst und der Künstler geworden. Aus eben diesem Grund riskiert auch kein Politiker mehr wirklich etwas, der sich medienwirksam für den medial erfolgreichen Groß-Künstler einsetzt. Und so kam, was wohl unvermeidlich kommen mußte: daß sich im Vorfeld des medialen Mega-Events "Reichstagsverhüllung" nicht wenige Zaungäste und Trittbrettfahrer einfanden, um sich mit Gratismut selbst die eigene Weltläufigkeit zu attestieren.

Zu den bezeichnenden Merkwürdigkeiten des Berliner Kunstspektakels gehört ja überhaupt, daß sich im Kometenschweif des Meisters weniger die unerschütterlichen künstlerischen Überzeugungs- als vielmehr die ephemeren Gelegenheitstäter versammeln. Wer von Kunst wirklich etwas versteht, an wessen Lebensfirmament ihre Sonne immer wieder als beharrliches Zentralgestirn aufscheint, der wird sich - schon aus Gründen augenzwinkernder Augurenpeinlichkeit - eher hüten, gerade seine omnipräsente Medienspectabilis Christo zum Anlaß zu nehmen, sich als Experte und Kunsttifoso zu outen. Ein spanischer Stierkampfexperte hat gerade diese Art von sekundärer Berührungsangst auf seiten des sensiblen Kenners auf die unüberbietbare Formel gebracht: Wer vom Stierkampf keine Ahnung hat, schwelgt und schwärmt für El Cordobes - denn da kann garantiert nichts schiefgehen. Und wie vielleicht ganz unvermeidlich Luciano Pavarotti zum fashionablen Idol all derer avancierte, die zur Oper und zur Musik im allgemeinen ein eher distanziertes Verhältnis pflegen, so wurde wohl auch Christo zum praeceptor artis vornehmlich jener, die die Kunst sonst kalt läßt.

4. Christo Superstar

Die Ablehnung der Kunst drapiert sich nicht selten mit der demonstrativen Gefolgschaftstreue zu ihren Stars. Man kann alles, was Kunst ist, und was sie uns an Irritierendem und Ärgerlichem zumutet, um so risikoloser abtun, je vorbehaltloser man sich selbst neben und hinter dem jeweiligen medial verbürgten Superstar positioniert. Wer sich dagegen für einen "hermetischeren" Künstler ausspricht, wie vielleicht für Calderara oder Jochen Gerz, der muß dafür aus gutem Grund mit guten Gründen aufwarten - und kann eben nicht sicher sein, daß man ihm bei seinem Engagement auch folgen wird.

Wenn sich die traditionell so kunstferne Politik plötzlich ebenso eilfertig wie musterknabenhaft um die traditionell so politikferne Kunst besorgt, ist, im Medienzeitalter, der Generalverdacht auf "parasitäre Publizität" sicher nicht völlig abwegig. Auch deshalb vermittelte die Bundestagsdebatte vom Februar 1994 den Eindruck einer provinziellen Bewältigung des (so gefürchteten) Provinzialismus. Der Aufbruch ins neue Berliner Hauptstadtzeitalter ist, wie auf allen seinen Etappen, so auch hier, von allzu forciertem Bemühen um gelassene Weltläufigkeit grundiert.

Vielleicht war ja dies für so manchen, den Christos Arbeiten begeistern und den auch das Konzept des "Wrapped Reichstag" elektrisierte, die befremdlichste Erfahrung - die falsche Befürwortergesellschaft, in der er sich plötzlich wiederfand: neben den parteipolitischen Erbschleichern wohlfeiler Public Relations vor allem auch jene mittlerweile notorische Gemeinde unbeirrbarer "Gutdenkmenschen" (Manfred Zeller), die unfehlbar zur Stelle ist, Zeugnis abzulegen, wo das Wahre, Edle, Aufrechte und Progressive medienwirksam verhandelt wird.

5. Schöne Verhüllungskunst

Man kann Christos Projekt mit aller erdenklichen Vorfreude auf ein 14-tägiges "Festival des Auges" begrüßen und braucht dennoch die Begründungen und Argumente, die er liefert, nicht zum verbalen Nennwert zu nehmen. Christo ist zuallererst ein bedeutender Künstler; ob er auch ein ernstzunehmender Theoretiker und Interpret des eigenen Werkes ist, steht, wie bei vielen Künstlern, auf einem anderen Blatt. Ganz gewiß ist für die Beurteilung des künstlerischen Ranges seines Werkes unerheblich, was ihm an Deutung und Interpretation zur Seite gestellt wird. Auch am Ende eines an Verlusten nicht gerade armen Jahrhunderts gilt für die nicht mehr nur schönen Künste, daß man sich zunächst und vor allem an das halten sollte, was man sieht. Vielleicht gar gilt dies für Christos mit soviel rhetorischer Begleitmusik intonierte, mediennahe, "künstlerische" Großaktionen in ganz besonderem Maße: Der "Running Fence" war, jenseits allen Bedeutungsgeraunes, eben vor allem - wunderschön! Und dies, die künstlerische Anmutungsqualität, sollte auch bei der Beurteilung des Berliner Reichstagsprojektes im Vordergrund stehen.

Nicht, daß zeitgenössische Kunst - wie die Kunst aller Zeiten - durch das Epitheton "schön" angemessen umschrieben wäre! Kunst kann mehr und anderes: nicht nur erheitern und erfreuen, sondern auch stören und verstören. Sie regt durch starke Bilder starke Gefühle an; sie durchbricht den eindimensionalen Bezug auf die handgreiflichen Realitäten; sie ist stets mehr dem Möglichen als dem Wirklichen verpflichtet. Und sie ist stets auf stupende Weise vieldeutig und vielbedeutsam. Deshalb zielte auch das von Wolfgang Schäuble und anderen in der Debatte genüßlich vorgebrachte Gegenargument der allzu wechselvollen Verhüllungs-Begründungen (mal als Mahnmal wider eine unselige Vergangenheit, mal als Symbol für die Wunden des Kalten Krieges und nun als Wegzeichen beim Aufbruch zu neuen Ufern der Demokratie) ins Leere: wenn der Kontext sich wandelt, innerhalb dessen ein Kunstwerk sich zeigt und sich zu bewähren hat, ändert sich seine Bedeutung. Das gilt für Christos im Jahr 1995 verpackten Reichstag nicht anders als für Kafkas 1995 wiedergelesenes "Schloß" oder Sophokles' 1995 neu inszenierte "Antigone".

6. Visualisierung einer neuen Zeitordnung

Alle Werke Christos kreisen - wie die vieler anderer zeitgenössischer Künstler auch - um das aus all seinen bisherigen Fugen laufende Ordnungsgefüge von Raum und Zeit. Wie kaum ein anderer sonst intoniert er den Übergang von der alten Raum - in die neue Zeitordnung. Wie bei kaum einem anderen sonst spielen in seinen Werken Konzepte der "Enträumlichung", der "Virtualisierung" und des "So-tun-als-ob" eine entscheidende Rolle. Das Signum unserer Zeit ist die Zeit. Die geographische wird von der chronographischen Ordnung verdrängt. Längst sind die Zeit(geist)maskeraden für die Identitätsbedürfnisse und Lebensgefühle vieler wichtiger als vergleichbare "nationale" Repräsentationsereignisse. Für die Kinder von Apple und DOS ist nicht mehr entscheidend, daß sie den Ort gemeinsam haben, wichtig ist allein, daß sie an der nämlichen Zeit partizipieren. Nicht ob einer von Geburt Schweizer, Kanadier oder - wie Christo - Bulgare ist, schließt ihn ein oder aus, sondern beispielsweise, ob er seine prägenden Eindrücke vor oder nach der Perestroika erfahren hat, ob er mit dem Computer umgehen kann, ob er mit Rap-Musik oder der Chaos-Theorie etwas anzufangen weiß, und ob er des Englischen mächtig ist.

Überall transmutieren die alten Raum- in die neuen Zeitordnungen. Was vielfach als "Zusammenbruch des Ostblocks" beschrieben wird, ist nur das prominenteste Beispiel der Aufhebung einst unerbittlich ein- oder ausschließender Raumgrenzen, ist ein Stück Vergleichzeitigung im ortlosen Nirgendwo des Jetzt, kurz: ist der irreversible Schritt vom Raum- zum Zeitgenossen.


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