http://www.kulturbox.de/christo/chrono/1994___d.htm (Einblicke ins Internet, 10/1995)
© 1995 Christo & Luebbe Verlag
Chronologie des Reichstags-Projektes
Januar 1994
Christo trifft zwei Mitglieder der PDS/Linke Liste, Andreas Lederer
und Dietmar Keller
Foto: Wolfgang Volz
1. Januar 1994:
Wolf Jobst Siedler meint in der SFB-Sendung
"Radio-Journal": "Die Verhüllung des Reichstags ist künstlerisch
belanglos, aber was schadet sie denn?"
7. Januar 1994:
Im "Bericht aus Bonn" soll Schäuble gesagt haben,
daß er nichts gegen das Projekt habe. Keiner vom Team sieht den Bericht,
aber es wird geglaubt, was berichtet wird.
In einem Artikel in der New York Times wird behauptet, daß die
Genehmigung zur Verhüllung des Reichstags verweigert worden sei.
Jeanne-Claude sagt, daß ein Antrag niemals gestellt wurde, könne
auch keine Genehmigung verweigert werden.
8. Januar 1994:
Siedlers äußerungen im Rundfunk vom 1. Januar
werden, mit leichten änderungen, in Die Welt abgedruckt.
9. Januar 1994:
Die Sendung "Bonn Direkt" bringt einen
ausführlichen Beitrag zum Projekt, der den Eindruck vermittelt, daß
die Chancen gut stehen. Unter anderen spricht sich Johannes Gerster vehement
für das Projekt aus.
10. Januar 1994:
Der Spiegel weiß zu berichten, daß
Christos Chancen gestiegen sind. "Geht es nach dem Ältestenrat des
Bundestags, wird der Künstler wohl einpacken dürfen. Dort scheint ihm
schon heute eine Mehrheit sicher." Seit Dezember 1991 "scheut der Verpacker
nicht die Mühen der Bonner Ebene. Unbeirrt eilt er, bewehrt mit dem
Handbuch des Deutschen Bundestags, vom Abgeordneten A zum Abgeordneten B."
... Rund 190 Abgeordnete hat er in Bonn besucht
....
11. Januar 1994:
Christo trifft die Abgeordneten Andrea Lederer
(Mitglied des Ältestenrats) und Dr. Dietmar Keller, beide PDS/Linke Liste.
Beide sind vom Projekt begeistert. Herr Keller erzählt von seiner Zeit als
Kultusminister der ehemaligen DDR. Er hatte damals mehrere Male den Antrag
gestellt, Christo in die DDR einzuladen. Dies wurde mit zwei Argumenten immer
wieder abgelehnt: Christo ist aus Bulgarien geflohen und Christo will das
Reichstagsgebäude verhüllen. Um so froher ist er jetzt, das Projekt
unterstützen zu können. Bei der Debatte im Bundestag am 25. Februar
1994 spricht er ja dann auch für das Projekt. Außerdem schaut der
Parteivorsitzende Gregor Gysi - vom Beruf "Rinderzüchter" - herein und
freut sich darüber, daß auch er Christo seine volle
Unterstützung geben kann.
Der Empfang vom ehemaligen CDU-MdB Dietrich-Wilhelm Rollmann in der
Parlamentarischen Gesellschaft wird ein überwältigender Erfolg. Nach
einer sehr gut besuchten Pressekonferenz erscheinen mehr als 200 Gäste,
auch Frau Süssmuth ist anwesend und hält aus dem Stehgreif eine
flammende Rede. Das gesamte Publikum ist begeistert. Leider fordert dieser
Erfolg auch einige Opfer: Das Haus ist so voll, daß mehrere Abgeordnete
es nicht einmal betreten können und kehrtmachen müssen. Zu
später Stunde findet noch ein sehr privates Gespräch zwischen Frau
Süssmuth, Torsten Wolfgramm von der F.D.P., Christo und Volz statt. Frau
Süssmuth hatte sich am Abend im Flugzeug mit dem
F.D.P.-Fraktionsvorsitzenden Hermann Otto Solms über das Projekt
unterhalten und dieser hatte angekündigt, daß die F.D.P.-Fraktion
auf eine Debatte im Plenum bestehen wird, man habe in der Fraktion darüber
gesprochen und er sei zu diesem Schluß gekommen. Frau Süssmuth ist
besorgt über diese Entwicklung und Torsten Wolfgramm meint, er würde
seinen Einfluß geltend machen, damit es nicht zu einer Debatte im Plenum
kommt. Christo und Volz nehmens sich vor, mit dem Generalsekretär der
F.D.P., Werner Hoyer, zu sprechen. Er ist ein Befürworter des Projekts und
soll seinen Einfluß geltend machen.
dpa meldet, daß Christo eine Mehrheit im Ältestenrat sicher sei.
Doch sei es unwahrscheinlich, daß in der Sitzung des Ältestenrats
diese Woche über das Projekt beraten werde. Nach einer anderen Meldung sei
Christo sogar eine Mehrheit im Bundestag sicher.
12. Januar 1994:
Es ist sehr schwierig, Werner Hoyer telefonisch zu
erreichen, doch zum Glück treffen ihn Christo und Volz zufällig vor
dem Langen Eugen. Er meint, sie sollten doch einfach am Nachmittag
vorbeikommen, 15.00 Uhr wird vereinbart. Beim Gespräch mit ihm wird dann
klar, daß nicht die ganze F.D.P.-Fraktion mit Hermann Otto Solms
übereinstimmt. Werner Hoyer meint aber, daß er wenig bewirken
können wird, da Solms ziemlich fest entschlossen sei. In diesem Moment -
perfekte Regie - geht die Tür auf und Herr Solms erscheint und wird von
Herrn Hoyer gebeten, seinen Standpunkt Christo doch persönlich zu
erläutern. Herr Solms macht klar, daß er als Fraktionsführer
der liberalen Partei auf dem liberalen Prinzip bestehen möchte, daß
über dieses Kunstwerk offen debattiert und abgestimmt wird. Christo meint,
wenn schon im Plenum über sein Projekt beraten werden müsse, dann
doch aber bitte möglichst bald.
Jürgen Rüttgers lädt die CDU/CSU-Fraktionskollegen zu einer
Diskussion in den Fraktionssitzungssaal am 18. Januar gegen 12.00 Uhr ein.
Unsere Freunde in der Fraktion beginnen ihre Reden für diese spezielle
Fraktionssitzung vorzubereiten. Alle hatten schon lange auf diese Sitzung
hingearbeitet.
Der General-Anzeiger für Bonn und Umgegend schreibt: "Die Spannung
steigt - Reichstagsverhüllung: Entscheidung nächste Woche?" Es
scheint, als werde die Sitzung des Ältestenrats am 20. Januar den
Ausschlag geben.
13. Januar 1994:
Das Projekt wird abermals nicht im Ältestenrat
besprochen. Im Plenum wird Christos Name zum ersten Mal erwähnt, in
Verbindung mit der Hochwasserkatastrophe am Rhein, der der Schürmannbau
zum Opfer gefallen ist. Ob Christos Kunst das Desaster hätte verhindern
können, will SPD-MdB Otto Dressler von der Bauministerin wissen. Sie
antwortet, soweit sie wisse, werde Christo nicht die Unterseiten von
Gebäuden verhüllen. Auf der Befürworterliste stehen die Namen
von 304 MdB.
18. Januar 1994:
Die CDU/CSU-Fraktionssitzung, in der über das
Projekt diskutiert werden sollte, wird kurzfristig abgesagt. Die Vorbereitungen
für diese spezielle Fraktionssitzung sind bestens gelaufen und Karl
Canzler von Heribert Scharrenbroichs Büro, Sylvia und Wolfgang Volz
verteilen Pressemappen auf den Plätzen im Fraktionssaal. Jürgen
Rüttgers hatte außerdem erlaubt, drei Bilder vom Verhüllten
Reichstag und vom Pont-Neuf-Projekt aufzuhängen. Punkt 12.00 Uhr ist alles
bereit und viele unserer Freunde aus der Fraktion sind bereits erschienen,
Gegner sind kaum anwesend. Um 12.06 Uhr erscheint Jürgen Rüttgers und
sagt die Sitzung ab, da eine Sitzung der Fraktionsspitze immer noch andauert.
20. Januar 1994:
Im Ältestenrat wird die Diskussion über das
Projekt auf den 3. Februar verschoben. über diese weitere Verzögerung
ist die ganze Mannschaft etwas irritiert.
25. Januar 1994:
In der Wirtschaftswoche erscheint ein Artikel,
in dem behauptet wird, daß Christos Projekt umweltschädlich sei.
Später stellt sich heraus, daß hier ein cleverer Journalist einfach
so lange herumtelefoniert hat, bis er die gewünschte Antwort bekommen hat;
und diese wurde dann auch noch verfälscht wiedergegeben.
28. Januar 1994:
Anläßlich eines Seminars "Werkstatt
Deutschland" im Palais am Festungsgraben in Berlin hält Wolfgang
Schäuble eine Rede. Darin sagt er über fünf Minuten seine
Christo-Meinung. Er ist vehement gegen das Projekt, weil es nach seiner Meinung
polarisiert, statt eint.
28. Januar 1994:
Es wird bekannt, daß Rudolf Augstein, Herausgeber
vom Spiegel, einen Brief gegen das Projekt an den Ältestenrat
geschrieben hat. Er meint, das Projekt wird, wenn nicht direkt, auf jeden Fall
indirekt Steuergelder kosten, und er ist auch der Ansicht, daß das
Reichstagsgebäude gar nicht hätte wieder aufgebaut werden
müssen.
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Text HTML-edited by Oskar Schirmer