© 1995 by Christo & Taschen Verlag
Der verhüllte Pont Neuf
1975-1985
Luftaufnahme
Polyamidgewebe und Seil
Foto: Wolfgang Volz
Keine andere Brücke in Paris ist von solch großer kulturellen und historischen Bedeutung. Viele berühmte Künstler haben sie gemalt, unter anderen der Engländer William Turner und die französischen Maler Auguste Renoir, Camille Pissarro, Paul Signac, Albert Marquet und der Spanier Pablo Picasso. berdies haben Brücken seit Menschengedenken immer auch religiöse und rituelle Konnotationen. Von den Gegnern des Projekts wurden die wildesten Spekulationen vorgebracht: Die Verhüllung könne der Brücke selbst oder denen, die sie überqueren oder unter ihr hindurchfahren, Schaden zufügen; der Stein könne seines ursprünglichen Erscheinungsbildes beraubt werden; ein kulturelles Totem werde entweiht.
Der verhüllte Pont Neuf, Paris
1985
Foto: Wolfgang Volz
Die Christos brauchten zehn Jahre, bis alle Widerstände überwunden waren. Sie begannen, wie so oft, ganz demokratisch, indem sie mit den Menschen sprachen, die in der unmittelbaren Umgebung der Brücke lebten, und sie zu überzeugen versuchten. Am Ende ihres langen Weges standen der französische Staatspräsident und der Bürgermeister von Paris, die beide ihr Einverständnis geben mußten, bevor das Projekt endlich realisiert werden konnte.
Der verhüllte Pont Neuf, Paris
17. September 1985
Foto: Wolfgang Volz
Zu guter Letzt gaben sowohl Bürgermeister Jacques Chirac, der frühere Premierminister mit Ambitionen auf das Präsidentenamt, als auch sein Erzrivale, Staatspräsident François Mitterrand, ihre Zustimmung zu dem Projekt. Nachdem sie 1962 die Rue Visconti mit Ölfässern versperrt hatten, hatten die Christos mehrmals vergeblich versucht, ein Projekt für Paris in Angriff zu nehmen. Die Verhüllung des Pont Neuf, die sich als triumphaler Erfolg erweisen sollte, war eine Geste der symbolische Dank, den sie Frankreich zu schulden glaubten, dem Land, das Christo nach seiner Flucht über den Eisernen Vorhang für mehrere Jahre zur Heimat geworden war. Einiges spricht dafür, daß die Brücke unter anderem Christos eigenen Übergang von der kommunistischen in die freie Welt symbolisierte, seine neugefundene Freiheit, sich künstlerisch ausdrücken zu können.
Der verhüllte Pont Neuf, Paris
Während der Installation, September 1985
Foto: Wolfgang Volz
Am 22. September 1985 vollendete eine Gruppe von 300 Fachkräften den Verhüllten Pont Neuf (1985). Sie entfalteten 40.876 Quadratmeter seidig schimmerndes Polyamidgewebe, das die Farbe von goldenem Sandstein hatte. Bedeckt wurden mit diesem Gewebe: die Seitenflächen und Gewölbe der zwölf Bägen des Pont Neuf, ohne den Flußverkehr zu behindern; die Brüstungen bis hinunter zum Boden; die Gehsteige und Bordsteinkanten (die Fußgänger liefen über den Stoff); sämtliche Straßenlampen auf beiden Seiten der Brücke; der vertikale Bereich des Ufers an der Westspitze der le de la Cit und die Esplanade des Vert-Galant. Der Stoff wurde mit 13.076 Metern Seil festgeschnürt und mit Stahlketten gesichert, die den Fuß jedes Brückenpfeilers umschlossen. Diese Stahlketten wogen über 12 Tonnen.
Den Charpentiers de Paris unter Grard Moulin und einem aus französischen Subunternehmern zusammengesetzten Team standen die amerikanischen Ingenieure Vah Aprahamian, August L. Huber, James Fuller, John Thompson und Dimiter Zagoroff zur Seite, die unter der Leitung von Theodore Dougherty bereits an mehreren früheren Projekten Christos und Jeanne-Claudes mitgearbeitet hatten. Projektleiter Johannes Schaub hatte detaillierte Pläne und eine Beschreibung der Arbeitsmethoden vorgelegt, die von der Pariser Stadtverwaltung und von den staatlichen Behörden gebilligt worden waren.
Der verhüllte Pont Neuf, Paris
1975-1985
Polyamidgewebe und Seil
Foto: Wolfgang Volz
Und das Ergebnis? Alle Details der Brücke waren unsichtbar geworden wie Werner Spies in einem Zeitungsartikel schrieb: Die Brücke könnte von Adolf Loos stammen, der das Ornament zum Verbrechen erklärte. Der visuelle Eindruck der verhüllten Brücke war der einer postmodernen, aerodynamischen Architektur, die ein oder zwei anachronistische mittelalterliche Merkmale beibehielt. Die oft gestellte Frage nach dem Sinn dieses Unterfangens beantwortete einer der Bergsteiger aus Chamonix, die an der Vertäuung der vertikalen Flächen beteiligt waren, damit, daß er ja auch wirklich keine Ahnung habe, warum er Berggipfel besteige. Die einzige Rechtfertigung liege in der Sache selbst: Es wird getan, weil es getan werden kann. Daß Brücken schon immer das Transitorische des Menschen symbolisiert haben, für den bergang vom Leben zum Tod und für die gefährliche berquerung eines Abgrunds, hat symbolischen Wert, der manche Menschen anziehen mag, so wie andere sich von den statistischen Angaben beeindrucken lassen. Letzten Endes jedoch leben die Werke der Christos bei aller Komplexität ihrer Vorbereitung und Realisierung von ihrer eigenen, ganz spezifischen Einfachheit. Als die Verhüllung der Brücke vollendet war, waren selbst die Gegner des Projekts verblüfft über die außerordentliche Schönheit des Anblicks, der sich ihnen bot.
Der verhüllte Pont Neuf, Projekt für Paris
Maßstabsgerechtes Modell, 1981 (Detail)
82 x 611 x478 cm (HxBxT)
Stoff, Bindfaden, Holz, Farbe, Schaumgummi und Plexiglas
Foto: Wolfgang Volz
Sammlung Jeanne-Claude Christo, New York
In einem Interview mit Masahiko Yanagi für einen Ausstellungskatalog sagte Christo: . ich unterteile meine Projekte in zwei Hauptphasen oder -stufen, die ich gerne als Software- bzw. Hardwarephase bezeichne. In der Softwarephase eines Projekts beschäftige ich mich mit Zeichnungen, Plänen, maßstabgerechten Modellen, rechtlichen Angelegenheiten und technischen Daten. In dieser Softwarephase ist das Endergebnis noch nicht wirklich sichtbar, weil es nur vage Vorstellungen davon geben kann, wie die Brücke aussehen wird. Ein Architekt oder Brückenbauer kann zum Beispiel auf schon vorhandene Wolkenkratzer oder Brücken Bezug nehmen und sich danach richten. Da wir jedoch noch nie eine Brücke verhüllt hatten, ist jeder Plan neu und einzigartig, sogar für uns. Wie die Brücke schließlich in der Realität aussehen würde, war noch nicht definiert, als ich 1975 die Idee hatte. Das realisierte Kunstwerk Der verhüllte Pont Neuf ist die Akkumulation einer Vielfalt vorweggenommener und erwarteter Kräfte: formaler, visueller, symbolischer, politischer, sozialer und historischer Art. Deshalb ist dann der zweite Teil die Hardwarephase, die materielle Verwirklichung des Werks doch wohl der schönste und befriedigendste, weil er die Krönung vieler Jahre der Erwartung ist. Die Hardwarephase läßt sich gut mit einem Spiegel vergleichen. Sie führt vor Augen, woran wir gearbeitet haben und mehr als das. Das endgültige Objekt ist wirklich der Abschluß dieser dynamischen Werkidee. Christo spricht in dieser Erläuterung einen Appell an, der das gesamte Werk der Christos durchzieht, einen Appell an unsere Liebe zur Zufälligkeit, zur ständigen Bewegung und zur graduellen Evolution.