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Virtuelles Parlament
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Ulrich Sarcinelli

Aufklärung und Verschleierung

Anmerkungen zur Symbolischen Politik

1935, Reichsparteitag in Nürnberg
© Ullstein Bilderdienst

    Es gehe ja nur um einen kurzen Moment unserer Geschichte, einen Moment der Entspanntheit und des heiteren Umgangs. - Mit diesem unverkrampft lockeren Appell für eine "neue deutsche Gelassenheit" in Sachen Reichstagsverhüllung blieb der Abgeordnete Freimut Duve in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages im Februar 1994 ziemlich allein. Eher drängt sich bei der Lektüre der Debatte der Eindruck auf, das Parlament habe nicht über ein künstlerisches Projekt, sondern über eine Überlebensfrage der Nation zu entscheiden. Die eine - freilich in der Abstimmung dann unterlegene - Seite empfand das Verpackungsprojekt als Sakrileg, als unwürdigen Umgang mit dem geschichtsmächtigsten Bauwerk des deutschen Parlamentarismus, das keine künstlerischen Experimente erlaube (Burkhard Hirsch, Wolfgang Schäuble). Andere bemühten sich mit mehr oder weniger Kunstverständnis, das "Symbolische" in Christos Vorhaben zu entschlüsseln: Was für die einen eher nüchtern als "künstlerisches Zeichen für den Neuanfang in Berlin" (Peter Conradi) oder schon weniger pragmatisch als grandiose Gelegenheit gesehen wurde, über den Parlamentarismus zu diskutieren, wobei mit der Verhüllung des Reichstages Geschichte enthüllt werden könne (Heribert Scharrenbroich), wurde für andere schon zu einem quasi liturgischen Akt hochstilisiert: die Reichstagsverhüllung als "Symbol für die Wiedergeburt der Demokratie" und als "Ausdruck der Ehrfurcht", die Freiraum für die Besinnung auf das Wesentliche schaffe (Konrad Weiß).

  1. Symbolisches als politischer Ernstfall
  2. Wird das Symbolische in der Politik in Augenschein genommen, so geht es ganz offensichtlich "ans politisch Eingemachte", wird es ernst. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls die Parlamentsdebatte um die Reichstagsverhüllung. Kein Zweifel, Deutschland tut sich schwer mit seinen politischen Symbolen wie überhaupt mit dem Symbolischen, Ästhetischen, Zeremoniellen in Verbindung mit Politik. Was für andere Nationen zum selbstverständlichen Bestandteil politisch-kultureller Folklore oder staatlicher Traditionspflege gehört, ist hierzulande allzu häufig mit historischen Hypotheken belastet. Es sind vor allem die liberalen und kritisch aufgeklärten "Geister" der Republik, die ein gebrochenes Verhältnis zum rhetorischen und symbolischen Beiwerk in der Politik zu haben scheinen, stehen doch massenwirksame politische Inszenierungen dem rationalistischen Ideal einer allseitigen Überzeugungsfähigkeit, dem aufklärerischen Vernunftpostulat einer Bürgerdemokratie, entgegen (Vgl. Mosse 1976; Cassirer 1990). "Ästhetisierung der Politik" war bekanntlich Walter Benjamins Definition von Faschismus, von dessen Fähigkeit zur planmäßigen Erzeugung eines Staats- und Parteimythos (Cassierer 1985: 360ff) Leni Riefenstahls Film "Triumpf des Willens" noch heute auf ebenso abschreckende wie faszinierende Weise Ausdruck gibt.

    Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, daß die Indienstnahme der im Vergleich zum rheinischen Bonn anders dimensionierten, geschichtsbeladenen und nicht selten auch geschichtsbelasteten Berliner Regierungs- und Verwaltungsarchitektur und die damit veränderte Kulisse für Staatsrepräsentation noch so manchen Anlaß für Reflexionen und Irritationen über den Zusammenhang von Politik und Symbolik geben wird. Solche Debatten sind unausweichlich. Sie müssen als Teil der notwendigen Selbstvergewisserung eines demokratischen Gemeinwesens gesehen werden, das nicht zuletzt auch mit seiner Staatsarchitektur eine politisch-symbolische Visitenkarte abgibt.

    Doch Christos Verhüllungsprojekt provoziert nicht nur dazu, über große Repräsentationsarchitektur, symbolträchtige Staatsaktionen und prominente politische Feiertagsrituale nachzudenken. Sie gibt auch Gelegenheit, nach der Bedeutung des Symbolischen im alltäglichen Politikbetrieb zu fragen, nach der Symbolischen Politik jenseits der Staatsmannsgesten vom Kaliber der Umarmung zwischen Adenauer und de Gaulle, des Kniefalles Willy Brandts in Warschau oder etwa so mancher politisch-demonstrativer Akte im Zusammenhang mit den Gedenkfeiern zum 8. Mai. Jenseits aber auch einer geschichtsmächtig gewordenen Symbolik "von unten", wie sie sich etwa in unserer Wahrnehmung des Untergangs der DDR bleibend eingeprägt hat: der Ansturm auf die deutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau, der begeisterte Empfang für die ersten Trabbikarawanen, die Leipziger Montagsdemonstrationen, der friedliche Protest kerzenhaltender Menschen, der Ruf "Wir sind das Volk" oder kurze Zeit später "Deutschland einig Vaterland" und einiges andere mehr.

    So eindrucksvoll, aber auch politisch wirkmächtig, dies alles war und ist und demzufolge eine entsprechende zeithistorische Würdigung erfährt, so wäre es doch eine folgenschwere Perspektivenverengung, Symbolische Politik auf demonstrative Gesten und hoheitliche Aktionen, auf Staatsaufzüge oder auch auf revolutionsverdächtige Bürgerprotestaktionen zu reduzieren. Denn Symbolisches hat auch in der alltäglichen politischen Kommunikation seinen Platz, ist Teil der Produktion politischer Alltagsikonographie.

  3. Symbolische Politik als Element politischer Deutungskultur
  4. Mit dieser Erweiterung der Perspektive bewegt man sich allerdings auf dem wissenschaftlich "weichen" Untergrund "politischer Kultur"; ein Unterfangen, das der Politikwissenschaftler Max Kaase einmal mit dem inzwischen vielzitierten kulinarischen Vergleich vom "Pudding", den es an die Wand zu nageln gelte, bedachte. (Kaase 1983) Ob "hart" oder "weich", an der Tatsache, daß Symbolisches aus der alltäglichen Politikdarstellung ebensowenig wie aus unserer Politikwahrnehmung wegzudenken ist, läßt sich kaum rütteln. Politische Symbolik und Symbolische Politik sind Teil unserer "politischen Deutungskultur" (Rohe 1987).

    Symbolische Politik und politische Symbolik aus dem politischen Alltag eleminieren zu wollen, wäre insofern blauäugig. Es wäre zudem auch ein erkenntnistheoretisches Unding, vermittelt sich doch Wirklichkeit, auch politische Wirklichkeit, im Zeitalter allpräsenter Massenmedien kaum unmittelbar. Dabei gilt, was der Publizistik-Klassiker Walter Lippmann - noch weithin in Unkenntnis über die Verbreitung und Wirkung moderner elektronischer Medien und vor allem des Fernsehens - in seiner berühmten Studie über "Die öffentliche Meinung" bereits 1922 mit geradezu prophetischem Gespür diagnostizierte: "Die Welt, mit der wir es in politischer Hinsicht zu tun haben, liegt außer Reichweite, außer Sicht, außerhalb unseres Geistes. Man muß sie erst erforschen, schildern und sich vorstellen... Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfaßt zu werden... Obgleich wir in dieser Welt handeln müssen, müssen wir sie erst in einfacheren Modellen rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können." (Lippmann 1990: 18 und 27) Die Gesetzmäßigkeiten öffentlicher Meinungsbildung, die der erfahrene Publizist Lippmann aus vorwiegend kognitions- und sozialpsychologischer Sicht entdeckte und die diese "Pseudoumwelt" ausmachen, nämlich Stereotype, Symbole, Rituale, Images, Fiktionen, Standardversionen, geläufige Schemata - Symbolisches also -, erweisen sich dabei als auch heute noch gültige Muster der Komplexitätsreduktion in der Wahrnehmung ebenso wie in der Darstellung und Vermittlung von Politik.

    Fahnen, Embleme, Abzeichen, aber auch Begriffe und Schlagworte, politische Formeln oder Slogens können ebenso als bedeutungsvermittelnde Symbole bezeichnet werden, wie bestimmte Handlungen. In der systemtheoretischen Terminologie Niklas Luhmanns bedeutet dies: Symbolische Kürzel sind eine notwendige Voraussetzung, um angesichts hochkomplexer Erwartungslagen Sinn zu generalisieren und damit Orientierung zu ermöglichen (Luhmann 1980: 415 ff.). Ein Befund, der auch wissenssoziologisch abgestützt ist. Die Wahrnehmung von Politik erfolgt überwiegend über "symbolische Sinnwelten", in die unterschiedliche und bisweilen auch widersprüchliche Ausschnitte politischer Alltagserfahrungen integriert werden können (Berger/ Luckmann 1982: 104-112).

  5. Vom Doppelcharakter des Politischen: "Nennwert" und "Symbolwert" von Politik
  6. Die im Alltagsverständnis verbreitete und durchaus plausible Vorstellung ist dabei, daß symbolisch etwas ist, was für etwas anderes steht; was auf komprimierte Weise etwas Verborgenes optisch, sprachlich oder szenisch ausdrückt. Politische Symbolik und symbolisches Handeln in der Politik sind dabei nie bloßes Abbild einer eindeutig vorfindlichen Realität. Vielmehr stellen sie Vehikel für die Darstellung ebenso wie für die Vorstellung, für die Vermittlung ebenso wie für die Wahrnehmung von Realität dar. Sie sind "Brücke des Verstehens" (Oelkers/ Wegenast 1991), Teil der "politischen Deutungskultur" (Rohe 1987)), unseres politischen Interpretationshaushaltes also. Die gängige Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbolen bzw. zwischen "Verweisungssymbolen", die als neutral - weil auf objektive Tatbestände verweisend - gelten, und emotionalisierenden "Verdichtungssymbolen" (Edelman 1976: 5 ff.) ist sicherlich für den sozialwissenschaftlichen Analyseprozeß sinnvoll. Doch so scheinbar objektive Daten wie die Bekanntgabe und Kommentierung der neuesten Arbeitslosenstatistik oder die turnusmäßigen Gutachten zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage machen deutlich, daß aus einem eindeutig erscheinenden Verweisungssymbol im politisch-strategischen Verwendungszusammenhang sehr schnell ein Verdichtungssymbol werden kann. Denn selbst amtliche Daten oder Gutachten sind interpretationsfähig und in einer pluralistischen Demokratie auch darstellungs- und interpretationsbedürftig. So mutiert nicht selten der vermeintlich schlüssige Kausalnachweis im politischen Kommunikationsprozeß zum jeweils unterschiedlich akzentuierten politischen Deutungsangebot. Die Sachverhaltsdarstellung verbindet sich mit politischer Positionsfixierung und erlaubt somit durchaus unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen.

    Politik ist nun einmal nicht "pur", gleichsam zum Nennwert zu haben, politisches Sein ohne "Design" nicht vermittelbar. Problematisch wird die Sache allerdings dann, wenn das "politische Design" zu sehr den Blick auf das politische Sein trübt bzw. politisches Sein ersetzt. Dieses Problem ist historisch gesehen nicht neu. Es existiert, seitdem politische Herrschaft ausgeübt und über kommunikative Mittel zur Durchsetzung von Politik theoretisch reflektiert wird (Münkler 1993). Sich mit dieser Gefahr auseinanderzusetzen, gebietet allerdings schon der Anspruch einer demokratischen Politik, die gerade auf die Legitimation durch gelingende Kommunikation, auf die zustimmende Resonanz einer demokratischen Öffentlichkeit angewiesen ist. Zudem läßt sich schwerlich bestreiten, daß sich auch Reichweite und Wirkungspotential Symbolischer Politik mit dem "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Habermas 1971) geändert haben. Denn demokratische Öffentlichkeit rekrutiert sich nicht mehr aus den elitären Zirkeln eines kritisch räsonierenden Bürgerpublikums, das in Sorge um das Gemeinwohl zusammentrifft. Sie ist wesentlich das Ergebnis wohlorganisierter Prozesse zur Erzeugung von Massenpublizität durch Entfaltung demonstrativer und vielfach auch manipulativer Publizität.


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