Hissung der Siegerfahne
© Chaldej/Volker Ernst
Der Reichstag war von strategischer Bedeutungslosigkeit, ungenutzt seit dem Brand von 1933, gelegentlich Ort von Filmvorführungen und Ausstellungen, doch ohne funktionalen und symbolischen Wert innerhalb des nationalsozialistischen Regimes. Dennoch konzentrierte sich die sowjetische Darstellung des Sieges über das Nazi-Regime auf den Reichstag.
Der Fotoreporter Jewgeni Chaldej, der die russischen Truppen bei ihrem Vormarsch begleitete, hat mehrere Fotos vom Reichstag mit der Anbringung von Hammer und Sichelflagge nachstellen lassen. Berühmt ist sowohl das Foto, auf dem ein russischer Soldat die Flagge an der Ostfront des Reichstages anbringt, darunter schon wieder Verkehr auf der Straße, als auch das Foto der über der ausgebrannten Reichstagskuppel wehenden russischen Fahne, aufgenommen von einem Flugzeug aus, das dann am nächsten Tag auf der Titelseite der Prawda erschien.
Die Fotos belegen, daß die sowjetische Seite den Reichstag als das Symbol des untergegangen Deutschen Reiches betrachtete und den Sieg über das Hitler-Regime durch die Flaggensetzung auf dem Reichstagsgebäude symbolisieren wollte.
Kollektivsymbole sind vor allem sprachliche, bildliche oder monumentale Darstellungen der für das Kollektiv wichtigen Selbstwahrnehmungen, Selbstdeutungen und der für die Identität des Kollektivs bedeutsamen Bildarsenale. Kollektivsymbole sind nicht die Jungschen Urbilder und Archetypen, sondern sie sind im politischen und sozialen Kommunikationsprozeß hergestellte Bildlichkeiten und Deutungsmuster. Als Symbole haben sie vor allem präsentativen und integralen Charakter, d.h. sie bringen die Komplexität und das divergierende System von Bedeutungen, Vorstellungen und Verweisen zur Darstellung, was diskursiv nicht zu leisten ist. Und sie bringen diese Elemente zu einer simultanen Präsenz, an die unterschiedliche Interpretationsstrategien anschließen können, die aber auch geprägt ist durch Distinktion und Integration.
Der Reichstag als ein Kollektivsymbol ist gleichzeitig ein polysemisches Gebilde und ein Monument des 19. Jahrhunderts. Als semantisch komplexes Gebilde umfaßt der Reichstag als Kollektivsymbol unterschiedliche Symbolauffassungen - vom sakralen Symbol bis hin zur diskursiven Stereotypenbildung. Der Reichstag ist aber darüber hinaus auch Monument. Kollektivsymbole sind nicht nur bestimmte Vorstellungen, die sich über Diskurse bilden und verändern. Als Monument will dieses Kollektivsymbol gleichzeitig etwas Großes sein, will Unvergänglichkeit demonstrieren. "Monumentalität ist sichtbar gemachte Größe in den beiden Dimensionen des Sozialen und der Zeit... Jedes Monument symbolisiert ein Kollektiv und die Ewigkeit." (Assmann 1988: 90) Symbolisiert wird im Monument nicht nur, wie es das Kollektivsymbol nahelegt, eine bestimmte Selbstbeschreibung der Gemeinschaft, sondern die Größe und die Unvergänglichkeit des sozio-politischen Verbandes. Die Massivität, Gedrungenheit, die Unvergänglichkeit des Materials und die Zitierung alter Formensprachen unterstreichen die Funktion: die Sichtbarmachung und Stabilisierung der politischen Identität.
Nun ist für jeden auffällig, daß gerade der Reichstag und der
dazugehörige politische Verband harte Kontinuitätsbrüche hinter
sich haben, und die Identität gerade nicht dieselbe geblieben ist. Der
Reichstag ist ein Stück 19. Jahrhundert, das ins 20. ragt, ein Relikt der
Kaiserzeit, in der der Parlamentarismus das umkämpfte Feld der politischen
Modernisierung bildete. Der Wallot-Bau, 1894 fertiggestellt, zu einer Zeit, als
die Refeudalisierung des Reiches unter Wilhelm II. weit fortgeschritten war,
sollte auch die Größe und Mächtigkeit des Reiches darstellen.
Er war zur Kaiserzeit kein Monument, das die Identität der wilhelminischen
Gesellschaft symbolisierte. Er war auch in der Weimarer Republik Ort der
Zerissenheit der Gesellschaft, er war in der Zeit der Nazi-Herrschaft
demonstrativ ignoriert worden und wurde auch nach 1945 seiner
ursprünglichen Intention nach nicht genutzt. Irgendwann um 1998 aber wird
der Reichstag das Parlament der Bundesrepublik Deutschland beherbergen. Der
Reichstag also war lange Zeit kein Symbol kollektiver Identität, weder im
Kaiserreich noch in der Weimarer Republik. Das Gebäude war lange Zeit ohne
entsprechende Funktion, aber es blieb doch ein Ort des Gedächtnisses im
Sinne von Pierre Nora(3). Und dieser Gedächtnisort wird nun zum Gegenstand
ästhetischer Symbolisierung.
Das Christo-Projekt der Verhüllung des Reichstages bedient sich eines
politischen Kollektivsymbols, dessen Bedeutungsgehalte in unterschiedliche
Richtungen zeigen. Gleichzeitig ist Christos ästhetischer Symbolgebrauch
so weit und flexibel, daß er von der Sakralisierung bis hin zur
bloßen Wahrnehmung des Sinnlichen der "Verpackung" reicht. Es kommt damit
zu einer Art Verflüssigung der semantischen Gehalte und zu einer
Neugruppierung dieser Gehalte im kollektiven Symbol.