Die Analyse der DFG zur Situation im Bibliothekswesen und künftigen Anforderungen an die Bibliothekssysteme
Jürgen Bunzel
Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bonn-Bad Godesberg
DMV-Workshop, Osnabrück 20. Juni 1995
Ich werde zunächst
Die Förderung von wissenschaftlichen Bibliotheken gehört seit ihrer Gründung mit zu den Aufgaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Die meisten von Ihnen werden das Sondersammelgebietssystem der DFG kennen.
Auch die Zentralen Fachbibliotheken, z.B. die Technische Informationsbibliothek in Hannover, sind durch die DFG initiiert und in ihrer Aufbauphase durch die DFG mitfinanziert worden.
Zuständig für diese Aufgaben ist unser Bibliotheksausschuß.
Für Fragen der Bibliotheksdatenverarbeitung hat der Bibliotheksausschuß einen eigenen Unterausschuß eingesetzt.
Dieser Unterausschuß für Datenverarbeitung und Kommunikationstechniken kann die Entwicklung der Bibliothekssysteme im wesentlichen durch 3 Instrumente mit gestalten :
Als zentrale und auch personalintensivste Aufgabe der Bibliotheken gilt dabei die Katalogisierung der Bücher und Zeitschriften.
Datenverarbeitung wurde daher in erster Linie zum kooperativen Aufbau gemeinsamer Katalogdatenbanken genutzt. Ziel war es, jedes beschaffte Buch möglichst nur einmal zu katalogisieren.
Aufgrund der Länderstruktur wurde dieses Prinzip auf regionaler Ebene umgesetzt, was zum Aufbau von 7 regionalen Bibliotheksverbundzentren geführt hat.
Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die getrennte Entwicklung von Bibliotheken und Fachinformationssystemen in Deutschland. Für den Benutzer bedeutet das, daß eine bibliographische Recherche, die sowohl Fachaufsätze in Zeitschriften als auch selbständige Publikation umfassen soll, grundsätzlich in zwei ganz unterschiedlich strukturierten Systemtypen erfolgen muß.
Offensichtlich mußte daher eine System-Modernisierung stattfinden.
Der DFG-Unterausschuß für Bibliotheksdatenverarbeitung veröffentlichte 1991 Empfehlungen, in denen Ansatzpunkte für eine solche Modernisierungspolitik vorgeschlagen wurden.
Die Umsetzung dieser Empfehlungen hat nach entsprechenden Abstimmungen in der Fachgemeinschaft einen breiten Konsens gefunden.
Hierzu wurde gefordert:
Insbesondere SR / Z39.50 haben wir im deutschen Bibliotheksbereich von Beginn an stark unterstützt, und liegen dadurch heute auch im internationalen Vergleich durchaus gut.
Dies geschah unter der Überschrift OSI, die auch heute noch - etwa im Projekt DBV/OSI gilt. Auf der Implementierungsebene hat man sich aber nie einseitig auf OSI-Protokolle eingeengt. Die TCP/IP-Standards wurden sehr frühzeitig als gleichwertige Losungen mit berücksichtigt.
Dies gilt insbesondere für die lokalen Systeme.
Die meisten Hochschulbibliotheken installieren gegenwärtig Systeme der 2. Generation. Zumindest gibt es definierte, begutachtete und finanzierte HBFG-Beschaffungsprogramme für diese Systeme in allen westlichen und den meisten östlichen Bundesländem.
Systeme der 2. Generation meint hier lokale Bibliothekssysteme, die die wesentlichen im Rahmen der System-Modernisierungspolitik geforderten Funktions-Module enthalten, also:
CD-ROM Netze, die vor allem den Zugriff auf Fachinformations-Datenbanken in die Bibliothekssysteme integrieren sind in einer Reihe von Bundesländem flächendeckend eingeführt worden. Zum Teil wird von diesen Netzen auch der direkte Zugang zum INTERNET für Bibliotheksbenutzer eröffnet.
Erwerbung wird von den meisten Bibliotheken gewünscht, ist aber ähnlich wie Management & Verwaltung bislang erst selten implementiert.
Insgesamt muß man darauf hinweisen, daß die einzelnen Module zumeist in mehrjährigen Ausstattungsprogrammen zeitlich gestaffelt eingeführt werden. Und man muß betonen: es handelt sich hier um noch laufende Maßnahmen. Es gibt also derzeit immer noch eine Reihe deutscher Hochschulbibliotheken, in denen gegenwartig OPACs und vereinzelt sogar Ausleihverbuchungssysteme noch nicht eingeführt sind.
Systeme mit den beschriebenen Eigenschaften werden jedoch in naher Zukunft an den meisten Hochschulstandorten im Einsatz sein.
Dennoch sind auch bei den Verbundsystemen wesentliche Fortschritte festzustellen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Reduktion der bisherigen Systemvielfalt und der Verbesserung der überregionalen Kompatibilität:
Von den 16 Bundesländem nutzt heute die Hälfte PICA-Systeme für Verbundanwendungen. Die andere Hälfte wird von 4 Verbundsystemen mit 3 verschiedenen Systemvarianten bedient.
Es ist unbestritten, daß diese 3 Systemtypen alle in den nächsten Jahren abgelöst werden müssen. Es besteht also die große Chance, jetzt einen weiteren wegweisenden Schritt zur Verbesserung der Bibliothekssysteme in Deutschland zu tun.
Der Anteil wissenschaftlicher Informationen, der vom Endnutzer heute direkt über das INTERNET bescham werden kann, ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Ebenso das Angebot der Verlage an elektronischen Publikationen.
Diese Entwicklungen müssen gravierende Auswirkungen auf die wissenschaftlichen Bibliotheken als traditionelle Informationszentralen der Hochschulen haben.
Der Bibliotheksausschuß der Deutschen Forschungsgemeinschaff hat sich hierzu jüngst in zwei Memoranden geäußert:
Das bedeutet vor allem, daß alle Bibliotheksdienstleistungen zukünftig im wesentlichen über Datenkommunikationsnetze vom Arbeitsplatz des Benutzers oder auch von zu Hause aus zugänglich sein müssen.
Der Benutzer-PC wird zum wesentlichen Zugangs- und Service-Punkt für Bibliotheksdienste. Und zwar betrifft dies sowohl
Durch die Ausrichtung auf Client-Server Architekturen sind die Bibliothekssysteme hierfür auch grundsätzlich gut vorbereitet.
Der Fernzugriff auf viele Bibliothekskataloge ist heute bereits vielfach über TELNET-Verbindungen oder experimentelle WorldWideWeb-Server möglich. Bisher haben diese Angebote jedoch eher experimentellen Charakter. Erforderlich sind
Ein zweites wesentliches Thema ist die Digitalisierung der Bibliotheksbestände selbst.
Bisher bieten Bibliotheken im wesentlichen ihre Kataloge elektronisch an. Die heute verfügbaren Speicherka pazitäten machen es aber möglich
So sollten z.B. Current-Contents-Dienste, Abstracts, Inhaltsverzeichnisse, Titelblätter und Indizes zukünftig in die Bibliothekskataloge mit einbezogen werden.
Bibliotheken, vor allem in den USA und Frankreich, haben bereits intensiv damit begonnen ihre Bestände auf digitale Träger zu reformatieren.
Die digitale Speicherung einer Bibliothek von 1 Mio. Bänden erfordert bei Image-Scanning und angenommenen 200 Seiten pro Band einen Speicherbedarf von ca. 20 TeraByte, d.h. etwa 10.000 Digital Audiotypes. Die Kosten des Speichermediums liegen bei rd. 200 TDM, der Platzbedarf bei ca. 20 qm.
Die Digitalisierung der historischen Bibliotheksbestände ist auch deswegen erforderlich, weil viele Bücher vor allem ab 1830 durch säurehaltige Papiere stark vom Zerfall bedroht sind und ohnehin auf neue Träger überführt werden müssen um in der Zukunft nutzbar zu bleiben.
Elektronische Publikationen und Multimedia verändern die traditionellen Formen der Zusammenarbeit zwischen Bibliotheken, Verlagen und Buchhandel.
Zwei Bereiche sind zu unterscheiden:
Probleme liegen
Grundsätzlich bieten die elektronischen Publikationen für Verlage ganz neue Möglichkeiten der Konfektionierung und des Vertriebes.
In den USA laufen bereits mehrere Pilotprojekte zur elektronischen Dokumentlieferung durch Verlage (CARL, UNCOVER). Die Bibliotheken übemehmen hierbei die Rolle eines Vertriebskanals für Verlagsprodukte.
Von großem Interesse ist auch das kürzlich bekanntgegebene neue Publikationskonzept der Association of Computing Machinery (ACM).
Solche neuen Vertriebsformen können erhebliche Auswirkungen auf die finanzielle Organisation des Bibliothekswesens haben, z.B. durch nutzungsbezogene Entgelte.
Die DFG votiert in ihren Empfehlungen zu elektronischen Publikationen dafür, auch zukünftig eine über Bibliotheksetats finanzierte, also für den Endnutzer gebührenfreie Grundversorgung mit elektronischen Publikationen sicherzustellen.
Die hiermit verbundenen Vorteile hinsichtlich
Solche Systeme werden heute weitgehend unabhängig voneinander von den verschiedenen Fach-Communities, aber auch institutionell von Hochschulen, Bibliotheken und Rechenzentren aufgebaut.
Wichtig ist es hier, Experimente - auch unterschiedliche Experimente für die verschiedenen Fachgebiete - gezielt zu fördern.
Zugleich sollte aber auch ein Erfahrungsaustausch und die Kooperation zwischen den Expenmenten der verschiedenen Institutionen angeregt werden. Gemeinsame Rahmenbedingungen sind notwendig, damit eine wirkliche neue Struktur der wissenschaftlichen Informationsversorgung entsteht.
Die Vereinigten Staaten fördern dies derzeit gezielt mit einem großangelegten, von NSF, NASA und ARPA gemeinsam finanzierten Digital Libraries Programm.
Auch die Probleme, die mit der Nutzung dieser "Grauen" Literatur in elektronischer Form verbunden sind, können letztlich nur kooperativ und arbeitsteilig gelöst werden.
Da ist zunächst die Menge von Publikationen und Publikations-Urhebern, die bewältigt werden muß.
In den DFG-Ausschüssen ist wiederholt die Dringlichkeit eines Projektes zur kooperativen Erschließung der INTERNET-Dokumente angesprochen worden. Derzeit arbeiten hier Rechenzentren, Bibliotheken, Fachbereiche unkoordieniert und mit unterschiedlichen Konzepten. Zur Selektion, Klassifikation und Indexierung sind sicherlich fachbezogene Konzepte unerläßlich. Ebenso unverzichtbar sind aber auch gemeinsame Rahmenstandards und eine überregionale Arbeitsteilung. Aus Sicht der DFG müßte hier umgehend ein kooperatives Projekt initiiert werden, um diese Probleme gemeinsam durch Fachbereiche, Fachreferenten der Bibliotheken und Rechenzentren anzugehen.
Ganz neuartige Probleme entstehen durch die Ablösung der elektronischen Dokumente von ihrem stabilen Papier-Träger und durch die verteilte Speicherung im Netz. Zu nennen sind hier:
Der Nachweis von INTERNET-Ressourcen in den Bibliothekssystemen wird zukünftig ebenso zu den unverzichtbaren Aufgaben der Bibiotheken gehören wie der direkte Zugriff von der Katalogdatenbank auf INTERNET-Dokumente selbst.
Es bietet sich an, hierfür neue technische Lösungskonzepte durch die Kopplung von Bibliothekssystemen, Dokumentservern und Internet-Werkzeugen zu erproben. Denkbar wäre z.B. die automatische Einspeisung von INTERNET-Locators in Bibliotheksdatenbanken durch Indexierungssysteme, wie z.B. HARVEST.
Aus Nutzersicht wären auch direkte Zugangsschnittstellen zwischen Bibliothekssystemen und Dokumentservern sinnvoll.
Für den Einsatz der neuen Informationstechniken mit großen Dokumentkollektionen müssen daher in größerem Umfang Instrumente erst geschaffen werden, um eine Informationsüberflutung zu vermeiden.
Es gibt bereits vielfältige Ansätze für Suchmaschinen, Information-Alert-Systeme usw. im INTERNET. Sie tragen jedoch noch stark experimentellen Charakter. Es ist sicherlich lohnend, solche Ansätze durch gezielte Weiterentwicklungen für die Produktionssysteme der Bibliotheken nutzbar zu machen.
Sicherlich werden sich in den nächsten Jahren auch neue Datenbanktechnologien durchsetzen, wie etwa objekt-orientierte Datenbanken, die für den Multimedia-Bereich besonders geeignet sind.
Eine verstärkte Objektorientierung wird sich m.E. auch allgemein durch die Übertragung von Konzepten aus der Softwareentwicklung in Informationssysteme ergeben. Dokumente werden aus einzelnen Informationsobjekten zusammengesetzt werden, die individuell ansprechbar sind, und über spezielle softwaretechnisch abgebildete Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen. Der Zugriff wird dann nicht mehr nur auf Dokumente sondern auch auf die in Dokumenten enthaltenen Informationsobjekte gehen.
Diese und andere Bereiche waren Aufgaben für eine anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung.
Zunächst sind hier die Anstrengungen zur Beschleunigung der Fernleihe und der bibliothekarischen Dokumentlieferung zu nennen.
In einzelnen Bundesländem wurden in jüngster Zeit regionale Dokumentliefersysteme eingeführt, z.B. JASON in Nordrhein-Westfalen oder RAPDOC in Niedersachsen.
Die DFG selbst erprobt für ihre Sondersammelgebiete zur Zeit Schnellbestellsysteme unter dem Namen SSG/S (vgl. Dokumentlieferung für Wissenschaft und Forschung : Perspektiven der weiteren Entwicklung / Deutsche Forschungsgemeinschaft, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 41 (1994) 4, S. 375-392).
Einen gemeinsamen Rahmen für diese Einzelaktivitäten könnte die Bund-Länder Initiative SUBITO bieten.
Bei der Dokumentlieferung müssen sicherlich 3 Ansätze parallel verfolgt werden:
Das DBV/OSI Projekt, das der BMBF und die DFG gemeinsam fördern, wird aus unserer Sicht ein wesentlicher Meilenstein bei der flächendeckenden Veretzung der Verbundsysteme und insbesondere der Vernetzung von Bibliotheks- mit Fachinformationssystemen sein.
Der Verbund wird Anfang 1996 in den Probebetrieb gehen.
Hervorzuheben sind aus meiner Sicht zwei Gesichtspunkte:
Die 4 Nicht-PICA Verbünde streben die gemeinsame Entwicklung eines neuen zukunftsweisenden Verbundsystems an. Die DFG hat sie darin mit ihren neuen Empfehlungen zur "Migration der Verbundsysteme" nachdrücklich unterstützt.
Die DFG hat aber auch darauf hingewiesen, daß ein solches Projekt einerseits nur Sinn machen würde, wenn es gezielt auf die genannten neuartigen Anforderungen an Bibliothekssysteme ausgerichtet ist.
Andererseits ist ein solches Projekt anspruchsvoll und steht unter Erfolgszwang. Um es erfolgreich umzusetzen, sind aus unserer Sicht weitgehende organisatorische Neubestimmungen in den Verbundzentralen vor allem in Hinblick auf das Projekt-Management und eine funktionierende länderübergreifende Kooperation erforderlich.
Falls dies nicht umsetzbar oder finanzierbar sein sollte, sieht die DFG auch in der einheitlichen Einführung des PICA-Systems in Deutschland eine zukunftsträchtige Alternative.
Die Fähigkeit des PICA-Systems, sich schrittweise an neue Anforderungen anzupassen werden günstig eingeschätzt. Eine einseitige Abhängigkeit der deutschen Verbünde von PICA kann durch entsprechende vertragliche Kooperationsvereinbarungen vermieden werden.
Grundsätzlich hat sich die DFG dafür ausgesprochen, zukünftig maximal 2 Verbundsoftware-Lösungen in der Bundesrepublik parallel einzusetzen. An diese Verbünde sollten über offene, standardisierte Client-Server-Schnittstellen jedoch durchaus unterschiedliche lokale Systemtypen angekoppelt werden können.
Bibliotheken können als Informationszentralen der Hochschulen in einzigartiger Weise die neuen elektronischen Medien mit den traditionellen papiergestützten Literaturformen, die ja in absehbarer Zeit nicht aussterben werden, zusammenführen.
Sie können weiterhin ihr fachliches Know-How und ihre technischen Systeme bei der Katalogisierung, der Erschließung und dem Zugriff auf elektronische Dokumente einbringen.
Sie haben geborene Aufgaben bei der Langzeitsicherung und Archivierung der elektronischen Medien und gewinnen möglicherweise neuartige Funktionen bei der Qualitätssicherung, der Selektion und Authentifizierung von elektronisch verteilten Informationen hinzu.
Die Probleme der Neuen Informations-Infrastrukturen betreffen jedoch die wissenschaftlichen Bibliotheken nicht alleine.
Produktion und Rezeption von Publikationen und Informationen stehen im Zentrum von Forschung und Lehre. Die Informations-Infrastruktur ist insofern ein strategischer Bereich der Hochschule insgesamt. Die Herausforderungen der neuen Techniken können nur durch neue Formen der Zusammenarbeit von Fachbereichen und Infrastruktureinrichtungen wie Rechenzentren und Bibliotheken gelöst werden.
Diese zu initiieren und zu organisieren, ist vor Ort Aufgabe eines modernen Hochschulmanagements, überregional eine Aufgabe der Wissenschafts- und Forschungspolitik. Um international wettbewerbsfähig zu bleiben, muß eine gezielte Weiterentwicklung der Informationssysteme für Wissenschaft und Forschung gefördert werden. Die DFG bereitet derzeit ein Positionspapier zu diesen Fragen vor, das eine gemeinsame strategische Konzeption der Kommission für Rechenanlagen, des Bibliotheksausschusses und des Verlagsausschusses vorstellen wird.