© 1995 Christo & Taschen Verlag
Verhüllte Küste, Projekt für Little Bay, Australien
Mit Christo, Australien 1969
Foto: Harry Shunk
Christo vollbringt drei Dinge auf einmal, schreibt die britische Kunstkritikerin Marina Vaizey. Er stellt Dinge von unglaublicher Schönheit her, die eine Weile in der realen Welt existieren. Christos sind Kunst: künstlich, konstruiert, menschengemacht. Christos überhöhen die reale Welt, sie schärfen unseren Blick, machen uns aufmerksamer und wachsamer, verändern unsere Sichtweise der Dinge. Er hat es besonders auf Grenzen abgesehen: auf Zäune, Wege, Brücken, auf Punkte, wo sich in der realen Welt etwas ändert, das Land in Küste übergeht, Brücken sich über dem Wasser wölben. Und er verwendet Materialien aus der Welt der Gegenwart, das Ölprodukt Plastik, Gebilde aus Nylon und gewebtem Polypropylen, Beton, Stahlseile und Stahlpfeiler. Christo ist der Inbegriff des Künstlers seiner Zeit und unserer Zeit.
So übersteigert diese Feststellung auf den ersten Blick auch scheinen mag, es ist der Mühe wert, sie sorgfältig zu bedenken. Wir befinden uns im Zeitalter der Information und der Propaganda, der Werbung, der Präsentation und des Einpackens, wie Vaizey uns ins Gedächtnis ruft. Wir werden mit Bildern überschwemmt wie nie zuvor. Und in dieser schönen neuen Welt kommen alte, wohlvertraute Sehnsüchte zutage: Es ist das Zeitalter der Massenproduktion und der Sehnsucht nach Natur, dem Natürlichen, dem Individuellen, dem Handgemachten. Im späten 20. Jahrhundert sind sich die Menschen einer merkwürdigen Mischung widersprüchlicher Hoffnungen, Träume und Wünsche, mehrerer Realitäten deutlich bewußt. Und Kunst ist nicht nur die Verkörperung von Sehnsüchten und Glauben, der Weg, wie wir uns selbst die Welt erklären kännen, Muster bilden kännen, um das Unverständliche zu erfassen, sondern sie ist auch eine Ware und ein Zahlungsmittel.
Vor diesem Hintergrund kann Christo als die Verkörperung der Widersprüche, Bestrebungen, Spannungen und Möglichkeiten der Kunst in der modernen Welt angesehen werden. Christo ist der Künstler, so Vaizey, dem es in unnachahmlicher Weise gelungen ist, in seiner Kunst die Kraft des individuellen Schöpfers mit den Methoden der Industrie- und Post-Industriegesellschaft zu verbinden: Kapitalismus, Demokratie, Forschung, Experiment, Zusammenarbeit und Zusammenschluß. Während er das getan hat, ist er aus Osteuropa, aus Bulgarien, in ein Europa gekommen, das zeitweilig neutral war, nach Österreich, nach Frankreich und Paris, in die traditionelle Hauptstadt der Avantgarde, und schließlich nach New York, in die Kunsthauptstadt der Nachkriegszeit, die wichtigste Stadt des Kapitalismus und des Konsums. Sowohl in ihrer Form als auch in ihren Implikationen hat Christos Laufbahn die Positionen der Kunst in der heutigen Gesellschaft also definitiv abgesteckt.
Verhüllte Küste, Little Bay, Australien
1968-1969 (Ausschnitt)
Polypropylengewebe und Seil, 250 x 2.400 m
Foto: Harry Shunk
In den späten sechziger Jahren schufen die Christos das erste ihrer atemberaubend schönen Großprojekte in freier Landschaft, ein Projekt, das einer ihrer größten Triumphe wurde. John Kaldor, ein Textilunternehmer aus Sydney, hatte die Christos 1969 zu einer Vortragsreise nach Australien eingeladen. Die Christos, die sich kurz zuvor vergeblich darum bemüht hatten, einen Teil der kalifornischen Küste zu verhüllen, konnten John Kaldor als Mitstreiter dafür gewinnen, ein derartiges Projekt in Australien zu realisieren. Das Ergebnis, die Verhüllte Küste (1968-1969) ein 100.000 Quadratmeter großer verhüllter Küstenstreifen an der LittleBay bei Sydney , war ein Wendepunkt für die zeitgenössische Kunst in Australien, wie Kaldor später feststellte. Noch heute werden die Christos in Australien mit diesem Projekt identifiziert, das wie Edmund Capon, der Direktor der Art Gallery of New South Wales in Sydney, es formulierte für die zeitgenössische Kunst in Australien wichtiger war als irgendein anderes Ereignis.
Verhüllte Küste, Projekt für Little Bay, Australien
Zeichnung Collage, 1969
Bleistift, Buntstift, Luftaufnahme, Klebeband und Polypropylengewebemuster
71 x 56cm
Privatsammlung
Foto: Harry Shunk
Die Little Bay liegt etwa 14 Kilometer südöstlich von Sydney. Der zerklüftete Küstenstreifen, der verhüllt wurde, war etwa 2,4 Kilometer lang und bis zu 250 Meter breit. Während der Sandstrand auf der Höhe des Meeresspiegels lag, erreichten die nördlichen Klippen eine Höhe von 26 Metern. Für die Verhüllung wurden 100.000 Quadratmeter eines Erosionsschutz-Gewebes verwendet (eine synthetische Faser, die normalerweise für landwirtschaftliche Zwecke hergestellt wird). Mit 56 Kilometern Polypropylenseil, das einen Durchmesser von drei Zentimetern hatte, wurde das Gewebe an die Felsen angebunden. 15 Profibergsteiger, 110 Arbeiter, Architektur- und Kunststudenten der University of Sydney und Studenten des East Sydney Technical College sowie zahlreiche hilfsbereite australische Künstler und Lehrer investierten über einen Zeitraum von vier Wochen insgesamt etwa 17.000 Arbeitsstunden in dieses Projekt, das von den Christos selbst durch den Verkauf der Vorzeichnungen und Collagen finanziert wurde.
Nach der zehnwöchigen Verhüllungsaktion (sie dauerte von Oktober bis Dezember 1969) wurden alle Materialien wieder entfernt und das Gelände in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Die Art und Weise, wie die Christos ihre Kunst in eine Landschaft oder städtische Umgebung einbinden, ist ohne wirkliche Parallelen. Es fällt allerdings auf, daß vergleichbare Kunst Kunst, die von einer gegebenen Landschaft ausgeht und sie gewissermaßen als Werkmaterial begreift die Natur längst nicht immer derart gewissenhaft respektiert. So sind etwa die berühmten Blauen Berge nördlich des Berges Sinai ein atemberaubendes Beispiel für die sogenannte Land Art, das der belgische Künstler Jean Vérame 1980 in zwei Monaten nur mit Farbe und Pinseln schuf. So schön und eindrucksvoll diese bemalte Felslandschaft in einer abgelegenen Region auch ist: Sie wird für immer den Stempel des Künstlers tragen, da sie nicht in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden kann so, wie es geschieht, sobald die Christos ein Projekt vollendet haben.
Albert Elsen schrieb 1990 in einem Katalog zu einer Ausstellung in Sydney: Christo bringt mit seiner Kunst gewaltig große temporäre Objekte voller Schönheit für bestimmte Orte im Freien hervor. Es liegt in der populistischen Natur seines Denkens begründet, daß er glaubt, die Menschen sollten intensive und denkwürdige Kunsterfahrungen außerhalb der Museen machen können. Oder, wie Jeanne-Claude mir sagte: Jedes unserer Werke ist ein Freiheitsschrei.
Verhülltes Denkmal für Vittorio Emanuele
1970
Polypropylengewebe und Seil
Foto: Harry Shunk
Unmittelbar nach dem ersten Großprojekt in der freien Landschaft konzipierten die Christos zunächst noch einmal eine Reihe von kleineren Projekten, von denen eines besonders hervorgehoben zu werden verdient. 1970 organisierte die Stadt Mailand eine große Ausstellung anläßlich des 10. Jahrestags der Gründung der Nouveaux Réalistes. Christos Beitrag zu dieser Ausstellung waren zwei temporäre Verhüllungsprojekte: Das Denkmal Leonardo da Vincis auf der Piazza della Scala blieb über mehrere Tage in weißem, mit Seil verschnürtem Stoff eingehüllt (1970); das imposante Standbild des letzten italienischen Königs Vittorio Emanuele vor dem Mailänder Dom war nur 48 Stunden lang verhüllt (1970). Im Zusammenhang mit den Mailänder Verhüllungsaktionen erhitzte zum ersten Mal die Frage nach der Würde die Gemüter. Und wie bei der Bundestagsdebatte über die Reichstagsverhüllung im Februar 1994 wurden auch in Mailand alle erdenklichen Argumente und Gegenargumente angeführt.
Verhülltes Leonardo-Denkmal, Projekt für die Piazza della Scala, Mailand
Collage 1970
Bleistift, Stoff, Bindfaden und Zeichenkohle
Sammlung The Lilja Art Fund Foundation
Foto: Harry Shunk