Der Reichstag um 1900
Archiv Cullen
Natürlich ist der Traum kein Mittel, um der Botschaft habhaft zu werden, deren Wortlaut sich der schon kraftlose Kaiser zur Sicherheit eigens noch einmal hatte wiederholen lassen. Und doch teilt sich in ihm etwas von ihr mit, und hier und nur hier, wenn auch noch so flüchtig, begegnen sich die Intention des Kaisers mit der des Träumenden.
Auf diesen kleinen Text, der doch eindeutig von der Aussichtslosigkeit des träumenden Wartens auf die kaiserliche Botschaft zu berichten scheint, fällt ein anderes Licht, wenn wir ihn mit einigen Überlegungen in Verbindung bringen, die Pavel Florenskij, russischer Philosoph und orthodoxer Priester, 1922 in seinem Versuch einer Theologie der Ikone zur Traumarbeit als Gleichnis künstlerischer Tätigkeit anstellt2.
Ausgehend von der geläufigen Beobachtung, daß ein beliebiges äußeres Ereignis, wie eine zuschlagende Tür, im Traum in verwandelter Form, etwa als ein Schuß, erlebt werden kann, richtet Florenskij seine Aufmerksamkeit darauf, daß dieses zufällige Zusammentreffen von Tages- und Traumereignissen eine im Grunde sehr merkwürdige Koinzidenz der den Traum bestimmenden Zeitfolge mit dem Fortgang kausal erklärbarer Tagesereignisse beinhaltet. Denn die infolge eines geöffneten Fensters zuschlagende Tür, die wiederum die Ursache für das Erwachen ist, unterbricht, so Florenskij, den Traum keineswegs wie ein sinnlos von außen einfallender Lärm, sondern wird als Schuß zu einem Traumereignis, das dessen eigene Konsequenz abschließt. Was für das Tagesbewußtsein die äußerliche Ursache des Erwachens ist, stellt sich im Traum in gleichsam umgekehrter Zeitrichtung als Konsequenz und Abschluß von dessen nicht kausal beschreibbarer Ereignisfolge dar. Es ist, als hätte die Entwicklung der Traumbilder mit der ihr eigenen Logik auf dieses für sie unvorhersehbare und für das Tagesbewußtsein ganz zufällige Ereignis des Knalles zugesteuert. Ihr Beginn wäre dann nicht die Ursache des Traumfortganges, sondern eher die Anlage einer Möglichkeit, die dann im Schuß, der die Traumentwicklung vollendet, ihre konsequente Verwirklichung findet. Der Abschluß des Traumes, der Knall, wäre das, was die Traumentwicklung in ihrer Konsequenz letztlich bestimmt, und ohne sie, die doch vor dem Ereignis des Knalles schon eingesetzt hatte, wäre dieser, wie unzählige andere Geräusche auch, gar nicht in das Bewußtsein vorgedrungen. "Also", so Florenskijs Folgerung, "eilt im Traum die Zeit - und zwar beschleunigt - der Gegenwart entgegen, gegen die Bewegung der Zeit im Wachbewußtsein. Sie ist umgestülpt, und folglich sind zugleich mit ihr auch alle konkreten Bilder umgestülpt. Das heißt aber, daß wir in das Gebiet des imaginären Raums übergewechselt sind" (46).
Während wir die Gegenwart im Wachbewußtsein - das auf seine Weise ebenfalls einen imaginären Raum beschreibt - kausal aus Gewesenem herleiten, ist sie in der Traumerzählung eine unvorhersehbare Neuigkeit, mit der eine Geschichte nicht anfängt, sondern ausklingt und mit der sie ihren Sinn und ihre Vollendung erhält. Im Licht dieses Endes erscheint das Erwachen, das wir kausal auf den Knall zurückführen, als Bruch, als etwas gänzlich Neues und gewissermaßen als Anfang einer anderen Geschichte.
Wohl jeder Historiker weiß, daß das Problem, die erlebte und erlittene Geschichte mit der historia ipsa, der Universalgeschichte, in einen mitteilbaren, intersubjektiven Zusammenhang zu bringen, immer nur einer flüchtigen, selbst historischen Lösung zugeführt werden kann. Um die Einheit "der" Geschichte zu wahren - die unabdingliche, wenn auch nicht immer thematische Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung - bedarf es theoretischer Prämissen und Konstruktionen, welche die Vielfalt erlebter Geschichten über die jeweiligen Erlebnisse und Erinnerungen des Historikers hinweg aufeinander beziehbar machen. In ihrem Licht erscheint uns Zeit als ein fortlaufendes leeres Kontinuum, in das vergangene Erfahrungen eingetragen und in dem neue Erfahrungen gesammelt werden können: "Die Transposition ehemals unmittelbarer Erfahrungen in historische Erkenntnis - und sei es die registrierte Durchbrechung eines vergangenen Erwartungshorizontes, die den überraschenden Sinn freigibt - bleibt immer der chronologisch meßbaren Abfolge verpflichtet."4 Das Zeitkontinuum des Vorher-Nachher, das dem Historiker hier die Rekonstruktion vergangener wie auch das "Sammeln neuer Erfahrungen" (a.a.O.12) gewährleistet, spannt Erfahrungsprozesse in den Rahmen theoretischer Konstruktionen ein, die es gestatten, den Verlauf solcher Prozesse stets schon als Akkumulation zu erfassen, und die selbst Unerwartetes von vornherein einem "Sinn" integrieren, der sie dem Fortschritt historischer Erkenntnis dienstbar macht.
Dem Begriff des Neuen, den solche methodischen Prämissen gerade noch freilassen, widerspricht indessen schon die um sich greifende Erfahrung, daß das, was wir seit dem 18. Jahrhundert uns angewöhnt haben, "Fortschritt" zu nennen, nicht nur Möglichkeiten, sondern zugleich Notwendigkeiten freisetzt, unter denen sich Handlungsspielräume zunehmend verengen. Keineswegs entspricht die Zentralperspektive des historischen Bewußtseins, das die Darstellungen seiner Gegenstände dem gemeinsamen Maß theoretischer Konstruktionen unterstellt, einer "natürlichen" Geschichts- oder Zeiterfahrung. Auch ihm ist die Erfahrung des Ablaufens von Zeit, des Alterns und der unwiderruflichen Flüchtigkeit seiner Darstellungen eingeschrieben, auch wenn sich dies seinen methodischen Prämissen nicht unmittelbar ablesen läßt. Die paradoxe Erfahrung des Werdens, in der sich die fortlaufende Zeit in jedem Augenblick mit der gegenläufigen Bewegung des unwiderruflichen Ablaufens verschränkt, läßt sich nicht einfach in Abstraktion von der unverfügbaren Erfahrung der Vergänglichkeit konstruieren, über die der Historiker methodisch hinweggreift. Wenn sie sich auch historischer Thematisierung entzieht, so bleibt ihr doch eingekerbt, daß diese stets zugleich Rekonstruktion und selbst vergänglicher Ausdruck solcher Erfahrung ist, beides sich aber nicht mehr methodisch und vorübergehend überbrücken läßt. Das heißt, daß sich die "sprachliche Verarbeitung" historischer Abläufe (a.a.O. 264) keineswegs methodisch gegen jenes radikal Neue absichern läßt.
Insofern die moderne Geschichtsschreibung stets das Wozu und Wohin geschichtlicher Prozesse zu ihrem Gegenstand macht, ist ihrer Erkenntnis eine Zeitrichtung vorgeschrieben und eine Grenze gezogen, die ein mögliches "Lernen aus Geschichte" auf Variationen des aus der experimentellen Naturwissenschaft bekannten Themas "trial and error" beschränkt: auf Erfahrungen also, die wir in einem konstruktiven und willkürlichen Sinn "machen" und - die Spreu vom Weizen trennend - akkumulieren können.
Dieser von vornherein methodisch gesicherte und kontrollierte Erfahrungsbegriff zieht der Erfahrung und der ihr eigenen, nicht beherrschbaren zeitlichen Dynamik von Fortschreiten und Vergehen den Stachel ihrer Negativität. Denn das ihm zugrundeliegende Zeitmodell gewährleistet, daß die erinnerte Zeit stets dem Verlauf der gegenwärtigen Zeiterfahrung konform ist, und daß das Erinnerte sich den geläufigen Sinnerwartungen stets bruchlos einfügen läßt. Akkumulierte Erfahrung und der Erinnerungsbegriff, den sie beinhaltet, arbeiten insofern der Lebenszeit, d.h. der Erfahrung eines Werdens entgegen, in das unwiderruflich ein Ablaufen und Enden eingewoben sind, so daß sich fortschreitendes Wachstum und Sterben in gegenläufiger Verschränkung und doch ununterscheidbar in jedem Moment durchdringen. Es geht also um eine Zeiterfahrung, die, wenn überhaupt, in einem anderen Sinn verallgemeinerbar ist als die theoretische, von der Lebenszeit abstrahierende Konstruktion, die von vornherein für alle möglichen Zeiterfahrungen gleich zu gelten beansprucht.
Wenn Reinhart Koselleck fordert: "Um die Einheit der Historie als Wissenschaft zu wahren, müssen theoretische Prämissen entwickelt werden, die sowohl vergangene und völlig anders geartete als auch eigene Erfahrungen abzudecken fähig sind" (a.a.O. 131), dann müßte ein Blick auf das dabei Abgedeckte: auf die Andersheit und das Befremdende einander mitteilender Erfahrungen, sich einlassen auf eine labyrinthische Vielfalt nicht aufeinander reduzierbarer Zeiterfahrungen, deren Gemeinsames und mithin deren Mitteilbarkeit in jener paradoxalen Erfahrung des Werdens gründen, das zugleich ein Sterben ist. Denn gerade der Tod, die Vergänglichkelt von Erfahrung, also das, was sie in jedem Moment radikal und unwiederholbar vereinzelt, ermöglicht zugleich ihre Mitteilbarkeit. Diese bedarf gar keines Mediums, das, stets einseitig unter bestimmten Zeitbedingungen entworfen, anders gearteten Erfahrungen immer nur subsumtiv begegnen kann. Mitteilbar sind Erfahrungen nicht innerhalb des selbst flüchtigen Konstrukts einer "Geschichte überhaupt", sondern genau genommen nur im Medium der Ewigkeit, d.h. in einer gleichsam sich auflösenden, gegenläufig erfahrenen Zeit, wie sie sich für Marcel Proust in der unwillkürlichen, zu künstlerischer Darstellung verdichteten Erinnerung bekundet: "Die Ewigkeit, in welche Proust Aspekte eröffnet, ist die verschränkte, nicht die grenzenlose Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in seiner realsten, das ist aber verschränkten Gestalt, der nirgends unverstellter herrscht als im Erinnern, innen, und im Altern, außen."5
Darstellbar und mitteilbar wäre Ewigkeit - Walter Benjamin zufolge - als Vergänglichkeit oder in der Erinnerung als einer unwillkürlichen, nicht konstruierbaren Gleichzeitigkeit zweier heterogener Augenblicke. Erinnerung bekundet sich dann als ein unversehens in die Gegenwart einbrechendes Wiedererkennen in einem Vergangenen, als plötzliches Aufblitzen einer das Zeitkontinuum unterbrechenden Gleichzeitigkeit, die ein befremdendes Licht auf die mit einem Mal in ihrer Vergänglichkeit sichtbare Gegenwart wirft: "Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, `wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt." Die Gefahr, auf die Benjamin in der sechsten seiner geschichtsphilosophischen Thesen hinweist, ist die des "Konformismus": die Überwältigung der Vergangenheit, die einer Erinnerung die Sprache zu nehmen droht, welche die Gegenwart in einem befremdlichen Licht zeigen könnte. Denn das Neue, das nicht von vornherein nur eine Verlängerung bekannter Perspektiven böte, ist nicht in der Zukunft zu erwarten, sondern einer Erinnerung abzugewinnen, in der diskontinuierliche Zeitmomente, so fern sie einander chronologisch auch sein mögen, in einem unwillkürlichen Wiedererkennen zusammentreten. Es ist keineswegs bereits das Verwirklichte und Erreichte, das uns vor wirklich neue, nicht schon aus unserem Bild der Gegenwart folgende Möglichkeiten stellt, sondern die Vergegenwärtigung des Versäumten und aus diesem Bild Ausgeschlossenen.
In fortschreitender Zeiterfahrung vergrößert sich die Entfernung zur Vergangenheit schneller, als die Gedächtnisleistung sie retrospektiv zu überbrücken vermöchte: die Botschaft, die mitteilte, wie es denn wirklich gewesen sei, käme unweigerlich zu spät. Es gibt für sie keinen geraden, linear rekonstruierbaren Weg in die Gegenwart, müßte sie sich doch - ähnlich wie der kaiserliche Bote in Kafkas Erzählung, vor dem sich die Hindernisse in den Himmel türmen - durch Labyrinthe von verwirklichten Möglichkeiten kämpfen, von denen in jedem Moment unüberschaubare versäumte und vergessene Möglichkeiten abzweigen, die doch jederzeit überraschend wieder in die Bahn des Verwirklichten einmünden oder sie unterbrechen können. Ausgeschlossenes und Vergessenes konstituiert, bestimmt und begleitet eine Erfahrung doch ebenso, ja vielleicht nachhaltiger, als die ihr intentional zugrundeliegenden Absichten und deren praktische Durchführung.
"Ich hinterlasse den verschiedenen Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade, die sich verzweigen", schreibt in Jorge Luis Borges' Erzählung6 der Weise Ts'ui Pen kurz vor seinem Tod, und er meint damit einen unvollendbaren, weil in seiner Konsequenz ins Leben des Autors wie seiner Leser einmündenden labyrinthischen Roman, der allen möglichen Verlaufsformen seiner Handlung und wiederum deren möglichen Verzweigungen nachzugehen versucht, ein Buch, in dem das Wort "Zeit" deshalb nicht vorkommt, weil es unternimmt, Zeit darzustellen.
Dem intentionalen Gedächtnis, das Moment an Moment reiht, entspricht eine theoretische Darstellungs- und Lebensform, die in der Erwartung lebt, daß sich Erfahrungen in der Zukunft bestätigen, daß sie jener einmal gemachten und willkürlich befestigten Zeiterfahrung ebenso konform sind, wie das, was ihre Gedächtnisleistung erbringt. So entgeht ihm, daß es stets auch ein Vergehen, eine Negativität ist, die einem neuen Augenblick zur Gegenwart verhilft, so daß Gegenwart niemals nur das ist, was einem vergangenen Augenblick folgt, sondern selbst immer schon die Anzeichen dieses Vergehens und die Züge des Vergangenen trägt: mithin eine latente Koexistenz, eine virtuelle Gleichzeitigkeit von Gegenwart, Vergangenem und Vergessenem, dem die Erinnerung Rechnung zu tragen hat, eine Latenz, aus der sich das Folgende stets mit ungewissem, nicht intendierbarem, aber am Ende konsequentem Ausgang zeitigt.
Lernprozesse mit offenem Ausgang, denen das Eintretende nicht von vornherein schon in einen vorhandenen Sinnhorizont integrierbar ist, bedürften demnach einer Erinnerung, die imstande wäre, der Vergangenheit jene Dimension unverfügbarer Möglichkeit zurückzugeben, die sie als Gegenwart einmal hatte und die sie allein dem willkürlichen Zugriff aller möglicher Interpretationsversuche entwinden könnte. Denn angesichts der methodisch unterstellten Gegenständlichkeit, und das heißt: der virtuellen Verfügbarkeit von Vergangenheit stellen auch noch so strenge Rationalitätskriterien willkürlichen Manipulationen stets nur flüchtig errichtete Hindernisse entgegen. Nur die Erinnerung trägt zugleich die Signatur der Notwendigkeit, und das heißt der Erfahrung, die imstande ist, die noch unabgegoltene und befremdende Dimension des Vergangenen zu evozieren, jenen Moment des Werdens und der Ungewißheit, der ihrer Gerinnung zum rekonstruierbaren Ereignis vorhergeht und stets innewohnt: "denn ein erlebtes Ereignis ist endlich, zumindest in der einen Sphäre des Erlebens beschlossen, ein erinnertes schrankenlos, weil nur Schlüssel zu allem was vor ihm und zu allem was nach ihm kam." (W. Benjamin a.a.O. 336) Jedes Ereignis, und sei es noch so gering und noch so tief ins Unbewußte abgesunken, kann sich jederzeit unversehens als ein solcher Schlüssel erweisen. Die "strenge Webevorschrift", von der Benjamin in diesem Zusammenhang spricht, welche die Erinnerung als ein unwillkürlich einbrechendes Wiedererkennen mit der Vergangenheit verbindet, diese Strenge ist von anderer Art, als sie methodische Prämissen willkürlich den Ereignissen erteilen. Nur die Darstellung entspricht ihr, die sich gegenläufig zum Zeitverlauf der Ereignisse den Erfahrungen der Auflösung, der Verdrängung und des Vergessens eher aussetzt, als daß sie ihnen willkürlich folgt: Jener Negativität, deren Konsequenz in die Gegenwart einmünden mußte - sie ermöglichend und ihr die Zeichen der Vergänglichkeit mitteilend.