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Volker Rühle

Die Darstellungsform der Erinnerung

Über die Schwierigkeit, "aus Geschichte zu lernen"

4. Umkehrung des Bewußtseins

Eine solche Vergegenwärtigung und die ihr entspringende Erfahrung überfordert die diskursive Sprache theoretischer Re-präsentation und Re-konstruktion, die sich immer schon einer Distanz zum Dargestellten und damit zu dessen gegenständlichem Vorhanden- und Vergangenseins versichert hat. Muß eine derart theoretische Haltung gegenüber der Geschichte, wie sie auch das Alltagsbewußtsein kennzeichnet, der Vergänglichkeit ihres vermeintlichen Gegenstandes gegenüber nicht ebenso sprachlos bleiben, wie es eine "Theorie des Todes" gegenüber dem ihren wäre?

Im Andrang des Ausgeschlossenen und Verdrängten, dessen Vergessen eine Bedingung des sichtbaren Horizonts dessen ist, was der Begriff "Gegenwart" jeweils einschließt, im Andrang der gewesenen Möglichkeiten beginnt sich diese Distanz jedoch aufzulösen - und mit ihr die festumrissenen Konturen einer im Grunde immer schon zur Vergangenheit gewordenen Gegenwart: "Es giebt eine unbewußte Selbstbehütung, Vorsicht, Verschleierung, Schutz vor der schwersten Erkenntnis: so lebte ich bis jetzt. Ich verschwieg mir etwas; aber das rastlose Heraussagen und Wegwälzen von Steinen hat meinen Trieb übermächtig gemacht. Nun wälze ich den letzten Stein: die furchtbarste Wahrheit steht vor mir."7 Nietzsche nennt seine Mitteilung dieser Erfahrung, von der er im übrigen zweifelt, ob sie überhaupt verstehbar sei, "ohne Ähnliches erlebt zu haben" (StA 3, 345), eine "Beschwörung der Wahrheit aus dem Grabe": "Wir schufen sie, wir weckten sie auf... Wir ringen mit ihr - wir entdecken, daß unser einziges Mittel, sie zu ertragen, das ist, ein Wesen zu schaffen, das sie erträgt" (StA 10, a.a.O.). Das schöpferische Paradoxon dieser Erfahrung besteht darin, daß in ihr ein Erleiden und die produktive Antwort auf es ununterscheidbar und einander in doppeltem Sinn hervor-bringend verschränkt sind8.

Es ist nun gerade diese Verschränkung aller Hervorbringungen mit einem Leiden und der Unausweichlichkeit ihres Vergehens, was der geschichtlichen Erfahrung zugleich das Siegel der Notwendigkeit, d.h. von Wahrheit einprägt, einer Wahrheit, die indessen der unausweichlichen Sprach- und Mitteilungsform einer schöpferischen Antwort bedarf, um sich nicht sogleich wieder im nihilistischen Zerfließen der Augenblicke zu verlieren. In der Unausweichlichkeit einer Antwort auf Vergänglichkeit liegt auch das Recht des historischen und willkürlichen Gedächtnisses begründet, aber jetzt ist die Konstellation von Darstellung und Dargestelltem verändert, und auch die Mitteilungsform, anders als die der Theorie, gleichsam verzeitlicht: Zeit ist nicht der Gegenstand der Darstellung, was sie nur als lineare Abfolge sein kann, sondern - als Gegenwart einer labyrinthisch verdichteten Zeiterfahrung - ihr Element. Wie auch der Traumtext verweist ihre Darstellung - gleich aus welchem Material sie gebildet ist - stets über die Grenzen ihrer manifesten Botschaft hinaus: auf die Möglichkeit, Wirklichkeit und Unausweichlichkeit eines in ihr nicht bruchlos aufgehenden Endes, das ihr Beginnen nicht vorwegnehmen, ja nicht einmal thematisch ansteuern kann. Vom letzten Wort eines Textes, dem letzten Pinselstrich eines Bildes oder auch dem letzten Atemzug ist nie vorher gewiß, daß es auch der letzte sein werde; dann aber war es das gerade ihm zukommende, seine Entwicklung abschließende Ende gewesen, auf das diese von Anfang an mit einer Konsequenz zugelaufen war, die sich linearer Konstruktion und nachträglicher Rekonstruktion entzieht.

Eine solche Darstellung, deren Vollzug mit der Erfahrung des Dargestellten zusammenfällt und sich mit ihr vollendet, gilt nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, einem Sujet. Zunächst und vor allem entspricht sie einer Erfahrung der Veränderung und des unwillkürlichen Einbruches unverfügbarer Möglichkeit ins Gewohnte. "Umkehrung des Bewußtseins" nennt Hegel einmal die nicht mehr von einem ich als Urheber ausgehende und von seinen Sinnerwartungen kontrollierte, sondern dieses selbst ergreifende Erfahrung einer Negativität, in der sich Selbst und Gegenstand, wie auch ihre feststehende Zuordnung, unversehens in eine gewesene Möglichkeit auflösen. Ist diese fundamentale Fraglichkeit einmal erschlossener Wirklichkeit der Ausgangspunkt aller schöpferischen Darstellung, so ist sie dies aber in keinem Fall unmittelbar schon als Befreiung - wie dies heute etwa in den geläufigen Ausrufungen des Endes "der Geschichte", "des Subjekts", "der Philosophie", "der Kunst" usw. als anscheinend fröhlicher Erkundung neuer Welten anklingt -, sondern zunächst als Verlusterfahrung. Hegel spricht von einer "Verzweiflung an den sogenannten natürlichen Vorstellungen, Gedanken und Meinungen"9, der eine Konkretisierung neuer Sinnmöglichkeiten nicht einfach folgt, sondern der sie erst abzugewinnen ist: durch Erinnerung, die sich jener Negativität, jenen Versäumnissen und Ausschlußverhältnissen aussetzt, die unverfügbar jederzeit in die Gegenwart einmünden und die in Zeiten der Auflösung unerwartet aus ihr hervorbrechen können.

5. Ohne Überraschung

"Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, `angereichert' von all dem."10

Eine Erinnerung, wie sie Paul Celan hier andeutet, setzt den linearen Zeitverlauf nicht einfach fort, sie unterbricht ihn, wie die ihr zugrundeliegende Erfahrung der Verzweiflung ihn unterbrochen hatte. Deshalb entzieht sich ihre Mitteilungsform auch einer vorschnellen Integration in vorhandene Bewußtseinshorizonte. Sie hat für diese keine "Botschaft" - die ohnehin ihren Adressaten nie erreichte -, weil sie die Erfahrung jenes Verstummens, die sie mitzuteilen hätte, nur evozieren, einem möglichen Wiedererkennen anheimstellen kann. Im Gehalt ihrer Mitteilung hebt sich die Darstellungsform der Erinnerung gleichsam in eine Haltung gegenüber der Vergangenheit auf, welche die Gegenwart nun - im Sinne von Benjamins Grundgedanken - als deren Adressaten begreift und nicht unmittelbar schon als ihre Fortsetzung.

Damit ist ein - wie die ihr zugrundeliegende Zeiterfahrung - paradoxales Verhältnis von künstlerischer Darstellung und Lebenspraxis angesprochen, das diesseits der Alternative bleibt, entweder als "schöne Kunst" vom Druck der Wirklichkeit spielerisch zu entlasten, oder, wie immer noch von den Ausläufern der Avantgarde gefordert, unmittelbar ins praktische Leben einzugehen. Zu groß ist die Nähe solcher Darstellung als geschichtlicher Erfahrung und Erinnerung zur augenblicklichen Wirklichkeit, um der ersten, und zu groß die Distanz zu den Sinnerwartungen dieser Wirklichkeit, um der zweiten Forderung zu genügen.

Und damit treffen meine Überlegungen nun auf ihren aktuellen Anlaß, die Verhüllung des Reichstagsgebäudes: Wo sich die Darstellungsform mit der aufklärerischen Intention der Avantgarde eines historischen Gegenstandes bemächtigt, da unterliegt sie bereits der Gefahr, daß ihr diese Intention zur allzuleicht entzifferbaren Botschaft gerinnt: zu einer Botschaft, an der sich nicht so sehr neue Sinnerwartungen entzünden, als vielmehr bestehende abarbeiten können - und geschehe dies auch in noch so kontroverser Form. Denn eher, als daß sie bestehende Sichtweisen auf Vergangenheit verstört, dürfte die dezisionistische Auswahl eines historischen Objekts jene Einstellung bestärken, derzufolge Erinnerung einer mehr oder weniger willkürlichen Wahl des Gedächtnisses entspringt. Auch wenn es dieser Aktion dann gelänge, das Objekt ihrer Wahl in avantgardistischer Manier aus seinem unmittelbar geläufigen Kontext qua Verfremdung in den einer kontroversen Auseinandersetzung zu verschieben, so bliebe doch der Kontext dieser Verschiebung selbst, blieben die wie immer auch vielfältigen Sinnerwartungen der Gegenwart an ihre Vergangenheit von dieser Verfremdung unberührt. Aufgrund der mehr oder weniger willkürlichen Intention, die ihrer Wahl zugrundeliegt, wird diese, eher als daß sie die Erwartungen befremdete, ja ihnen zuwiderliefe, für sie zum Anlaß, sich einmal mehr selbst darzustellen: Für die Erinnerung als Aktion und absichtsvolle Gedächtnisleistung ist Gegenwart nicht der Adressat der Vergangenheit, sondern ihr Absender - und keine Kunst wird dann noch verhindern können, daß dieser sie in politische Botschaft ummünzt.

Literatur?????


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