Die Standarduntersuchung, um die Pathomorphologie der Gefäße darzustellen, ist die digitale Subtraktionsangiographie (DSA). Hierbei muß über einen in die Arterie eingebrachten Katheter Kontrastmittel in das Blutgefäßsystem gespritzt werden. Dies kann zu Komplikationen und unerwünschten Wirkungen führen. Die B-Bild-Sonographie, insbesondere die farbcodierte B-Bild-Sonographie, sind zwar nicht mit solchen Komplikationen behaftet, können jedoch nur Teile der extracraniellen Abschnitte darstellen. Eine ausreichende Erfassung von Gefäßen ist jedoch mit dieser Methode kaum möglich.
Deshalb gibt es in der jüngsten Zeit energische Anstrengungen der medizintechnischen Industrie, die Kernspintomographie zur Gefäßdarstellung zu verwenden. Man hat herausgefunden, daß spezielle Meßsequenzen zur signalintensiven Wiedergabe blutdurchflossener Gefäße führen, während andere anatomische Details im Bild signalschwach erscheinen. Diese Beobachtung ist die Grundlage der MR-Angiographie. In einer Probephase wurde sie zunächst technisch-physikalisch weiterentwickelt und hat sich zwischenzeitlich als sehr erfolgversprechend herausgestellt. Es bleiben jedoch eine Reihe von Problemen, die nicht meßtechnisch, sondern nur durch gute Softwareunterstützung im Bereich wissensbasierter Systeme und digitaler Bildverarbeitung gemeistert werden können.
In der Regel sind die Originaldaten einer MR-angiographischen Untersuchungen ca. 10 -- 30 Megabyte umfassende 3-D-Bilder. Diese können zwar in Schnittbildern angeschaut werden, jedoch ist diese Vorgehensweise völlig ungeeignet, um Gefäßanomalien festzustellen. Die im Augenblick zur Gefäßdarstellung verwendete Methode der Maximumsintensitätsprojektion MIP gestattet zwar einen raschen Überblick über die im Gefäßausschnitt befindlichen größeren Gefäße, sie ist jedoch äußerst störempfindlich und erlaubt deshalb keine optimale Beurteilung von Details der Gefäßwand. Insbesondere ist eine Abschätzung von Stenosegraden und Flußgeschwindigkeiten an Gefäßverengungen bisher nicht möglich. Auch werden feinere Gefäße nur unzureichend erfaßt.
Die in ANGIO gewählte Vorgehensweise zur Gefäßrekonstruktion und -visualisierung ist prinzipiell anders geartet: Zunächst wird eine komplette Segmentierung des Gefäßbaumes im untersuchten 3-D-Datensatz durchgeführt; Verzweigungen werden erfaßt und festgehalten. Gefäßquerschnitte werden optimal rekonstruiert. Aus den Konturdaten wird eine 3-D-Oberflächenrekonstruktion mit CAD-Methoden vorgenommen (nichtlineare Approximation mit Tensorprodukt-Splines). Durch geeignete Visualisierungsmethoden (etwa Raytracing oder Gradientenschattierungsverfahren) wird eine vollständige 3-D-Ansicht des untersuchten Gefäßsatzes vorgestellt. Diese Gefäßbaumbilder lassen sich drehen und von allen Seiten begutachten.
Zur Diagnoseunterstützung für arteriosklerotische Gefäßverengungen wird für jedes unverzweigte Gefäß ein Querschnittsdiagramm zur Verfügung gestellt, in dem die ermittelte Querschnittsfläche in Abhängigkeit von der Entfernung der jeweiligen Querschnittsebene vom Startpunkt dargestellt wird. Ein Vergleich mit bekannten Strömungsgesetzen an sich verzweigenden Gefäßen erlaubt den Rückschluß auf Stenosegrade und Flußwiderstände. Die Signifikanz der diagnostischen Entscheidung wird ebenfalls abgeschätzt und dem beurteilenden Mediziner durch Farbkodierung der entsprechenden Gefäßsegmente mitgeteilt.
Zur erfolgreichen Durchführung dieses Projektes sind wissens- und modellbasierte Ansätze auf mehreren Stufen erforderlich: So benötigen die Strategien der Gefäßvorpassung und Verzweigungsfeststellung interne Modelle von verzweigten Gefäßen mit einer Reihe von Sonderfallbehandlungen. Wegen des geringen Rauschsignalabstandes ist ohne Einbeziehung relativ detaillierten geometrischen, physikalischen und medizinischen Wissens bereits auf dieser Stufe keine Segmentierung von Gefäßen, etwa im zerebralen Bereich möglich. Die Interpretation erfaßter Gefäßverläufe und deren Aufbereitung für die ärztliche Diagnose erfordern vor allem Regel- und Faktenwissen über normale Gefäße, Varianten und pathologische Veränderungen.
Ziel des Projektes ist die Erforschung der Möglichkeiten wissens- und modellbasierter Methoden der digitalen Bildverarbeitung und Mustererkennung für die MR-Angiographie und die Erstellung eines größeren MR-angiographischen Auswertungsprogramms auf SUN-Workstations, das baldmöglichst auch durch praktizierende Mediziner im klinischen Einsatz erprobt werden sollte.
Um die Praxisnähe in jeder Entwicklungsphase zu gewährleisten und das vorhandene medizinische bzw. medizinphysikalische Wissen über Gefäßveränderungen, den Vergleich mit hergebrachten Diagnosemöglichkeiten und weitere diagnostische Fragestellungen in vollem Umfang einbeziehen zu können, ist die intensive Kooperation mit Spezialisten in der MR-Tomographie erforderlich. Darüberhinaus erwies sich der intensive Kenntnisaustausch zwischen den medizininformatischen Anwendungsprojekten von FORWISS als außerordentlich hilfreich. Die Arbeitsgemeinschaft Medizinische Informatik des Bayerischen Forschungszentrums für wissensbasierte Systeme vermittelte beide Kontaktmöglichkeiten.
Im Augenblick befindet sich eine erste Testversion, die die komplete Segmentierung inclusive verschiedener Visualisierungsmethoden umfaßt, in einer klinischen Testphase:
Walter Koller, 21.04.1995