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Virtuelles Parlament
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Bernhard Claußen

Die Reichstags-Verhüllung als Stimulus des politischen Lernens?

Über den kritischen Umgang mit Parlamentarismus durch Kunst

3. Reichtstags-Verhüllung: Politikum, Kunst und Pädagogikum in einer umbrochenen parlamentarisch-demokratischen Gesellschaft

Charakterisiert als Parteienstaat und geprägt durch das Primat der formal-repräsentativen Demokratie muß die Bundesrepublik Deutschland dem Projekt der Reichstags-Verhüllung unweigerlich erhebliche Aufmerksamkeit widmen, sind dadurch doch in mehrfacher Weise Belange der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des deutschen Parlamentarismus im allgemeinen und des Ortes seiner tragenden Institution im besonderen nicht nur berührt, sondern in den Mittelpunkt eines öffentlichkeitswirksam andauernden Vorgangs und sporadischen Ereignisses gerückt (vgl. auch Buddensieg 1995a; zur Brisanz des Reichstages und aller mit ihm verknüpften Aktionen siehe überdies Cullen 1995). Immerhin gilt der Ort des Geschehens auch ganz offiziell als eine Stätte, der wegen ihres Gewichtes in der Geschichte von vornherein und offiziell eine herausragende Funktion für die Lokalisierung des Nachdenkens über politisches Lernen zugebilligt wird (siehe Pennig 1990).

Wenigstens dreierlei ist es, was die Verhüllung des Reichstages in diesem Zusammenhang zum Politikum macht:

Aufgeladen wird das Politikum zusätzlich durch die welt- und national-historische Entwicklung während der Projektgeschichte, durch etliche Momente der konkreten politischen Situation im Lande zum Zeitpunkt der Verhüllung sowie durch zahlreiche allgemeine und spezifisch deutsche Eigentümlichkeiten der Lage des Kulturschaffens, der massenmedialen Politikvermittlung, des Stellenwertes von Symbolen in der Traditionspflege und der Rolle von kritisch-kreativer Intelligenz im demokratischen Gemeinwesen (vgl. dazu im einzelnen Cullen/Volz 1995b, Buddensieg 1995 sowie die klärenden oder wenigstens anregenden Beiträge an anderer Stelle des vorliegenden Sammelbandes).

Daß es sich bei der Reichstags-Verhüllung um eine kulturelle Schöpfung handelt, ist unübersehbar. Denn nicht nur geht es dabei um die Formgebung für ein öffentlich gemachtes Anliegen, sondern diese Formgebung ist obendrein ein Mittel der Ermöglichung, Verfremdung und Erneuerung der Betrachtung eines kulturellen Objekts, das als Gebäude seinerseits Formgebung für eine Einrichtung des politischen Systems ist. Die Mittel der dadurch konstituierten Kommunikation sind primär ästhetischer Art, laufen sie doch auf darauf hinaus, Beschäftigung mit dem Reichstag - als architektonisches Werk und darin möglich gewordenes symbolhaftes Repräsentativum verschiedener Epochen des Parlemantarismus und seiner varriierenden Rahmenbedingungen - nicht etwa in deskriptiver, wissenschaftlich-analytischer und in alltäglichen Terms wertender Art sich zu nähern, sondern von außerhalb der objektimmanent üblichen Selbstdarstellungs- und Betrachtungsweise zu wagen und vorzustellen.

Der Clou dieser Metaästhetisierung (ästhetische Verfremdung eines an sich bereits ästhetischen Gebildes) besteht nun gerade darin, daß ausgerechnet vermittels der Abdeckung des Äußeren Inneres freigelegt werden kann. Die plastische Skulptur aus verschnürten Gewebeplanen, Umformung des Geformten, ist schon für sich genommen ein sinnliches Erlebnis: ein - zumal in der Größe - ungewohntes Gebilde in der Stadtlandschaft, das einlädt zur Beobachtung des Form- und Farbenspiels, zur Anhörung der Geräusche und zum Befühlen des Materials bei sich wandelnden Witterungs- und Lichtverhältnissen. Daß dadurch brachliegende Wahrnehmungsweisen mobilisiert, visuelle, auditive und haptische Empfindungsfähigkeiten differenziert, neue Realisierungsmuster hervorgerufen und Deutungsbedarfe ebenso wie Phantasien geweckt werden, ist überaus wahrscheinlich.

Insofern darin ein außergewöhnliches Maß an Ideenreichtum, Geschick im Umgang mit den Werkstoffen, Gefühl für Proportionen und Ansprechbarkeiten der Sinne, Neubemessung der Relationen des Objekts und des Verhältnisses zwischen ihm und den Betrachtenden, Gespür für die exponierte Bedeutung des Ortes und seines Umfeldes u.v.a.m. manifest werden, kann und sollte man der ästhetische Praxis, was ja auch längst geschehen ist, den Rang eines Kunstwerkes zusprechen. Schon die vordergründigen Implikationen seiner Präsentation sind über den Beitrag zur Erweiterung der sensorischen Fähigkeiten im Umgang mit den Kunstfertigkeiten hinaus auch mindestens mittelbar politisch relevant. Dies, weil dadurch Humanpotentiale angerührt und angesprochen werden, deren Kultivierung im Interesse einer Verfeinerung der Sensibilität und der Verkehrsformen im Alltag der Demokratie, der Suche nach neuen (Aus-)Wegen, der Abkehr von technokratisch-bürokratischer Nüchternheit, der vitalisierenden Farbgebung für ausstehende Prozesse etc. unerläßlich sind.

Da aber die Wahl des Ortes, als Land, Stadt und Gebäude, kein Zufall ist, handelt es sich bei der Reichstags-Verhüllung auch um ein explizit politisches Kunstwerk. Die sensorischen Provokationen sind nicht als Selbstzweck gedacht, sollen nicht bei sich selbst bleiben. Wiewohl sie sich selbst zu genügen vermögen und auch eigenständigen Bestand haben können, sind sie auf Reflexionsleistungen nicht nur verwiesen, sondern geradezu aus. Dabei geht es nicht etwa bloß um die Bewußtwerdung der Sinnesleistungen und des kulturhistorischen Stellenwertes des Kunstwerks, um die theoretisierende Kommunikation über die Lösung der ästhetischen Aufgabe und die Aspekte ihrer Wahrnehmbarkeit. Auch und zuallererst läßt es das Kunstobjekt zwanglos zu, es über seinen Eigenwert hinaus nicht als den eigentlichen Gegenstand der Eindrücke aufzufassen. Denn aufgrund seiner unmittelbaren räumlichen Umgebung an Ort und Stelle und dessen historischen und politisch-gesellschaftlichen Kontextes gerät der Inhalt, die drapierte Hülle, zum Mittel der Blicklenkung auf das Verhüllte. Es erscheint dadurch das Stück Architektur, das der Reichstag darstellt, gleichsam in einem anderen Licht; die Ummantelung ist keine Bemäntelung:

Bleibt die Ergründung auf Analyse von Materialeigenschaften, technische und handwerkliche Belange, Stil- und Geschmackskriterien oder ähnliches nicht beschränkt, wird sich die Frage nach der Funktion des Bauwerkes in Staat und Gesellschaft, nach den Dimensionen der Vermittlung nach den in ihm zu bewältigenden Aufgaben fast logischerweise anschließen.

In einem weiten Sinne liegt darin etwas Pädagogisches. Mitnichten ist es zeigefingerhaft. Denn mag sich das Vordringen zur immer intensiveren Nachdenklichkeit auch geradezu aufdrängen, so bedrängt es doch nicht. Vor allem aber sind die aus der Verhüllung heraus denkbaren Vermutungen, Antworten auf Rückfragen, Recherchebemühungen, Analysen, Spekulationen und vielfältig möglichen kommunikativen Bearbeitungen des Objekts inhaltlich nicht vorgegeben. Es gibt keine Botschaft, wonach eine spezifische Bewertung des Reichtstages nahegelegt wird. Botschaft ist aber, daß eine Bewertung angezeigt ist, daß bisherige Bewertungen falsch sein könnten oder zumindest nicht ausreichen.

Die Verhüllung selbst tritt den Beweis dafür an. Sie demonstriert nämlich sinnlich-konkret, daß der Reichstag nicht unweigerlich so sein und so gesehen werden muß, wie er bislang da stand und anzuschauen war. Dabei ist die äußerlich verfremdende Ästhetik, die ja vielleicht Entfremdung gegenüber dem Inneren, der durch Ästhetisches gebundenen Funktion, aufzulösen beginnen lassen kann, geradezu vexierbildhaft spielerisch:

Ohnehin wird es ja Momente, an kalten Tagen, bei Regen oder spätabends geben, wenn Besuchermassen nicht kommen oder sich verlaufen haben, wo Gelegenheit zur meditativen Aneignung des Objekts und das Eingehen ungestörter individueller Beziehungen möglich wird.

Immerhin gilt es daran zu erinnern, daß nicht die Hülle schon das ganze Kunstprojekt ist. Ein Teil seiner imaginativen Kraft liegt auch in den Möglichkeiten der Befassung mit seiner Entstehungsgeschichte und den Umständen seiner Realisierung (vgl. abermals Cullen/Volz 1995b sowie die Hinweise von Tröster 1994 auf die Geschichtlichkeit des Vorhabens im Anschluß an die Zustimmung des Deutschen Bundestages). Dabei wird es allerdings nur eine kurze Zeit möglich sein, die Auseinandersetzung mit der Verhüllung vor Ort und die Beschäftigung mit der Werkgeschichte zu verbinden. So wie zuvor illustrativ nur das Modell oder die Abbildungen davon sein konnten, werden es alsbald die fotografischen oder filmischen Dokumente sein. Die Einmaligkeit, die das Kunstwerk ausmacht, besteht im vorliegenden Falle nicht bloß im Noch-nie-Dagewesenen, sondern auch in der Flüchtigkeit des ästhetischen Werkes selbst. Eventuell liegt darin allegorische Bedeutung; denn schlaglichtartig zeigt sie auf, was für das Verhüllte auch gilt: daß nichts immer währt, weil der Zeitenlauf stets neue Lichter auf die Geschichte und manchmal auch gar schreckliche Schatten vorauswirft.

Sieht man als Verhüllung nicht nur das kurzzeitige ästhetische Ereignis, sondern das Projekt insgesamt, so ist das Kunstwerk jedoch nicht vergänglich. Nicht bloß als Dokument, sondern durch die immer wieder rekapitulier- und neu ausdeutbare Projektkonzeption, vielleicht auch gar durch das, was die Inszenierung der Verhüllung kurz-, mittel- und langfristig auszulösen vermag, ist das künstlerische Wirken prozessual. Es kann, partikelweise, weiterleben in Kommunikationsbezügen, die darauf gar keinen ausdrücklichen Bezug mehr nehmen. Denn es vermag sich, obwohl lineare Wirkungszusammenhänge nie sich werden nachweisen lassen, fortzusetzen, zu vervielfältigen und zu verflüssigen in der politisch relevanten künstlerischen und unmittelbar politischen Kommunikation.

Wahrscheinlich ist das aber wohl nur, wenn die realen Zustände, Verhältnisse und Vorgänge im Lande selbst direkt oder indirekt von sich aus nach dem verlangen, was mit dem Projekt beabsichtigt wurde oder als Möglichkeitsmodell aufscheinen kann. Immerhin ist die Reichstags-Verhüllung eben darum ein Beitrag zu derjenigen kulturellen Alternative, die nicht die bloß selbstgefällige Zurschaustellung heutiger Herrschaft unter Benutzung auch gestriger Ästhetik, sondern eine Wechselbeziehung mit Demokratisierungsvorgängen, in ihrem Rahmen erfolgendem Ringen um die Bewältigung von Herausforderungen sowie die Auseinandersetzung mit fragwürdigen Symbolen zu leisten sich anschickt. Als Fokus dafür ist der Reichstag trefflich gewählt.

Besondere Höhepunkte und Triumphe der Demokratie sind im Reichstag noch nicht grundgelegt worden und zu verzeichnen oder zu feiern gewesen. Insofern gemahnt er nur an Unvollkommenheiten, Scheitern, Rückschläge und Umfunktionierungen des Parlamentarismus - jedoch eben deswegen auch an uneingelöste Ansprüche nicht-autoritärer Herrschaftsorganisation. Er taugt folglich nicht als Symbol für Traditionen der Demokratie, erinnert aber an das Erfordernis der Bewahrung und den Ausbau andernorts begonnener demokratischer Traditionen. Seine Zukunft darf nicht die der Anknüpfung an Vergangenes sein, sondern muß Stätte der Ausbreitung einer neuen Qualität des Zusammenlebens werden, für welche die deutsche Hauptstadt als Ort des Zusammenwachsens von Ost und West prototypische Bedeutung hat. Ob diese Zukunft gelingt, wird nicht nur davon abhängen, ob eine Transformation von Reichstag in Deutschen Bundestag gelingt. Abhängen wird das Gelingen auch davon, ob die vorrangig bis vordergründig darin institutionalisierte parlamentarische Demokratie als Regierungsform sich in eine demokratische Lebensweise zu transformieren vermag.

Von daher kann die Reichtstags-Verhüllung geeignet sein, nicht allein die Beschäftigung mit der ästhetischen Qualität des hauptstädtischen Parlamentsgebäudes und der bislang wechselhaften Parlamentarismusgeschichte in Deutschland anzustoßen. Sie taugt auch als Einstieg in die Frage nach der weiteren Entwicklung des Parlamentarismus, seinen Grenzen und Chancen, den Erfordernissen und Konzepten seiner Reform, seiner Ergänzung und beständigen Modernisierung sowie den Voraussetzungen und Bedingungen seiner Bewahrung, Erneuerung und Gefährdung. All dies sind gewiß Fragen, die es ohnehin, ungeachtet der ästhetischen Inszenierung, zu stellen und solide zu bearbeiten gilt. Doch kann die Reichstags-Verhüllung eventuell in kleinem Umfang dazu beitragen, daß sie auch wirklich gestellt und verhandelt werden oder daß der dazu nötige Prozeß Beschleunigung, Nachfrage und Neugier, zusätzliches Material und ein höheres Maß an Aufgeklärtheit und Aufklärung erfährt.

Die Erfahrungen, welche dem Projektverlauf selbst mit dem Parlamentarismus beschieden waren, bieten anschauliche Beispiele für das Verhältnis von Kunst und Politik in der Demokratie angesichts phasenweise unterschiedlicher welthistorischer Konstellationen. Insofern kann die Rekonstruktion der Projektgeschichte, motiviert durch das unmittelbare Erleben der Verhüllung und das Erfordernis seines besseren Verständnisses, tatsächlich eine Art Lehrstück sein. Denn vermittels der Kontroversen, die um die Verhüllung des Reichstages in der Öffentlichkeit geführt wurden (zu grundlegenden Positionen, Anschauungen und Argumentationsmustern vgl. die Dokumentation der Bundestags-Debatte vor der Entscheidung über die Zulassung der Verhüllung; siehe Deutscher Bundestag 1995), lassen sich etliche Aufschlüsse über das Ausmaß und die Festigkeit von Liberalität, den Gestus von Mitgliedern in Entscheidungsgremien hierzulande, kulturpolitische und -theoretische Konsens- und Dissenspunkte, das Profil divergierender Anschauungen über den Umgang mit Symbolen, Vergangenheit und Toleranz sowie die Bereitschaft zur Förderung der Auseinandersetzung mit den Formen und Inhalten der politischen Kommunikation gewinnen.

Noch keineswegs hinreichend (auf-)geklärt ist schließlich die tatsächliche Rolle der Massenmedien bei der Vermittlung des Projekts von der Idee bis zur Realsierung und der Facetten der öffentlichen Befassung, geschweige denn bei der Berichterstattung und Kommentierung der ästhetischen Inszenierung und der daran sich anschließenden Vorgänge.

Selbst wenn das nicht oder nur unvollkommen gelingen sollte, steckt darin ein kommunikationskritischer Impetus, wenn das Defizit wenigstens durchschaut werden kann, weil sich die Projektidee aufgrund der auch die mediale Berichterstattung prägenden Kraft des Verhüllungs-Ereignisses nicht völlig konterkarieren läßt. Es wäre dann auch der Spektakel-Charakter der ästhetischen Inszenierung zu rechtfertigen und nicht einfach im Sinne einer Reminiszenz an die Mechanismen der Kulturindustrie als Ermäßigung des Anspruchs zu werten. Damit könnte eines der wenigen Beispiele gelingen, die mediale Aufmerksamkeitn durch ein demokratisch-kulturelles Ereignis zu lenken anstatt von den Medien das Ereignis oder die Auswahl eines Ereignisses bestimmen zu lassen.

In den bereits angedeuteten Kontroversen und in der Kontroversität, die wohl nahezu jede hier gewagte Andeutung und Ausleuchtung erfahren wird, zeigt sich keineswegs unabweisbar nur die Funktionstüchtigkeit des Pluralismus im parlamentarisch-demokratischen Deutschland. Die generös anmutende Haltung, mit der die Mehrheit des Deutschen Bundestages der Zulassung der Reichstags-Verhüllung zustimmen mochte, ist nur scheinbar ein Ausdruck von Weltläufigkeit, Offenheit für die Kunst und Freizügigkeit im Umgang mit kritischem Geist. Auch wenn man nicht unterstellt, daß Rücksichtnahme auf das Ansehen Deutschlands im Ausland in einer Zeit seiner Ramponierung ein Aspekt der Meinungsbildung gewesen ist, so zeigt doch die Debatte selbst (in der allzu reaktionäre und kunstfeindliche Anschauungen, wie sie in weiten Teilen der Gesellschaft durchaus anzutreffen sind, noch nicht einmal repräsentiert waren), daß die Ausübung von Kunst, die nicht der Beweihräucherung von Herrschaft dient, keineswegs allgemein selbstverständlich ist. Daß über ihre Ausübung mit Mehrheit entschieden wird, ist bemerkenswert genug.

Im Gegenteil: Noch steht der Beweis aus, daß nicht auch die in einem nicht-autoritären Sinne monumentale Reichtstags-Verhüllung systemimmanent nach Maßgabe der dominanten Interessen integriert und dadurch um ihre kritische Kraft gebracht wird. Sie wäre dann Feigenblatt für Trends der Antiliberalität, Rechtfertigung für weiteres gegenaufklärische Kulturschaffen als Pendelschlag im Pluralismus und, gerade wegen der Größenordnung, Scheinargument für die Behinderung einer Vielzahl kleinerer Projekte vergleichbarer Intention nach dem Motto, daß nun erst einmal kein Bedarf mehr für kritische Ästhetik vorhanden sei.

Die im Projekt der Reichstags-Verhüllung liegenden Kapazitäten werden danach vermutlich nur wirklich zur Geltung kommen können, wenn sie Unterstützung erfahren, in die Gesellschaft hineingetragen werden und auch nach dem Ende der Verhüllung noch als Anknüpfungspunkte genutzt oder weitergeführt werden. Dies ist um so wichtiger, als sich die Kapazitäten an sich nur einem relativ kleinen Kreis von Eingeweihten, Sachkundigen und Kunstbegeisterten unmittelbar erschließen werden. Denn immerhin zeigen sich in den Kontroversen und vielen öffentlich gar nicht kommunizierten Stellungnahmen doch erhebliche emotionale Vorbehalte, flagrantes Unverständnis, interessenbedingte Abwehrhaltungen und offene Feindschaft.

In alledem wiederum spiegelt sich die Umbrochenheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Ihren Hintergrund liefern die historische Zäsur durch die faschistische Ära und deren Ende, die vielfältigen politisch relevanten Disparitäten in den Lebensverhältnissen, die Unvollendetheit der Deutschen Einheit mit ihrer Erweiterung und Verschiebung von sozialen Trennungslinien sowie die Gebanntheit vor den existenziellen Herausforderungen der Epoche und eine nicht zuletzt durch sie begünstigte Virulenz keineswegs überwundener Autoritarismusbestände.

Demnach kann gelten: Wenn die konstruktiven Intentionen und unintendierten produktiven Möglichkeiten des Projekts der Reichstags-Verhüllung greifen sollen, so müssen auch die seiner Vollendung im Wege stehenden Umstände als ein Teil des Projekts kritisch aufgearbeitet werden. Es ist weder zu erwarten noch zumutbar oder zu realisieren, daß das wie ein Exkurs am Rande, im Vorfeld oder als Nachbereitung der ästhetischen Inszenierung der Verhüllung geleistet wird. Verwirklichbar, wenn auch sicher nur näherungsweise, ist es allein in der konsequenten Wahrnehmung des Aufforderungscharakters, der in der Verhüllung steckt: Das Vordringen zur Auseinandersetzung mit den historischen, aktuellen und zukunftsbezogenen Implikationen des Parlamentarismus, zu dem die Reichstags-Verhüllung, unter anderem, anzustiften vermag, macht Sinn nur dann, wenn sie die reflexive Befassung mit den ideellen und materiellen Lebensverhältnissen der Menschen einschließt, um deren Partizipation oder Nicht-Partizipation es geht.

Die Einsicht in die Unmöglichkeit, genau das kurzzeitig, nämlich rund um die wenigen Tage der sichtbaren Verhüllung leisten zu können, muß keine resignative Kapitulation vor der Herausforderung nach sich ziehen. Sie ist vielmehr als ein Anzeichen dafür zu würdigen, daß genau die kurzzeitige Unmöglichkeit und konsequenterweise das Erfordernis der Einbeziehung dieser Aufgabe in die künftige politische Kommunikation durch das Projekt der Reichstags-Verhüllung sinnfällig werden (sollen). Wenn darauf die nötigen Schritte folgen, mindert sich auch die Problematik, daß die Reichstags-Verhüllung und die in ihr liegenden Potenzen trotz des wie bei kaum einem anderen kulturellen Ereignis vergleichbarer Güte großen Publikums nur einen letztlich elitär bleibenden Zirkel unmittelbar erreichen wird. Die Mittel- und Vermittelbarkeit birgt dann in sich auch die Chance einer Aktivierung, mit der sich mildern läßt, daß bloße Publikumsresonanz den üblichen Usancen kulturindustriell geprägter Zuschauerdemokratie verwandt ist, weil sie dem Rezeptiven verbunden bleibt und Aktivität allenfalls als innere Anteilnahme zuläßt.


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