Strategien
Thesen zur Mehrheitsfähigkeit
Zur Strategiediskussion in der SPD hat der Leiter der Abteilung V/Kommunikation und Wahlen im EOH, Bernd Schoppe, folgende Thesen zur Mehrheitsfähigkeit der SPD formuliert:
- Die SPD ist nur dann mehrheitsfähig, wenn sie die
traditionellen sozialdemokratischen Milieus hält und jene
Schichten, die im Gefolge von industriellen Strukturveränderungen
an Bedeutung gewonnen haben, an sich bindet. Es macht keinen Sinn,
diese Gruppen gegeneinander auszuspielen. Es gibt in Teilen der Partei
eine offenbar unausrottbare Tendenz, diese Frage alternativ zu
diskutieren: entweder traditionelle SPD-Anhängerschaft oder neue
Schichten. Obwohl inzwischen genügend Analysen vorliegen, die
nachweisen, daß unter dem Aspekt der Mehrheitsfähigkeit
eine Konzentration auf eine dieser Gruppen nicht ausreicht. Die
Sehnsucht nach einfachen Lösungen darf uns nicht auf falsche
Fährten locken: Zu dem zugegebenermaßen schwierigen
Prozeß der Integration unterschiedlicher Milieus gibt es
für die SPD keine Alternative. Schlagworte wie "Politik
für die Mitte" oder "Politik für die
Arbeitnehmer" helfen nicht viel weiter - sie verdecken die
Probleme eher, als daß sie sie klären. In Umfragen ordnen
sich 80 Prozent der Befragten "der Mitte" zu - dies sagt
schon etwas aus über die ungeheure analytische Schärfe des
Begriffs. "Die Mitte" ist eine politische Kampfformel, um
andere in eine bestimmte Ecke abzudrängen - inhaltliche
Orientierung für die eigene Strategie bietet sie nicht. Auch
innerhalb der Arbeitnehmerschaft gibt es erhebliche soziale
Ausdifferenzierungen hinsichtlich der Lebenslagen und Interessen. Und
wenn man unter Arbeitnehmern vor allem die klassischen Arbeiter
versteht: Das Problem der SPD bei den letzten Bundestagswahlen bestand
nicht darin, daß ihr diese Arbeiter bei den Wahlen davongelaufen
sind. Vielmehr belegen alle Analysen der Institute, daß die SPD
in dieser Gruppe überdurchschnittlich gut abgeschnitten hat, und
ausweislich der Analysen von Infas lag auch die Wahlbeteiligung in den
Arbeiterregionen knapp über dem Durchschnitt. Die SPD steht
vielmehr vor dem Problem, daß dieser Sockel, der das Gros der
Stammwähler der Partei stellt, allmählich
schrumpft. Insofern würde eine Reduzierung des Profils der SPD
auf die "Partei der kalssischen Arbeitnehmerschaft" oder die
"Partei der sozial Deklassierten und Benachteiligten"
für eine Mehrheitsfähigkeit nicht ausreichen, ja, sie
würde sie sogar behindern.
- Die Mehrheitsfähigkeit der SPD
wird wesentlich davon abhängen, ob es ihr gelingt, sich vom
Profil einer "Umverteilungspartei" zu lösen und sich
als "Gestaltungspartei" im Bewußtsein der
Wählerinnen und Wähler zu etablieren. Aus der Forschung
wissen wir, daß die SPD vor allem als eine Partei wahrgenommen
wird, die sich als "Partei der sozialen Gerechtigkeit" um
Verteilungsfragen kümmert - sei es, daß sie eine
Umverteilung von "oben nach unten" fordert; sei es,
daß sie für höhere staatliche Einnahmen eintritt. Ein
solches einseitiges Profil behindert die Mehrheitsfähigkeit der
Partei. Die SPD selber hat mit ihrer Kritik an der Kohl-Regierung,
diese organisiere die "Zweidrittelgesellschaft"
eingeräumt, daß es inzwischen - nicht zuletzt aufgrund
sozialdemokratischer Politik - eine Mehrheit gibt, die etwas zu
verlieren hat - übrigens auch bei den SPD-Wählerinnen und
-Wählern. Wer angesichts zunehmender verteilungspolitsicher
Engpässe finanzielle Umverteilungsmaßnahmen zugunsten einer
benachteiligten Minderheit propagiert, der wird auf verstärkten
Widerstand jener Mehrheiten stoßen, die etwas zu verlieren
hat. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Hier wird nicht
dafür plädiert, die verteilungspolitische Ebene
auszuklammern. Da die SPD von ihrer Geschichte und von ihrem
Selbstverständnis her auch immer die Position benachteiligter
Minderheiten einbringen muß, gerät sie - zumindest partiell
- auch in einen Konflikt mit den materiellen Interessen der
Mehrheit. Dies ist unvermeidlich und weist uns nur darauf hin,
daß unter dem Aspekt der Mehrheitsfähigkeit diese
verteilungspolitische Ebene für die SPD nicht die entscheidende
sein wird. Um zu verhindern, daß die Forderung nach einer
besseren finanziellen Ausstattung des Staates als Ausdruck
sozialdemokratischer Einfallslosigkeit abgestempelt werden kann,
muß klar gemacht werden, was die SPD denn mit den Mehreinnahmen
realisieren will. Nur dann wird sie eine
"Gestaltungskompetenz" in den Augen der Bürgerinnen und
Bürger erlangen.
- Die SPD muß die strukturellen
Veränderungen auch in ihrer eigenen Wählerschaft endlich zur
Kenntnis nehmen, will sie nicht ungewollt und damit auch unvorbereitet
in Konflikt mit dieser Wählerschaft geraten. Ich bestreite nicht,
daß es eine Verteilungsproblematik gibt. Aber sie bezieht sich
nicht in erster Linie auf die Umverteilung zwischen sozialstrukturell
definierten Gruppen. Vielmehr geht es in zunehmendem Maße um
eine Umverteilung auf der horizontalen Ebene zwischen
gesellschaftlichen Sektoren. Und von dieser Umverteilung werden viele
Menschen betroffen sein (wenn auch in unterschiedlichem
Ausmaße), - quer durch die Parteianhängerschaften: der
christdemokratische und der sozialdemokratische Autofahrer, der
christdemokratische und der sozialdemokratische Mieter, der
christdemokratische und der sozialdemokratische Hausbesitzer, der
christdemokratische und der sozialdemokratische Erbe, der
christdemokratische und der sozialdemokratische
"Besserverdienende". Ich weise auf diesen Punkt deshalb hin,
weil ich manchmal den Verdacht habe, daß manche
sozialdemokratische Forderung in der Annahme formuliert worden ist,
damit treffe man ohnehin nur die Klientel der anderen Parteien und die
eigene würde verschont. Diese feinsäuberliche Trennung ist
aber schon längst nicht mehr durchzuhalten: * Wie vielen in der
SPD ist eigentlich bewußt, daß sich CDU/CSU- und
SPD-Anhängerschaft in bezug auf die Einkommensstruktur kaum noch
unterscheiden? * Wie vielen in der SPD ist eigentlich bewußt,
daß auch ein erheblicher Teil der SPD-Anhängerschaft zur
"Erbengeneration" gehört? * Und wie vielen ist
eigentlich bewußt, daß rund 40 % der westdeutschen
SPD-Anhänger in Eigentumswohnungs- oder Eigenheimhaushalten
leben? Wenn einem das alles bewußt ist, dann kann man dennoch zu
der politischen Entscheidung kommen, die Erbschaftssteuer, die
Grundstückssteuer, die Vermögenssteuer drastisch zu
erhöhen, Ergänzungsabgaben bis in die mittleren
Einkommensgruppen zu erheben, sich als Partei der Mieter zu
profilieren. All dies mag politisch sinnvoll sein - aber dann ist
einem wenigstens vorher klar, daß man in Konflikt mit einem
erheblichen Teil der eigenen Wählerschaft gerät, und man
kann sich auf solche Konflikte vorbereiten. Nichts ist schlimmer, als
aufgrund einer falschen Vorstellung über die eigene
Wählerschaft ungewollt Konflikte mit dieser zu provozieren und
deshalb auch nicht auf solche Konflikte vorbereitet zu sein.
- MitBlick auf die schwache Stellung in den meisten wirtschaftlichen
Wachstumsregionen muß sich die SPD stärker als bisher
"Produktionsfragen" zuwenden. Gruppiert man die
Ballungszentren nach ähnlichem Wahlverhalten in den letzten 20
Jahren und vergleicht sie mit einigen sozio-ökonomischen
Indikatoren, dann zeigt sich: Bei allen ausgewählten Indikatoren
für wirtschaftlich Prosperität schneiden die SPD-Hochburgen
schlechter ab als die CDU-Hochburgen. Oder noch genauer: In all jenen
Regionen, in denen die Dienstleistungstätigkeiten stark auf die
Industrieproduktion orientiert sind, hat die SPD erhebliche
Probleme. Die hohe Bedeutung dieser Produktionsdienste
(z. B. Forschung und Entwicklung, Unternehmensberatung, EDV und
Marketing) für die Entwicklung einer Region wird daran deutlich,
daß die Regionen mit raschem Wachstum (Stuttgart, München,
Rhein- Main) gleichzeitig auch die Regionen mit einem hohen Anteil an
Produktionsdiensten sind. Viele der dort lebenden Menschen arbeiten in
relativ sicheren, mit Aufstiegschancen versehenen
Arbeitsplätzen. Sie sind mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben
beschäftigt oder sind bemüht, Innovationen
voranzubringen. Die Beherrschung neuer Technologien ist Voraussetzung
für ihren beruflichen Erfolg. Das unterscheidet sie von jenen,
die in Regionen mit vergleichsweise geringer Beschäftigung leben,
die einen tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Strukturwandel
durchmachen. Viele der davon betroffenen Menschen haben ein
ausgeprägtes Schutzbedürfnis, Solidarität liegt in
ihrem unmittelbaren Interesse. Sie empfinden persönliche
wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht als Ergebnis persönlichen
Versagens, sondern als Ergebnis widriger Gesamtumstände. Deshalb
empfinden diese Menschen den CDU-Leitsatz "Leistung muß
sich wieder lohnen" als Hohn. Ein Profil der sozialen
Gerechtigkeit und der Solidarität spricht vor allem die Menschen
in den Regionen an, in denen sich wirtschaftliche Risiken
häufen. In den Wachstumsregionen reicht dieses Profil nicht. Die
Menschen dort sind nicht in erster Linie an Verteilungsfragen, sondern
an Produktionsthemen interessiert: Wie muß die Produktion der
Zukunft organisiert, welche Innovationen müssen eingeführt
werden, damit unsere Produkte weltweit konkurrenzfähig bleiben?
Diesen Menschen ist der enge Zusammenhang von Produktion und
Verteilung sehr bewußt. Ihnen ist klarer als anderen, daß
die Verteilung die Produktion zunächst einmal zur Voraussetzung
hat. Nur wenn die Produktion gesichert ist, kann auch etwas verteilt
werden. Die SPD wird in den Augen dieser Menschen häufig als
jemand wahrgenommen, der den Kuchen zwar gerne verteilt, sich aber
nicht darum kümmert, daß der Kuchen auch erst einmal
gebacken wird. All unsere Untersuchungen belegen, daß es
gegenwärtig eine für die SPD problematische Rollenverteilung
der Parteien im öffentlichen Bewußtsein gibt. Demnach
werden die Unionsparteien als die Parteien angesehen, die für die
Modernisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft zuständig
sind, während die SPD für die soziale Abfederung dieses
Modernisierungsprozesses zuständig ist. Solange in den
Köpfen der Mehrheit der Bevölkerung eine solche
Aufgabenverteilung zwischen den Parteien existiert, solange wird es um
die Mehrheitsfähigkeit der SPD schlecht bestellt sein.
- Die SPD muß sich politisch konzeptionell darauf einstellen,
daß Individualisierung bzw. Flexibilität zunehmend ein
prägendes Prinzip der Lebensgestaltung sein wird. Gegenwärtig
fühlen sich viele Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen von
der SPD nicht wahrgenommen. Die Partei nimmt die Menschen fast nur in
ihrer Eigenschaft als Mitglied eines Kollektivs wahr, während
diese Menschen selber sich immer weniger über die Mitgliedschaft
zu einem Kollektiv definieren. Entsprechend sehen die politischen
Angebote der SPD aus: Meistens versucht sie, kollektive Regelungen
durchzusetzen, die für individuelle Spielräume kaum noch
Platz lassen. Das beginnt bei dem Thema "Zukunft der Arbeit"
und hört beim Modethema "Ladenschlußzeiten"
auf. Nach wie vor tut sich die SPD schwer, sich auf den
gesellschaftlichen Individualisierungstrend einzulassen und
konzeptionelle Vorschläge zu entwickeln, wie man dem daraus
resultierenden Bedürfnis nach mehr Spielräumen und dem
Erfordernis nach Solidarität sinnvoll Rechnung tragen kann. Um
ein Beispiel zu nennen: Während die Forderung nach
Verkürzung der Wochenarbeitszeit sicherlich für viele
Arbeitnehmer eine sinnvolle Forderung ist, ist sie für jene, die
in hochwertigen Produktionsdienstleistungen ohnehin schon 50 Stunden
und mehr pro Woche arbeiten, völlig uninteressant. Solche Gruppen
sind mehr an individuellen Gestaltungsspielräumen und mehr
Zeitsouveränität bei ihrer Arbeit interessiert. Diese
Gruppen haben relativ wenig Freizeit, umso mehr liegt es in ihrem
Interesse, daß der Freizeitbereich nicht völlig unflexibel
geregelt wird und ihnen mehr Spielräume zur Nutzung sowohl der
Arbeit als auch der Freizeit geboten
wird. "Individualisierung" ist ja kein neuer Stern am
Wertehimmel, sondern ein strukturell vorgegebener Zwang, wie er sich
aus den Veränderungen der Arbeit, des Lebensstils und der
Lebensformen ergibt. Dies wird in der Partei manchmal noch nicht
richtig verstanden. Die Diskussion wird vor allem auf einer
"Werteebene" geführt. Dies ist aber nicht sonderlich
fruchtbar, da man auf diese Ebene Individualisierung nur
"schlecht" oder "gut" finden kann. Damit ist die
Diskussion aber auch beendet. Sie wird aber erst dann fruchtbar, wenn
man erkennt, daß es nicht darum geht, ob man Individualisierung
für gut oder schlecht hält, sondern welche Konsequenzen man
aus der objektiven Entwicklungstendenz zu mehr Individualisierung
zieht. Objektiv zeigt sich diese Individualisierung als Freisetzung
aus traditionellen Bezügen, an der zunehmenden Lockerung der
Bindungen an Familie, Beruf, Arbeit und Betrieb, Kirche, Parteien,
Gewerkschaften und Vereinen. Ob diese Individualisierung zu positiven
oder negativen Konsequenzen führt, ist zunächst einmal
offen. Sie kann zu zunehmender Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit
der Menschen führen, sie kann aber auch zu größerer
Kreativität aufgrund gewonnener persönlicher Spielräume
führen. In welche Richtung die Entwicklung geht, hängt nicht
zuletzt auch von den Rahmenbedingungen ab, die von der Politik
beeinflußbar sind. Eines ist aber jetzt schon klar: Ebenso wie
sich der jüngste gesellschaftliche Individualisierungsschub nur
auf der Basis sozialstaatlicher Absicherung vollziehen konnte, ist
Individualisierung im Sinne von Entfaltung nur vor dem Hintergrund
materieller Sicherheit und sozialer Solidarität
möglich.
- In Zeiten zunehmender Personalisierung der Politik
ist es dringend notwendig, daß die SPD die
generationsmäßige Verengung ihres Personalangebots
überwindet. Schaut man sich die personelle Repräsentanz der
SPD auf Führungsebene an, dann konzentriert sich fast alles auf
die Generation der 45- bis 55jährigen. Die
"Enkelgeneration", die selber schon bald Enkel bekommt,
beherrscht das Erscheinungsbild der Partei fast total. Angesichts
unseres Defizits bei den jungen und alten Wähler(innen) ist dies
ein Zustand, der geändert werden muß. Wenn es richtig ist,
daß aufgrund der veränderten Mediensituation der
Unterhaltungseffekt von Politik immer wichtiger wird und deshalb
Personen im Vergleich zum Programm in eine immer wichtigere Rolle bei
der Vermittlung von Politik einnehmen, dann ist diese Verengung im
Personalangebot eine bedrohliche Entwicklung für das Profil der
Partei. Während bei CDU (mit Kohls Unterstützung),
Grünen und PDS in dieser Beziehung systematische Anstrengungen
unternommen werden, ist bei der SPD bei den unter 40jährigen,
ganz zu schweigen von den unter 30jährigen, weitgehend
Fehlanzeige. Wenn die Partei nicht bald entsprechende personelle
Signale setzt, dann sieht die SPD im Vergleich mit den anderen
Parteien ganz schön alt aus. Wenn die SPD konsequent daran
arbeitet, eine solche Ausstrahlung zu gewinnen, dann wird sich auch
ihre Attraktivität wieder erhöhen. Das setzt aber voraus,
daß die Partei die Selbstdisziplin aufbringt, diese Linien auch
über längere Zeit durchzuhalten, sie in einzelnen
Themenbereichen durchzudeklinieren und zu konkretisieren und vor allem
eines vermeidet: sich falsche Alternativen oder Scheinprobleme
aufschwatzen zu lassen, die uns bei der Frage nach den erfolgreichen
künftigen politischen Strategien der Sozialdemokratie in eine
Sackgasse führen.
- 7 - AL V - Kommunikation und Wahlen mehrstrat März1995
->Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Server provided
by GTN