Medizinische Bibliotheken im elktronischen Zeitalter

copyright 1994 by Dr. Oliver Obst


Anstelle eines Vorworts:

"... Technologie ist nie neutral, sie verändert das Bewußtsein des Benutzers."
(VICKERS 1983, S.8)

"Dies gilt besonders für die modernen, elektronischen Technologien, die sehr viel heftiger und durchdringender und weniger vorhersagbar sind als frühere Handwerkszeuge. Traditionelle Technologien dienten nur dazu, die individuelle Muskelkraft zu verstärken und die Schärfe und die Reichweite ihrer Sinne zu erweitern. Moderne Kommunikations- und Computertechnologien gleichen auf der anderen Seite mehr einer Ausdehnung des menschlichen Nervensystems. Ihre Einflüße sind deshalb bedeutend inhaltsschwerer."
(HUSTON u. GRAHN 1991, S.39)


1. Einführung

In einer Zeit der zunehmenden Überflutung weiter Lebens- und Fachbereiche mit allen Arten von Information steht der Mediziner vor dem Problem, eine effiziente Auswahl aus diesem Berg an Wissen in vertretbar kurzer Zeit zu treffen. Eine wichtige Rolle hierbei spielt seine persönliche Zeitschriftensammlung. Diese befindet sich jedoch bei Medizinern in einem schlechten Zustand, wie COVELL et. al. (1985) festgestellt hat. Die Zeitschriften sind nicht indexiert und decken zudem das Fachgebiet des Mediziner nur unvollständig und grob ab. Der wissenschaftliche Fortschritt, verbunden mit immer kürzer werdenden Perioden der Aktualität medizinischen Wissens, zwingt aber gerade die im medizinischen Bereich verantwortlich tätigen Personen, sich stets auf der Höhe der neuesten Forschungsergebnisse zu bewegen. Eine optimale medizinische Versorgung ist nur gewährleistet, wenn sich der Mediziner optimal mit neuester und relevanter Fachliteratur versorgt, was nicht einfach ist (1).

Ist ein Mediziner in seinem Fachgebiet nicht auf dem laufenden, und therapiert er deswegen seine Patienten nicht optimal oder gar falsch, setzt er sich der Gefahr aus, in einem Kunstfehlerprozeß verurteilt zu werden (FLöHL 1989, S.30) (2). LEE (1988, S.199) schildert einen solchen Fall, wo der Mediziner verurteilt wurde. In der Urteilsbegründung empfahlen die Richter dem Angeklagten eine MEDLINE-Recherche.

Was ist "MEDLINE" ?

MEDLINE ist die Weiterentwicklung des Index Medicus, eines medizinischen Referateblattes, das über 3000 Zeitschriften bibliographisch erschließt. Ihre Wichtigkeit für die medizinische Forschung kann gar nicht überschätzt werden. Es gibt wenig andere Fachgebiete, die über eine derart zentrale und umfassende Datenbank verfügen.

Einen Eindruck von der Bedeutung dieser Datenbank für die Medizin erhält man, wenn man liest, daß während einer Danksagungsliturgie in der Westminster Abbey in Gegenwart von Königin Elisabeth, des Erzbischofs von Canterbury und des Oberrabbiners zahlreiche Gegenstände zum Hochaltar getragen und gesegnet wurden; "sie schlossen frühe medizinische Geräte, lebensrettende und lebensverlängernde Arzneimittel ein - und eine Compact Disk der MEDLINE-Datenbank" (LAW 1991, S.7).

Die Datenbank MEDLINE wurde, wie viele andere auch, in den Informationsvermittlungsstellen der Hochschulbibliotheken angeboten (3). Trotz aller Vorteile der computerisierten Online-Recherche gegenüber der manuellen Recherche (wie z.B. Aktualität, mehrdimensionale Suchmöglichkeiten, Schnelligkeit) führte dieser Service nie zu einem Durchbruch der Informationsvermittlung für breite Schichten der Bibliotheksklientel. Der chronische Personalmangel der Bibliotheken führte zu langen Wartezeiten für diese Dienstleistung. Die Vermittlung der Online-Recherche war zudem nicht kostenlos, sie wurde zwar - je nach Bundesland unterschiedlich stark (vgl. HENRICHS 1988) - subventioniert, die verbleibenden Gebühren führten dennoch zu einer Teilung der Benutzer in solche, die sich diesen Service 'leisten' konnten und solche, die sich wie bisher in gedruckten Quellen informierten, entweder, weil sie die Gebühren abschreckten oder weil sie von der Existenz einer Informationsvermittlungsstelle nichts ahnten. Die erste Gruppe bestand überwiegend aus Wissenschaftlern, Medizinern und Doktoranden, der zweiten gehörten die allermeisten Studenten an. Die Zahl derer, die eine vermittelte Online-Recherche in Anspruch nahmen, war gering, was u.a. daran lag, daß diese Dienstleistung von den Bibliotheken aus Furcht vor einem Benutzeransturm nicht intensiv vermarktet wurde (LANGEFELD 1991). Versuche, neben den vermittelnden Diensten dezentrale Systeme für Endnutzerrecherchen zu etablieren, um eine direkte Informationsermittlung gerade auch für Mediziner zu ermöglichen, waren jedoch von keinem großen Erfolg gekrönt (4). Mit der Einführung der Datenbank MEDLINE auf einer Compact Disk - Read Only Memory (CD-ROM) im Herbst 1986 änderte sich diese Situation jedoch grundlegend.

1.1. Rückblick

Das bibliographische Referateblatt "Index Medicus" wurde im Jahr 1879 gegründet, und hat laut KALTENBORN (1988, S.301) dem Erfahrungsaustausch innerhalb der empirisch orientierten Medizin stets in besonderem Maße gedient. Der Index Medicus wird von der National Library of Medicine (NLM) herausgegeben, die 1956 aus einer medizinischen Bibliothek der US-Armee hervorgegangen war. Bald war die Menge der im Index Medicus aufgenommenen Zitate so sehr angewachsen, daß - initiiert durch den sogenannten "Weinberg-Report" (5)1963 - Computer zum Druck des Index Medicus eingesetzt werden mußten . Die so entstandene Datenbank wurde MEDLARS genannt und konnte zunächst nur vor Ort abgefragt werden. Erst 1971 waren Technik und Bedarf so weit fortgeschritten, daß MEDLARS online angeboten wurde - die Datenbank MEDLINE war geboren.

Die komplexen Benutzungsprozeduren (Password, Verbindungsauf- und abbau) und ausgefeilten Suchkommandos verhinderten jedoch eine Informationsvermittlung, die für jeden Bibliotheksbenutzer hätte annehmbar sein können. Die Gebührenpolitik der Bibliotheken begrenzte die Inanspruchnahme dieser Datenbank auf wenige Benutzergruppen. Die Anfang der 80er Jahre als Reaktion auf die mäßige Benutzung entwickelten und einfacher und billiger gestalteten "Endnutzersysteme" wie z.B. 'Afterdark' von der Firma BRS konnten kaum eine größere Klientel ansprechen.

Zu diesem Zeitpunkt (1980) wurde erstmals eine sogenannte "optische Speicherplatte" (auch Audio-CD genannt) vorgestellt. Schon 1983 hatte sie einen Siegeszug ohnegleichen durch die Hifi- und Phonowelt angetreten und kurze Zeit später konkurrierende Tonträger auf nachgeordnete Ränge verdrängt. Die enormen Möglichkeiten dieses neuartigen Mediums für die Speicherung großer Datenmengen jeder Art wurde von der Industrie rasch erkannt. Schon 1984 konnten Phillips und Sony auf der COMPEX-Messe den Prototyp eines CD-ROM- Spielers vorstellen (6). Die erste kommerziell verfügbare Datenbank auf CD-ROM war die 'Academic American Encyclopedia' des Herstellers GROLIER 1985 (7) (CRAWFORD 1988). Im Herbst 1986 wurde dann, wie bereits oben erwähnt, die erste CD-ROM-Version der Datenbank MEDLARS vom Datenbankanbieter Cambridge Scientific Abstracts, Bethesda(MD) hergestellt. Sie wurde Compact Cambridge MEDLINE genannt und an der UCLA Louise Darling Biomedical Library, Los Angeles (CA) getestet (GLITZ 1988). Im Jahr darauf startete die NLM einen Großversuch, um die CD-ROM-Versionen sieben weiterer Hersteller in zahlreichen amerikanischen Bibliotheken auf die Probe zu stellen (vgl. MEDLINE on CD-ROM: National Library of medicine evaluation forum, 1989).

Die Reaktion der Benutzer und Bibliothekare überstieg alle Erwartungen. Die CD-ROM-MEDLINE wurde enthusiastisch gefeiert und war aus der Bibliothek nicht mehr weg zu denken. Auch wenn heutzutage, angesichts der immer offenkundiger werdenden Probleme der CD-ROM, die kritiklose, begeisterte Aufnahme der CD-ROM einer pragmatischen Nüchternheit gewichen ist, muß anerkannt werden, daß die Verfügbarkeit vieler Datenbanken auf CD-ROM den Endnutzerrecherchen erst zum Durchbruch verholfen hat. Wie in zwei der zentralen Veröffentlichungen zu diesem Thema konstatiert wurde, bietet die CD-ROM die Möglichkeit eines "ungehinderten Zugangs zur Information" (BARTENBACH 1987) und hat zu einer "Demokratisierung der Informationswelt" (PFAFFENBERGER 1990) geführt. Dies gilt umso mehr, seit in den letzten Jahren durch die Einbindung der CD-ROM in ein Computernetz ihr größter Nachteil - die singuläre Verfügbarkeit bei wachsender Nachfrage - dem Vorteil eines hochschulweiten Zugriffs gewichen ist.

Richard DE GENNARO, Direktor der New York Public Library, skaliert den technologischen Fortschritt in den Bibliotheken nach Jahrzehnten. Die Hauptentwicklung der 50er Jahre war seiner Meinung nach die Mikrographie, die der 60er waren die Xerographie und die Mainframe-Computer, die der 70er war der Fernzugriff auf große Datenbanken, und die der 80er waren Mikrocomputer für jedermann und die CD-ROM. (DE GENNARO in: Developments in microcomputing ... 1990, S.X).

Welche technologische Revolution werden uns die 90er Jahre bringen?

Die Universitätsbibliotheken in den USA sind den europäischen Bibliotheken stets mehrere Jahre in der Einführung neuer Technologien voraus, deshalb lohnt sich ein Blick über den 'großen Teich', um Entwicklungstendenzen deutscher Bibliotheken vorraussehen zu können. Viele amerikanische Hochschulen sind seit den 70er Jahren systematisch vernetzt worden, um jedem Studenten, jedem Wissenschaftler die Möglichkeit zu eröffnen, von seinem Arbeitsplatz, vom Labor oder von seiner Wohnung aus, zahlreiche Resourcen der Universitätsbibliothek benutzen zu können, seien es CD-ROM- und lokale Datenbanken oder elektronische Bibliothekskataloge (OPACs (8) (vgl. COLLIER 1991).

In der Bundesrepublik wird ebenfalls in den letzten Jahren ein Trend von der alleinigen Informationsvermittlung durch zentrale Stellen hin zur gleichzeitigen Verbreitung der Information durch dezentral verfügbare Informationsquellen sichtbar. "Ein wesentliches Ziel der Fachinformationspolitik der Bundesregierung (,) die Erhöhung der Nutzung speziell elektronischer Fachinformation im Bereich der Hochschulen" (GOOS u. KLEIN 1991, S.261) auf durchschnittlich drei Recherchen pro Student während des gesamten Studiums (9) erfordert wegen der dadurch entstehenden zahlenmäßigen Größenordnung an Recherchen (ca. 1.000.000/Jahr) den Einsatz von dezentralen Informationsquellen wie CD-ROM- Datenbanken, Bibliothek-OPACs und Campus-Netzwerken.

Doch nicht nur die Bundesregierung, auch die DFG und die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bibliothekswesen wollen den Ausbau dezentraler Systeme fördern (EDV-gestützte Bibliotheksdienstleistungen 1991). An vielen Universitäten der Bundesrepublik wird fieberhaft an der hochschulweiten Vernetzung von Kliniken, Instituten und Bibliotheken gearbeitet. Die Bibliotheken und ihre Träger beginnen nun, das immense Potential dieser Netzwerke zu erkennen. An über 70 Standorten der Bundesrepublik wurden lokale CD-ROM-Netzwerke installiert, hauptsächlich in Bibliotheken (10). Im weiteren wird geplant, diese lokalen Netzwerke an Universitätsnetze anzuschließen, um so ihre Informationsquellen hochschulweit verfügbar zu machen. In einzelnen Bibliotheken ist dies bereits seit Jahren Routine (UB Bielefeld).

Die 90er Jahre scheinen also - auch in Deutschland - ganz im Zeichen der hochschulweiten Vernetzung von Mikrocomputer-LANs (11) zu stehen mit der Absicht, die Informationsquellen der Bibliothek für jederman jederzeit verfügbar zu machen.

1.2. Problemstellung und Zielsetzung

Die Einführung der CD-ROM hat gravierende Veränderungen in der Bibliotheks- und Universitätslandschaft überall auf der Welt hervorgerufen. Diese Veränderungen sind durch tausende von Publikationen besonders in den angloamerikanischen Ländern gut dokumentiert worden. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag auf dem Einsatz von Datenbanken auf einem CD-ROM-Einzelplatz. Zunehmend werden jedoch CD-ROM-Netzwerke in den Bibliotheken installiert(s.o.). In dieser Einführungphase gilt es, kritisch zu konstatieren, welche Vor- und Nachteile ein CD-ROM-Netzwerk im Vergleich zum CD-ROM-Einzelplatz mit sich bringt, ob es wirklich die von den Unterhaltsträgern gesteckten Ziele erreichen kann, und ob über der großen Zufriedenheit aller Beteiligten nicht einige wesentliche Defizite dieser neuen Technologie übersehen worden sind.

Zur Untersuchung dieser Problematik werden drei Fragenkomplexe in dieser Arbeit in jeweils einem Kapitel behandelt:

a) Welche Konkurrenz bedeutet die CD-ROM für die anderen beiden Wege, dieselbe Information zur Verfügung zu stellen, die Papierausgabe und die Online-Version? Welches sind die Vor- und Nachteile jeder Version?

b) Welche Veränderungen bewirkt die CD-ROM in der Bibliothek, in der Arbeit und dem Selbstverständnis der Bibliotheksmitarbeiter?

c) Wie reagieren die Benutzer auf die freie Verfügbarkeit der Datenbank MEDLINE ? ändern sich Informationsbedürfnisse und Suchverhalten?

1.3. Bearbeitung des Themas

Die Arbeit gliedert sich methodisch in drei Teile. Zunächst wird in den jeweiligen Abschnitten der Kapitel 4. und 5. der generelle Einfluß der Einführung der CD-ROM (ob als Einzelplatz oder im Netz) auf die jeweiligen Bereiche der Bibliothek bzw. die Benutzer dargestellt. Die Untersuchungen, die in der umfangreichen Literatur zu diesem Thema beschrieben werden, dienen als Ausgangspunkt der Analyse. Dabei wird der Schwerpunkt auf Studien in medizinischen Bibliotheken bzw. Untersuchungen über die Benutzung der Datenbank MEDLINE gelegt.

Darauf aufbauend werden in der weiteren Analyse diejenigen Veränderungen hervorgehoben, die durch die Vernetzung der CD-ROM-Stationen entstanden sind. Hierbei wird in jedem Abschnitt auf wesentliche Unterschiede zwischen den Einflüssen der Einzelplatz- und denen der Netzversion der CD-ROM eingegangen. Zum Schluß jedes Unterkapitels werden die wichtigsten Einflüsse der CD-ROM auf die Bibliothek bzw. den Benutzer zusammengefaßt und den Ergebnissen der eigenen Umfragestudie unter elf wissenschaftlichen Bibliotheken der BRD und Österreichs gegenübergestellt.


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Maintainer: Dr. Oliver Obst (obsto@uni-muenster.de) 30.11.94