April 1945
© Panin-Redkin/Voller Ernst
Am Reichstagsgebäude selbst ist diese Strategie an den Ornamenten, Plastiken, Reliefs und Skulpturen abzulesen. Sie versuchen Geschichte zu synthetisieren und auf das Monument selbst auszurichten. Die Germania am Südportal, die Bronzefiguren deutscher Kaiser in der südlichen Eingangshalle, die Motive der Glasfenster und nicht zuletzt die heute noch erhaltenen naturmythologischen Flußreliefs an der Westfassade sind einige der Elemente nationaler Mythographie am Reichstag. Die Bildung von politischen Mythen und Kollektivsymbolen muß die Geschichten zur "Geschichte" formen. Dies bedeutet, eine komplexe, widersprüchliche und vielfältige Ansammlung von Ereignissen zu einer stringenten Erzählung zu verdichten. Dies gelingt nur durch Weglassen, Reduzieren, Hervorheben und Glätten. Erst dann ist das symbolpolitische Ziel erreicht. Doch "von dem 1894 eingeweihten Gebäude ist nur die Fassade geblieben" (Schmädke 1994: 125). Und diese wird um so mehr zum Ziel der Begehrlichkeiten. Es scheint, daß je weniger an historischer Substanz mit dem Reichstag selbst verbunden wird, die Hülle um so wichtiger wird. Christo legt eine Hülle über die Fassade, die nichts mehr in sich birgt als moderne, kahle und funktionale Räumlichkeiten.
Die Verhüllung selbst, der Vorgang, ist etwas ästhetisches. Etwas, hier das Gebäude, wird unsichtbar gemacht, den Blicken entzogen, aber die Bedeutung wird nicht suspendiert, sondern kann, ohne auf den Bedeutungsträger Rücksicht nehmen zu müssen, um so reiner hervortreten. Gleichzeitig wird aber die Wahrnehmung nicht völlig suspendiert, sondern die ästhetische Wahrnehmung heftet sich an die Stoffbahnen und an die quaderförmige Gestalt. Die Verhüllung setzt eine Zäsur und schafft eine Interimszeit.
Der Vorgang des Verhüllens und Enthüllens hat eine sakrale Dimension.
Zeither war es immer ein wichtiges Element, religöse Symbole der
Sichtbarkeit zu entziehen. Sei es im Islam in Mekka der schwarze Stein, sei es
bei den Juden das umfassende Bilderverbot oder im Christentum die
Verhüllung des Kreuzes vor Ostern. Das Verhüllen hebt den
Bedeutungswert des verhüllten Gegenstandes ins Religiöse und
suggeriert eine Nicht-Erschließbarkeit durch pure Wahrnehmung. Christo
hebt damit den Reichstag und seine Polysemie über das Ästhetische
hinaus. Er bringt damit das nationale Symbol in eine Lage, in der spielerisch
mit der Polysemie umgegangen werden kann, indem er die religiösen
Anklänge des Verhüllens verwendet. Christo arbeitet mit den Mitteln
der Sakralisierung und der Desakralisierung gleichzeitig(11). Respekt, Achtung,
ja Schauder, Wucht sind die häufigen Konnotationen des Symbols. Ironie
soll abgewehrt werden. Die Kräftigung der nationalen Gefühle und die
Stärkung der nationalen Identität sei das Ziel seiner Aktion, so
Christo selbst (Lohmeyer/Schmidt 1993: 30).
Christos Kunst, obwohl von ihr immer wieder auch Heiterkeit ausgeht, ist eine
"ernste" Angelegenheit. Er hebt das Gebäude hervor und macht es
gleichzeitig unsichtbar in seiner historischen Gestalt, aber es bleibt in
seinen Konturen wahrnehmbar. Er deckt damit die alte Bedeutung zu und lockert
sozusagen die Genealogien und nationalen Verbindungen zum Kaiserreich, was
konservative Empfindsamkeiten trifft, die an ihrer Stärkung und
Verdeutlichung interessiert sind(12). Die Verhüllung wird eine
spannungsreiche Beziehung herstellen zwischen der Monumentalität des
Gebäudes und dessen Symbolisierung von Dauer und Ewigkeit und der
Leichtigkeit, Beweglichkeit und Vergänglichkeit des Stoffes. Die
Verhüllung des Monumentalen kann dann zu einer Verflüssigung der
Dauer und des Steines führen.
Wenn eine Funktion und Strategie von Mythisierung darin besteht, den zentralen
Gegenstand oder Vorgang zu sakralisieren, ihn fraglos zu machen und ihn damit
der Kritik zu entziehen und uneingeschränkte Geltung einzufordern, so ist
Christos Strategie Mythisierung und Entmythisierung gleichzeitig. Die
Mythisierung des Nationalen betreibt eine Immunisierung nationaler
Geschichtsschreibung, Genealogie und Selbstbeschreibung gegen kritische
Einwände. Sie ist interessiert an nationalen Weihestätten und
Gedächtnisorten (Nora 1992), denen eine fraglose Geltungsmacht attestiert
wird. Indem Christo diese nationale Ikone bearbeitet, verändert er ihren
Kultwert (Benjamin) und umgibt sie mit einer neuen und spielerischen Aura, aber
es bleibt eben eine Aura. Christo betreibt Entzauberung und Verzauberung
gleichzeitig. Es wird aber vom Rezeptionsprozeß abhängen, in welche
Richtung die Deutungen gehen. Der Möglichkeit der
Selbstüberhöhung und Kontinuierung des Nationalen stehen der Weg der
Reinigung von Relikten des Kaiserreichs und die Betonung des Neubeginns
gegenüber.
Doch ob es letztendlich zu einer neuen Sicht des Reichstages führen wird,
oder ob Christos Aktion eher ein Spektakel für die Internationale der
Medien sein wird, bleibt abzuwarten. Da die Kunstaktion im Übergang
stattfindet, Berlin sich monatlich vom Stadtbild her verändert, wird
Christos Projekt Gefahr laufen, nur augenblickshafte Aufmerksamkeit zu
bekommen. Oder es wird letztlich ein ästhetisches Ereignis bleiben und
nicht ausstrahlen auf die soziale und politische Kommunikation.
(2)Frank Schirrmacher spricht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Februar1994 von einem"ironischen Umgang" mit der Geschichte, der verhindert werden soll
(3)Pierre Nora hat für Frankreich die Orte und Symbole der kollektiven Identität versammelt (vgl. Nora 1984-92).
(3)Brief vom 19. Mai 1890 an Bluntschli. Zitiert nach Cullen (1990).
(5)Vgl. Neue Freie Presse vom 2. Oktober 1894. Hier geht der Kunsthistoriker Karl von Lützow auf die geschmacklose Kuppel, die schwerfälligen Türme, die mangelnde architektonische Gliederung und Durchbildung, die Plumpheit, das Fehlen der Rhythmik und auf die verunglückten Figurenplastiken ein. Der Vorwurf der "verunglückten Schöpfung", der damals gemacht worden ist, ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Gerade wenn der Betrachter den Reichstag mit den anderen Bauwerkenin Berlins Mitte vergleicht, fällt ihm die mangelnde Eleganz und Leichtigkeit ins Auge.
(6)Tilmman Buddensieg spricht vom "synthetischen Reichsstil" des Wallot-Baus. Siehe die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Oktober 1977.
(7)Hans-Ulrich Wehler hat das Kaiserreich bis 1890 als "bonarpartistisches Diktatorialregime" gekennzeichnet (1988: 63 ff).
(8)Vgl. Walter Burkert (1979). Levi-Strauss (1990) faßt die Mythen als Narrationen auf,die helfen, bestimmte Übergänge zu bewältigen.
(9)Verpacken hat eine warenästhetische Bedeutung, die für eine nationale Symbolik aus konservativer Perspektive nicht angemessen ist.
(10)So hat sich Christo in verschiedenen Interviews geäußert (vgl. Lohmeyer/Schmidt 1993).
(11)Christo und seine Mitarbeiter sprechen vom Reichstag als einem "würdevollen Symbol", das "großen Respekt verdient". Die Verhüllung würde eine Zäsur setzenzwischen alten und neuem Reichstag und der Geschichte (vgl. Cullen/Volz 1995: 186).
(12)Daß allgemein von einem Experiment gesprochen wird, macht dies deutlich. "Manmacht keine Experimente mit Weihestätten der Nation", so lautet der Standardeinwand. Christo profitiert davon, daß der Reichstag sich in der Transitionsphase befindet und er seine Kunst in diesem Übergang zur Ausführung bringen kann.
Burkert, Walter 1979: Mythisches Denken, in: Hans Poser (Hrsg.): Mythos und Vernunft, Berlin-New York: 16-39
Cullen, Michael S. 1990: Der Reichstag. Geschichte eines Monuments, Stuttgart
Cullen, Michael S./Volz, Wolfgang 1995: Christo-Jeanne Claude. Der Reichstag "Dem Deutschen Volke", Bergisch Gladbach
Dörner, Andreas 1995: Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen, Opladen
Hart, Dietrich 1992: Revolution und Mythos. Sieben Thesen zur Genesis und Geltung zweier Grundbegriffe historischen Denkens, in: Dieter Hart/Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos, Frankfurt/M.
Lohmeyer, Henno/Schmidt,Felix 1993: Eulenspiegel oder Revolutionär? Der Kampf um den Reichstag. Henno Lohmeyer und Felix Schmidt im Gespräch mit dem Verhüllungskünstler, Berlin
Nora, Pierre 1984-1992: Les lieus de mémoire. Sous la direction de Pierre Nora, Band 1: La République; Band 2: La Nation; Band 3: Les Frances, Paris
Propp, Vladimir 1975: Morphologie des Märchens, Frankfurt/M.
Schmädeke, Jürgen 1994: Der Deutsche Reichstag. Geschichte und Gegenwart eines Bauwerks, München
Wehler, Hans-Ulrich 1988: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen