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Rudolf Speth

Der Reichstag als politisches Kollektivsymbol

Anmerkungen zum deutschen Nationalmythos

April 1945
© Panin-Redkin/Voller Ernst

3. Der Reichstag als Teil des deutschen Nationalmythos

Der politische Mythos der Nation ist ein narratives Gebilde im Gegensatz zu Kollektivsymbolen. Als solches entwickelt er bestimmte Muster kultureller oder biologischer Art. Als politischer dient er der Legitimation der Politik. Er ist nicht historischer Bericht, sondern ist reduzierte Komplexität historischen Geschehens. Stringenz ist das Kennzeichen des politischen Mythos. Freilich ist der politische Mythos kein Epos in Versen, sondern er kommt mit Zitaten, Versatzstücken, Elementen und Evokationen aus.

Am Reichstagsgebäude selbst ist diese Strategie an den Ornamenten, Plastiken, Reliefs und Skulpturen abzulesen. Sie versuchen Geschichte zu synthetisieren und auf das Monument selbst auszurichten. Die Germania am Südportal, die Bronzefiguren deutscher Kaiser in der südlichen Eingangshalle, die Motive der Glasfenster und nicht zuletzt die heute noch erhaltenen naturmythologischen Flußreliefs an der Westfassade sind einige der Elemente nationaler Mythographie am Reichstag. Die Bildung von politischen Mythen und Kollektivsymbolen muß die Geschichten zur "Geschichte" formen. Dies bedeutet, eine komplexe, widersprüchliche und vielfältige Ansammlung von Ereignissen zu einer stringenten Erzählung zu verdichten. Dies gelingt nur durch Weglassen, Reduzieren, Hervorheben und Glätten. Erst dann ist das symbolpolitische Ziel erreicht. Doch "von dem 1894 eingeweihten Gebäude ist nur die Fassade geblieben" (Schmädke 1994: 125). Und diese wird um so mehr zum Ziel der Begehrlichkeiten. Es scheint, daß je weniger an historischer Substanz mit dem Reichstag selbst verbunden wird, die Hülle um so wichtiger wird. Christo legt eine Hülle über die Fassade, die nichts mehr in sich birgt als moderne, kahle und funktionale Räumlichkeiten.

4. Die Verhüllung als Verzauberung und Entzauberung

Christos Aktion, die kunstvolle und spektakuläre Verhüllung des Reichstagsgebäudes mit silbrig reflektierenden Stoffbahnen, arbeitet mit der Vorgeschichte und der Polysemie des Gebäudes. Es ist eigentlich kein "Verpacken", was vielleich durch das englische Wort naheliegen würde und wodurch sich die ablehnenden Voten legitimierten(9). Durch die Verhüllung wird natürlich das Gebäude hervorgehoben, herausgetrennt aus dem Berliner Grau der Gebäude. Christo selbst hat auch die Begründung für seine Aktion im Lauf der zwei Jahrzehnte, in denen er sie vorbereitet und geplant hat, mehrfach, je nach seinem Wissensstand und je nach den historischen Umständen, geändert. Deutlich war aber immer die politische und kommunikative Dimension der geplanten Verhüllungsaktion(10).

Die Verhüllung selbst, der Vorgang, ist etwas ästhetisches. Etwas, hier das Gebäude, wird unsichtbar gemacht, den Blicken entzogen, aber die Bedeutung wird nicht suspendiert, sondern kann, ohne auf den Bedeutungsträger Rücksicht nehmen zu müssen, um so reiner hervortreten. Gleichzeitig wird aber die Wahrnehmung nicht völlig suspendiert, sondern die ästhetische Wahrnehmung heftet sich an die Stoffbahnen und an die quaderförmige Gestalt. Die Verhüllung setzt eine Zäsur und schafft eine Interimszeit.

Der Vorgang des Verhüllens und Enthüllens hat eine sakrale Dimension. Zeither war es immer ein wichtiges Element, religöse Symbole der Sichtbarkeit zu entziehen. Sei es im Islam in Mekka der schwarze Stein, sei es bei den Juden das umfassende Bilderverbot oder im Christentum die Verhüllung des Kreuzes vor Ostern. Das Verhüllen hebt den Bedeutungswert des verhüllten Gegenstandes ins Religiöse und suggeriert eine Nicht-Erschließbarkeit durch pure Wahrnehmung. Christo hebt damit den Reichstag und seine Polysemie über das Ästhetische hinaus. Er bringt damit das nationale Symbol in eine Lage, in der spielerisch mit der Polysemie umgegangen werden kann, indem er die religiösen Anklänge des Verhüllens verwendet. Christo arbeitet mit den Mitteln der Sakralisierung und der Desakralisierung gleichzeitig(11). Respekt, Achtung, ja Schauder, Wucht sind die häufigen Konnotationen des Symbols. Ironie soll abgewehrt werden. Die Kräftigung der nationalen Gefühle und die Stärkung der nationalen Identität sei das Ziel seiner Aktion, so Christo selbst (Lohmeyer/Schmidt 1993: 30).

Christos Kunst, obwohl von ihr immer wieder auch Heiterkeit ausgeht, ist eine "ernste" Angelegenheit. Er hebt das Gebäude hervor und macht es gleichzeitig unsichtbar in seiner historischen Gestalt, aber es bleibt in seinen Konturen wahrnehmbar. Er deckt damit die alte Bedeutung zu und lockert sozusagen die Genealogien und nationalen Verbindungen zum Kaiserreich, was konservative Empfindsamkeiten trifft, die an ihrer Stärkung und Verdeutlichung interessiert sind(12). Die Verhüllung wird eine spannungsreiche Beziehung herstellen zwischen der Monumentalität des Gebäudes und dessen Symbolisierung von Dauer und Ewigkeit und der Leichtigkeit, Beweglichkeit und Vergänglichkeit des Stoffes. Die Verhüllung des Monumentalen kann dann zu einer Verflüssigung der Dauer und des Steines führen.

Wenn eine Funktion und Strategie von Mythisierung darin besteht, den zentralen Gegenstand oder Vorgang zu sakralisieren, ihn fraglos zu machen und ihn damit der Kritik zu entziehen und uneingeschränkte Geltung einzufordern, so ist Christos Strategie Mythisierung und Entmythisierung gleichzeitig. Die Mythisierung des Nationalen betreibt eine Immunisierung nationaler Geschichtsschreibung, Genealogie und Selbstbeschreibung gegen kritische Einwände. Sie ist interessiert an nationalen Weihestätten und Gedächtnisorten (Nora 1992), denen eine fraglose Geltungsmacht attestiert wird. Indem Christo diese nationale Ikone bearbeitet, verändert er ihren Kultwert (Benjamin) und umgibt sie mit einer neuen und spielerischen Aura, aber es bleibt eben eine Aura. Christo betreibt Entzauberung und Verzauberung gleichzeitig. Es wird aber vom Rezeptionsprozeß abhängen, in welche Richtung die Deutungen gehen. Der Möglichkeit der Selbstüberhöhung und Kontinuierung des Nationalen stehen der Weg der Reinigung von Relikten des Kaiserreichs und die Betonung des Neubeginns gegenüber.

Doch ob es letztendlich zu einer neuen Sicht des Reichstages führen wird, oder ob Christos Aktion eher ein Spektakel für die Internationale der Medien sein wird, bleibt abzuwarten. Da die Kunstaktion im Übergang stattfindet, Berlin sich monatlich vom Stadtbild her verändert, wird Christos Projekt Gefahr laufen, nur augenblickshafte Aufmerksamkeit zu bekommen. Oder es wird letztlich ein ästhetisches Ereignis bleiben und nicht ausstrahlen auf die soziale und politische Kommunikation.


    (1)Der Respekt gipfelt darin, daß die konservativen Kritiker der Reichstagsverhüllung durch Christo diese als Schändung nationaler Symbole begreifen und ostentativ ausrufen: "So etwas macht man nicht!" Vgl. Schäubles Beitrag währen der Bundestagsdebatte vom 25. Februar 1994 auf diesem Server.

    (2)Frank Schirrmacher spricht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Februar1994 von einem"ironischen Umgang" mit der Geschichte, der verhindert werden soll

    (3)Pierre Nora hat für Frankreich die Orte und Symbole der kollektiven Identität versammelt (vgl. Nora 1984-92).

    (3)Brief vom 19. Mai 1890 an Bluntschli. Zitiert nach Cullen (1990).

    (5)Vgl. Neue Freie Presse vom 2. Oktober 1894. Hier geht der Kunsthistoriker Karl von Lützow auf die geschmacklose Kuppel, die schwerfälligen Türme, die mangelnde architektonische Gliederung und Durchbildung, die Plumpheit, das Fehlen der Rhythmik und auf die verunglückten Figurenplastiken ein. Der Vorwurf der "verunglückten Schöpfung", der damals gemacht worden ist, ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Gerade wenn der Betrachter den Reichstag mit den anderen Bauwerkenin Berlins Mitte vergleicht, fällt ihm die mangelnde Eleganz und Leichtigkeit ins Auge.

    (6)Tilmman Buddensieg spricht vom "synthetischen Reichsstil" des Wallot-Baus. Siehe die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Oktober 1977.

    (7)Hans-Ulrich Wehler hat das Kaiserreich bis 1890 als "bonarpartistisches Diktatorialregime" gekennzeichnet (1988: 63 ff).

    (8)Vgl. Walter Burkert (1979). Levi-Strauss (1990) faßt die Mythen als Narrationen auf,die helfen, bestimmte Übergänge zu bewältigen.

    (9)Verpacken hat eine warenästhetische Bedeutung, die für eine nationale Symbolik aus konservativer Perspektive nicht angemessen ist.

    (10)So hat sich Christo in verschiedenen Interviews geäußert (vgl. Lohmeyer/Schmidt 1993).

    (11)Christo und seine Mitarbeiter sprechen vom Reichstag als einem "würdevollen Symbol", das "großen Respekt verdient". Die Verhüllung würde eine Zäsur setzenzwischen alten und neuem Reichstag und der Geschichte (vgl. Cullen/Volz 1995: 186).

    (12)Daß allgemein von einem Experiment gesprochen wird, macht dies deutlich. "Manmacht keine Experimente mit Weihestätten der Nation", so lautet der Standardeinwand. Christo profitiert davon, daß der Reichstag sich in der Transitionsphase befindet und er seine Kunst in diesem Übergang zur Ausführung bringen kann.


Literaturverzeichnis

    Assmann, Jan 1988: Stein und Zeit. Das "monumentale" Gedächtnis der altägyptischen Kultur, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M.

    Burkert, Walter 1979: Mythisches Denken, in: Hans Poser (Hrsg.): Mythos und Vernunft, Berlin-New York: 16-39

    Cullen, Michael S. 1990: Der Reichstag. Geschichte eines Monuments, Stuttgart

    Cullen, Michael S./Volz, Wolfgang 1995: Christo-Jeanne Claude. Der Reichstag "Dem Deutschen Volke", Bergisch Gladbach

    Dörner, Andreas 1995: Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen, Opladen

    Hart, Dietrich 1992: Revolution und Mythos. Sieben Thesen zur Genesis und Geltung zweier Grundbegriffe historischen Denkens, in: Dieter Hart/Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos, Frankfurt/M.

    Lohmeyer, Henno/Schmidt,Felix 1993: Eulenspiegel oder Revolutionär? Der Kampf um den Reichstag. Henno Lohmeyer und Felix Schmidt im Gespräch mit dem Verhüllungskünstler, Berlin

    Nora, Pierre 1984-1992: Les lieus de mémoire. Sous la direction de Pierre Nora, Band 1: La République; Band 2: La Nation; Band 3: Les Frances, Paris

    Propp, Vladimir 1975: Morphologie des Märchens, Frankfurt/M.

    Schmädeke, Jürgen 1994: Der Deutsche Reichstag. Geschichte und Gegenwart eines Bauwerks, München

    Wehler, Hans-Ulrich 1988: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen


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