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Virtuelles Parlament
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Rudolf Speth

Der Reichstag als politisches Kollektivsymbol

Anmerkungen zum deutschen Nationalmythos

Hissung der Siegerfahne
© Chaldej/Volker Ernst

    Als die sowjetischen Armeen unter Schukow und Budjenny den Sturm auf die Reichshauptstadt im April 1945 begannen, hatten sie das militärische Ziel, die Reichshauptstadt zu erobern und Hitler gefangen zunehmen. Zur Symbolisierung der Eroberung wählten sie aber nicht die monströs-monumentale Reichskanzlei oder irgendein anderes Gebäude des nationalsozialistischen Regimes, sondern den Reichstag.

    Der Reichstag war von strategischer Bedeutungslosigkeit, ungenutzt seit dem Brand von 1933, gelegentlich Ort von Filmvorführungen und Ausstellungen, doch ohne funktionalen und symbolischen Wert innerhalb des nationalsozialistischen Regimes. Dennoch konzentrierte sich die sowjetische Darstellung des Sieges über das Nazi-Regime auf den Reichstag.

    Der Fotoreporter Jewgeni Chaldej, der die russischen Truppen bei ihrem Vormarsch begleitete, hat mehrere Fotos vom Reichstag mit der Anbringung von Hammer und Sichelflagge nachstellen lassen. Berühmt ist sowohl das Foto, auf dem ein russischer Soldat die Flagge an der Ostfront des Reichstages anbringt, darunter schon wieder Verkehr auf der Straße, als auch das Foto der über der ausgebrannten Reichstagskuppel wehenden russischen Fahne, aufgenommen von einem Flugzeug aus, das dann am nächsten Tag auf der Titelseite der Prawda erschien.

    Die Fotos belegen, daß die sowjetische Seite den Reichstag als das Symbol des untergegangen Deutschen Reiches betrachtete und den Sieg über das Hitler-Regime durch die Flaggensetzung auf dem Reichstagsgebäude symbolisieren wollte.

  1. Der Reichstag als politisches Kollektivsymbol
  2. Der Reichstag - während des Kaiserreichs umstritten, in der Weimarer Republik Ausdruck der Schwäche der Demokratie und nach `45 im Schatten der Mauer in seiner Bedeutung suspendiert - kann heute zu einem politischen Kollektivsymbol nationaler Geschichte werden. Die Ambivalenz, die nach Kriegsende über sein weiteres Schicksal (Abriß oder Wiederaufbau) herrschte, hat sich verwandelt in die Schätzung und Respektierung des Gebäudes des ersten deutschen Nationalparlaments(1). Als künftiger Sitz des Deutschen Bundestags bietet er in symbolischer und räumlicher Hinsicht die Möglichkeit der Kontinuierung deutscher National- und Parlamentsgeschichte. Ein neuer Anlauf der positiven Anknüpfung an die Parlamentsgeschichte wird genommen. Dabei hat das Christo-Projekt der Verhüllung eine wichtige zäsur-setzende Funktion. Gleichzeitig wird aber erst die öffentliche Rezeption des Ereignisses darüber Auskunft geben, welche Richtung eingeschlagen wird: die der Selbstüberhöhung und Sakralisierung des Nationalen oder die der Ironisierung(2), Reinigung und Entmythisierung. Kontinuität oder Neuanfang - die Ästhetik zumindest läßt es offen.

    Kollektivsymbole sind vor allem sprachliche, bildliche oder monumentale Darstellungen der für das Kollektiv wichtigen Selbstwahrnehmungen, Selbstdeutungen und der für die Identität des Kollektivs bedeutsamen Bildarsenale. Kollektivsymbole sind nicht die Jungschen Urbilder und Archetypen, sondern sie sind im politischen und sozialen Kommunikationsprozeß hergestellte Bildlichkeiten und Deutungsmuster. Als Symbole haben sie vor allem präsentativen und integralen Charakter, d.h. sie bringen die Komplexität und das divergierende System von Bedeutungen, Vorstellungen und Verweisen zur Darstellung, was diskursiv nicht zu leisten ist. Und sie bringen diese Elemente zu einer simultanen Präsenz, an die unterschiedliche Interpretationsstrategien anschließen können, die aber auch geprägt ist durch Distinktion und Integration.

    Der Reichstag als ein Kollektivsymbol ist gleichzeitig ein polysemisches Gebilde und ein Monument des 19. Jahrhunderts. Als semantisch komplexes Gebilde umfaßt der Reichstag als Kollektivsymbol unterschiedliche Symbolauffassungen - vom sakralen Symbol bis hin zur diskursiven Stereotypenbildung. Der Reichstag ist aber darüber hinaus auch Monument. Kollektivsymbole sind nicht nur bestimmte Vorstellungen, die sich über Diskurse bilden und verändern. Als Monument will dieses Kollektivsymbol gleichzeitig etwas Großes sein, will Unvergänglichkeit demonstrieren. "Monumentalität ist sichtbar gemachte Größe in den beiden Dimensionen des Sozialen und der Zeit... Jedes Monument symbolisiert ein Kollektiv und die Ewigkeit." (Assmann 1988: 90) Symbolisiert wird im Monument nicht nur, wie es das Kollektivsymbol nahelegt, eine bestimmte Selbstbeschreibung der Gemeinschaft, sondern die Größe und die Unvergänglichkeit des sozio-politischen Verbandes. Die Massivität, Gedrungenheit, die Unvergänglichkeit des Materials und die Zitierung alter Formensprachen unterstreichen die Funktion: die Sichtbarmachung und Stabilisierung der politischen Identität.

    Nun ist für jeden auffällig, daß gerade der Reichstag und der dazugehörige politische Verband harte Kontinuitätsbrüche hinter sich haben, und die Identität gerade nicht dieselbe geblieben ist. Der Reichstag ist ein Stück 19. Jahrhundert, das ins 20. ragt, ein Relikt der Kaiserzeit, in der der Parlamentarismus das umkämpfte Feld der politischen Modernisierung bildete. Der Wallot-Bau, 1894 fertiggestellt, zu einer Zeit, als die Refeudalisierung des Reiches unter Wilhelm II. weit fortgeschritten war, sollte auch die Größe und Mächtigkeit des Reiches darstellen. Er war zur Kaiserzeit kein Monument, das die Identität der wilhelminischen Gesellschaft symbolisierte. Er war auch in der Weimarer Republik Ort der Zerissenheit der Gesellschaft, er war in der Zeit der Nazi-Herrschaft demonstrativ ignoriert worden und wurde auch nach 1945 seiner ursprünglichen Intention nach nicht genutzt. Irgendwann um 1998 aber wird der Reichstag das Parlament der Bundesrepublik Deutschland beherbergen. Der Reichstag also war lange Zeit kein Symbol kollektiver Identität, weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik. Das Gebäude war lange Zeit ohne entsprechende Funktion, aber es blieb doch ein Ort des Gedächtnisses im Sinne von Pierre Nora(3). Und dieser Gedächtnisort wird nun zum Gegenstand ästhetischer Symbolisierung.

    Das Christo-Projekt der Verhüllung des Reichstages bedient sich eines politischen Kollektivsymbols, dessen Bedeutungsgehalte in unterschiedliche Richtungen zeigen. Gleichzeitig ist Christos ästhetischer Symbolgebrauch so weit und flexibel, daß er von der Sakralisierung bis hin zur bloßen Wahrnehmung des Sinnlichen der "Verpackung" reicht. Es kommt damit zu einer Art Verflüssigung der semantischen Gehalte und zu einer Neugruppierung dieser Gehalte im kollektiven Symbol.


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