19. Juni 1995
Für die jüngste Ausgabe der Zeitung des Landesverbandes NRW der Grünen hat SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen den folgenden Artikel geschrieben:
Nach über einem Jahrzehnt Bonner Regierungspolitik sind Gesellschaft und Wirtschaft gelähmt. Eine Mehrheit hätte gerne einen Wechsel, aber sie sah dafür bei der Bundestagswahl 1994 noch kein stimmiges Angebot. Mit Rot- Grün verbinden sich starke Gefühle, zunehmend auch Hoffnungen. Dies unterscheidet diese Option von denkbaren anderen. Koalitionen zwischen SPD und Grünen werden mittlerweile von einer wachsenden relativen Mehrheit innerhalb der Wähler zumindest akzeptiert. Dazu beigetragen haben Erfahrungen mit dieser Konstellation in Kommunen und Ländern sowie Kurskorrekturen der Grünen nach dem Wahldebakel 1990. Rot-Grün wird aber nur dann eine ausreichende Ausstrahlungskraft haben, wenn glaubhaft wird, daß damit Qualitätsverbesserungen von wichtigen Lebenslagen und Umweltbedingungen möglich sind. Die beiden Volksparteien haben sich stabilisiert, allerdings auf niedrigerem Niveau als früher. Die Grünen haben sich als dritte Kraft etabliert, auf Dauer und auf einem höheren Sockel als die FDP früher. Die Grünen übernehmen die Rolle der FDP. Der Vergleich mit dem Wechsel 1969 liegt nahe. Manche Startposition ist insgesamt günstiger als in den 60er Jahren für die sozialliberale Koalition. Die Bündnisgrünen haben sich ganz überwiegend, auf ein wie ich es nenne, sozial- ökologisches Projekt, festgelegt. Bei der FDP tobte dagegen jahrelang ein Richtungskampf um die sozialliberale Entscheidung. Die Entwicklung geht zu Ungunsten der jetzt in Bonn regierenden Koalition. Rot-Grün ist ein denkbarer und aus meiner Sicht plausibler Weg zur Ablösung Helmut Kohls. Siegeswillen allerdings beweist man nicht allein dadurch, daß man ihn immer wieder betont und öffentlich einklagt. Reformregierungen brauchen einen stringenten Entwurf und eine aktive gesellschaftliche Unterstützung. Reformparteien verlangen den Menschen mehr ab als Status- Quo-Bewahrer: Die Abkehr von herkömmlichen Gewohnheiten einerseits, die Bereitschaft zum politischen Engagement andererseits. Wie können wir die psychologischen Voraussetzungen in der Wählerschaft weiter positiv verändern? Die entscheidende Frage wird sein, inwieweit es gelingt, konjunkturelle Nichtwähler und bewegliche Unionswähler zu überzeugen. Nicht zuletzt spielen die Entscheidungen in den ostdeutschen Ländern eine wichtige Rolle. Die Grünen haben dort noch sehr viel Überzeugungsarbeit vor sich. Die Überlegungen, die im Jahre 1994 zum Verzicht auf eine Koalitions-Festlegung geführt haben, sind übrigens nicht gegenstandlos geworden. Wenn sich Wählerbewegungen lediglich im Wählerpotential von SPD und Grünen abspielen, wird die ganze Operation zum Nullsummenspiel. Es wird keine Arbeitsteilung geben, nach dem Motto: um den dynamischen Teil der Gesellschaft kümmern sich die Grünen, für die Gefährdeten und die Verlierer im Strukturwandel ist die SPD zuständig. Die SPD schließlich hat als große Volkspartei eine andere Funktion und steht unter einem anderen Erwartungsdruck als die Grünen. Sie muß wesentlich unterschiedlichere Bedürfnissen und Erwartungen integrieren und sie muß wesentlich mehr Prozente für eine gemeinsame Koalition einbringen. Es geht um die Annahme aller zentralen politischen Herausforderungen durch beide Parteien. Wir nähern uns den Aufgaben aus unterschiedlichen Richtungen, von unterschiedlichen Erfahrungen und Herkünften an. Beide Blickwinkel sind nötig, soll sich eine von bewußten Mehrheiten getragene Veränderungsperspektive eröffnen. Gefordert ist eine Perspektive, die intelligentes Sparen mit neuer Verantwortung verbindet. Neu durchbuchstabiert werden müssen Freiheit wie Solidarität für die einzelnen Felder der Gesellschaft. Die Voraussetzung zu schaffen, in der Gesellschaft wieder Lust auf Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit zu vermitteln, ist die strategische Aufgabe für eine Reformkoalition in Bonn. Unser Ziel ist eine umweltverträgliche Industriegesellschaft, deren Leistungsfähigkeit sich insbesondere darin erweist, inwieweit sie Lebensqualität vergrößert und Arbeit sinnvoll organisiert. SPD und die Grüne müssen unmißverständlich sagen, wofür sie sind und wie sie ihre Pläne finanzieren wollen. Es muß klarer unterschieden werden zwischen den längerfristigen Zielsetzungen und dem, was in Gesprächen über eine Regierungsbildung herauskommen kann. Es gibt im Programm der Grünen Punkte, von denen ich sage, sie sind absolut unrealistisch; es gibt Punkte, von denen ich sage, sie können eine längerfristige gemeinsame Zielsetzung sein. Schließlich gibt es eine beachtliche Schnittmenge von Punkten, die innerhalb einer Legislaturperiode auf der Landes- wie auf der Bundesebene gemeinsam zu verwirklichen sind. Forderungen etwa nach einem Atomausstieg innerhalb von 2 Jahren wären Unsinn. Ebenso solche nach Ausstieg aus der NATO oder Abschaffung der Bundeswehr. Dies sehen im übrigen auch viele Grüne so - sie können sich allerdings noch nicht in dieser Deutlichkeit auf Parteitagen zu Korrekturen durchringen. Wer über Regierungen verändern will, muß seine Programmatik und Forderungen mit den Erwartungen einer Mehrheit auf einen Nenner bringen. Fortschritt ist nur in kleinen Schritten und in kleinen Dosen möglich. Übereinstimmung läßt sich relativ rasch auf den Feldern der Ökologie, des Arbeitsmarktes, des Rechtsstaates und der Einwanderungs-Politik herstellen. Mehr Anstrengungen sind sicher in der Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik nötig. Ganz sicher auch in der Finanz- und Steuerpolitik. Die internen Widersprüche bei den Grünen sind noch nicht ausdiskutiert, geschweige denn gelöst. Dies weiß auch Joschka Fischer. Von diesen Schwächen versucht er dadurch abzulenken, daß er der SPD mangelnde Entschlossenheit vorwirft. Ein Realitätsschock steht der grünen Mitgliedschaft und Klientel auf manchen Feldern noch ins Haus. In wieweit die Verarbeitung gelingt, wird sich in NRW zeigen. Eine Koalition ist keine Verbrüderung, sondern es handelt sich um eine Zusammenarbeit miteinander konkurrierender Parteien. Der SPD-Vorstand unterstützt unter dieser Leitlinie die Koalitionsverhandlungen mit den Grünen in Nordrhein-Westfalen einmütig. Erhofft sind selbstverständlich Auswirkungen auf Bonn. Die rot-grüne Option steht freilich unter einem doppelten Vorbehalt: Wenn in Nordrhein-Westfalen eine entsprechende Regierung zustande kommt, und wenn diese Regierung erfolgreich arbeitet, dann sind aus meiner Sicht die Weichen für die nächste Bundestagswahl gestellt. Wer nur Rot-Grün sagt, hat damit noch kein Problem gelöst. Je konkreter und plausibler beide Parteien das überfällige sozial-ökologische Projekt beschreiben, desto leichter beantworten sich Koalitionsfragen. Die SPD ist kompromißfähig und kompromißwillig. Aber sie ist nicht bereit, jeden Preis zu zahlen.