© 1995 by Christo & Luebbe Verlag
Christo zum ersten Mal vor dem Reichstag, 12 Februar 1976
Foto: Wolfgang Volz
Einige Berliner Politiker wollen Christo vor dem Kunstausschuß anhören. Der persönliche Referent des ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR, Christian Nakonz, vermittelt einen Termin zwischen Christo und dem Bundestags-Vizepräsidenten Hermann Schmitt-Vockenhausen für den 18. Januar, 15.45 Uhr. Auch Günter Gaus ist bereit, Christo im Hause der Ständigen Vertretung zu empfangen.
Christo trifft am Nachmittag des 14. Januar in Berlin ein. In der Diskussion auf dem Wege in die Stadt entwickeln sich Meinungsdifferenzen über das weitere Vorgehen. Cullen vertritt die Ansicht, daß die Öffentlichkeit für das Projekt zu mobilisieren sei, um dann auf die Politiker Eindruck zu machen. Christo ist dagegen und will erst die Genehmigung der Politiker und dann die Presse. Im Laufe der Zeit hat man festgestellt, daß die CDU zu Christos, die SPD mehr zu Cullens Meinung neigt. Die Diskussion über das weitere Vorgehen läuft in dieser Art wie ein roter Faden durch alle Gespräche.
Am Sonntag sagt Gross, daß er mit Professor Carstens über das Projekt gesprochen habe und daß dieser mit sich reden lassen werde.
Eine Stunde später hat Christo einen Termin mit dem Bundestagsvizepräsidenten, Hermann Schmitt-Vockenhausen; dieser ist jovial, fröhlich und temperamentvoll, und das Gespräch ist sehr locker. Jedoch ist Schmitt-Vockenhausen ganz eindeutig gegen das Projekt. Er stellt die Frage nach dem "cui bono", wer profitiert dabei? Christo mißversteht die Frage und glaubt, es sei eine Frage nach dem Geld. Schmitt-Vockenhausen erwidert jedoch, daß er das im übertragenen Sinne gemeint habe. Daraufhin antwortet Christo, daß Deutschland der Gewinner sei, denn es erhielte mehr kulturelles Profil. Wenn Deutschland eine freimütige Diskussion führe, gereiche dies den Deutschen zur Ehre. Schmitt-Vockenhausen findet, dies alle rieche zu sehr nach Rednertribüne. Weiter erzählt er, daß viele Briefe gegen das Projekt beim Bundestagspräsidenten eingegangen seien, und auf die Frage, was ihm wichtiger sei, Briefe von informierten Intellektuellen, die das Projekt befürworten, oder die fünffache Anzahl von Zuschriften nicht informierter Kartoffelbauern, antwortet er, daß er selbstverständlich auf die Meinung der Kartoffelbauern Rücksicht nehme. Damit räumt er gleichzeitig ein, daß die Kunstfrage ein Politikum sei, denn hier gehe es nicht um die Meriten des Werkes an sich, sondern um Stimmen, die eines Tages Wählerstimmen sein können. Schmitt-Vockenhausen meint, der einzige Weg, die Hindernisse zu überwinden, sei über die Öffentlichkeit. Christo reagiert ungehalten darauf, denn er hält wenig davon. Herr Schmitt-Vockenhausen berichtet auch, daß am Vortage eine Sitzung des Präsidiums stattgefunden habe, in der die Entscheidung negativ ausgefallen sei.
Nachmittags trifft sich Christo mit Dieter Lattmann, der verspricht, ein Gespräch zwischen ihm und Willy Brandt anzubahnen. Lattmann ist der Meinung, daß eine Fernsehdiskussion über das Projekt behilflich sein könnte. Christo ist dazu nicht bereit.
Christo mit Willy Brandt in dessen Büro im Bundeshaus, 20 Januar 1977
Foto: Wolfgang Volz
Es entwickelt sich eine rege Diskussion zwischen Christo und Carstens, dabei erwähnt letzterer die mehrfach wiederholten Einwände in bezug auf das Symbol der deutschen Einheit. Christo erwidert, daß sein Werk keine Beleidigung darstellen soll, sondern eher eine Aufwertung. Carstens scheint alles zu registrieren und Literatur über das Projekt gelesen zu haben, ist aber dennoch besorgt, daß die Deutschen diese Aktion mißverstehen könnten. Als Bundestagspräsident habe er seine Meinung dazu noch lange nicht formuliert. Auf Cullens Frage, was er von einer öffentlichen Diskussion halte, antwortet er diplomatisch, es sei nicht seine Sache, Ratschläge zu erteilen. Hieraus entnimmt Christo wohl zu Recht, daß Carstens gegen eine öffentliche Diskussion zu diesem Zeitpunkt ist.
Nach dem Gespräch mit Carstens soll der Versuch gemacht werden, Christo mit Willy Brandt zusammenzubringen, was auch sofort klappt. Nach etwa 15 Minuten begleiten Cullen, Volz und Klaus-Henning Rosen, Brandts Büroleiter, Christo in das kleine Büro von Willy Brandt. In der Diskussion, die in englischer Sprache geführt wird, redet Christo viel und Brandt wenig. Er hört aber sehr genau zu. Einwände hat er nicht, und im großen und ganzen scheint er für das Projekt zu sein. Er gibt Christo zu verstehen, daß ein Problem bestehe, das ihm immer wieder Schwierigkeiten bereiten werde, nämlich das Einverständnis unter Politikern, sich nie in die Amtskompetenzen anderer einzumischen. Seinen ursprünglichen Wunsch, sich mit Christo zu treffen, habe er rückgängig gemacht, als er von der Entscheidung im Bundestagspräsidium gehört habe. Erst als er erfahren habe, daß Carstens Christo nach dieser Abstimmung empfange, habe er beschlossen, ihn ebenfalls zu empfangen.
Christo erklärt Bundespräsident Karl Carstens sein Projekt
Foto: Wolfgang Volz
Die Süddeutsche Zeitung fängt an, sich für das Projekt zu interessieren, druckt am 11. März einen informativen Artikel des Berliner Korrespondenten Willi Kinnigkeit und in der darauffolgenden Wochenendausgabe unter der Rubrik "Streiflicht" eine Betrachtung, in der im großen und ganzen nicht Stellung bezogen wird: "Genügend hämischer Gesprächsstoff käme gewiß von der anderen Seite der Mauer. Militärische Tarnorgie oder spätbourgeoises Hirngespinst - das wäre für den Politoffizier die Frage."