Zu verschiedenen gesellschaftspolitsch relevanten Themen hat das Münchener Forschungsinstitut Polis für den SPD- Parteivorstand einen Trend-Survey 1995 erarbeitet. Wir stellen hier das Thema "Zur Lebenssituation älterer Menschen in Ost- und Westdeutschland" vor:
Trend-Survey 1995 Zur Lebenssituation älterer Menschen in Ost- und Westdeutschland Themenanalyse Rheinland-Pfalz
Zur Lebenssituation älterer Menschen in Ost- und Westdeutschland Der Altersaufbau der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird sich in den kommenden Jahrzehnten gravierend verändern. Diese Entwicklung hat Konsequenzen für die Bürgerinnen und Bürger im erwerbsfähigen Alter (Stichwort: Steigende Beiträge für die Altersvorsorge), aber auch für die jetzigen und zukünftigen älteren Menschen. Wie die Lebenssituation der älteren Menschen heute aussieht und wie sie sie selbst wahrnehmen, wollen wir im folgenden anhand von Daten des Wohlfahrtssurveys 1993 illustrieren. Die Gruppe der "Senioren" hat in den vergangenen Jahren einige für die zukünftige Entwicklung sehr bedeutsame Veränderungen durchgemacht. Grundlage dieser Veränderungen sind vor allem der z.T. sehr früh stattfindende Rückzug aus dem Erwerbsleben (die Erwerbsquote fällt heute, z.B. durch Frühverrentung, bereits im Alter von 55 Jahren steil ab), die steigende Lebenserwartung, die den "Jüngeren unter den Älteren " heute sehr viel mehr Bewegungsfreiheit und Aktivität erlaubt als dies früher der Fall war sowie eine gesunkene Geburtenrate. Die steigende Lebenserwartung führt allerdings auch zu einem mit dem Alter immer stärker werdenden Überhang an Frauen. Bei den Menschen über 75 Jahren beträgt der Frauenanteil etwa 70 Prozent. Für die Lebenssituation älterer Menschen spielt also die Situation der älteren Frauen eine besonders große Rolle. Ein beträchtlicher Teil dieser Frauen ist verwitwet (bei den über 80Jährigen 77%) und lebt deshalb allein. Im Gegensatz zu jungen Singles ist diese Wohnform bei den alten Menschen aber nicht selbstgewählt. Sie fällt überdies häufig mit erschwerten Lebensbedingungen durch Pflege- oder Hilfsbedürftigkeit zusammen (bei den über 75Jährigen ist etwa jede(r) Vierte pflegebedürftig). Angesichts solcher einschneidender Veränderungen in der Lebenssituation erhält die finanzielle Situation für die Bewältigung des Alltags größeres Gewicht als in einigen anderen Lebensabschnitten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die älteren Menschen insgesamt finanziell recht gut ausgestattet sind, daß aber diese Ausstattung in schwierigen Lagen wie der Pflege- und Hilfsbedürf- tigkeit durchaus an Grenzen geraten kann: - Das durchschnittliche bedarfsgewichtete Haus- haltsnettoeinkommen der älteren Menschen in Westdeutschland betrug dem Wohlfahrtssurvey zufolge 1993 1.683 DM (Gesamtbevölkerung West: 1.651 DM), in Ostdeutschland 1.196 DM (Gesamtbevölkerung Ost: 1.105 DM). - Ältere Menschen sind im Durchschnitt weniger von Armut betroffen als andere Bevölkerungsgruppen. Nur sechs Prozent der über 60Jährigen im gesamten Bundesgebiet fallen unter die Armutsgrenze . Auch in Ostdeutschland leben nur wenige Ältere in relativer Armut. Im Durchschnitt ist die Gruppe der älteren Men- schen in West- und Ostdeutschland finanziell also gut ausgestattet. - Die älteren Frauen haben - bedingt durch weniger kontinuierliche und seltener an Vollzeit- Erwerbstätigkeit gekoppelte Erwerbsbiographien - im Vergleich zu ihren männlichen Altersgenossen schlechtere Ausgangsbedingungen für das Leben im Alter. Wenn Sie alleinstehend sind - und das ist jede zweite Frau über 60 Jahren - sind sie vom Armutsrisiko vergleichsweise eher betroffen. Weiter steigende Scheidungsraten, eine Zunahme der Teilzeitarbeit und die Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit könnten diesem Aspekt in Zukunft mehr Gewicht verleihen. Die Wohnsituation älterer Menschen ist angesichts zumeist eingeschränkter Mobilität bei zunehmendem Alter von größerer Bedeutung als in jungen Altersgruppen. In der Analyse des Wohlfahrtssurveys wird deutlich, daß ältere Menschen im Schnitt über deutlich mehr, aber auch schlechter ausgestatteten Wohnraum verfügen. In Westdeutschland wurden durchschnittlich 50 qm Wohnfläche pro Person für sie ermittelt; dem steht ein Durchschnitt von 41 qm bei allen Befragten gegenüber. Im Osten sind die Vergleichszahlen 39 zu 30 qm. Jede(r) dritte Ältere lebt in einem Ein-Personen-Haushalt und verfügt im Westen mit durchschnittlich 69 qm und im Osten mit 52 qm über besonders viel Wohnraum. Der Eigentümeranteil ist bei den älteren Menschen in Ost und West ebenfalls etwas höher als insgesamt. Der sehr guten Situation mit Blick auf die Wohnfläche steht - vor allem im Osten - eine etwas schlechtere Ausstattung der Wohnungen gegenüber. Während im Westen immerhin 86 Prozent der Älteren über Bad, WC und Zentralheizung verfügen (Gesamt West: 90%), sind das im Osten nur 43 Prozent (Gesamt Ost: 54%). Im Osten bedeutet das häufig eine Wohnsituation, wie sie im Westen inzwischen nahezu unbekannt ist: Gemeinschaftstoilette zweier oder mehr Haushalte im Treppenhaus, Kohle-, Öl- oder Gasöfen bzw. Elektroheizkörper und Verzicht auf fließendes Warmwasser, auf Badewanne oder Dusche. Die Bedeutung gerade dieser Ausstattungsmerkmale wird dann deutlich, wenn man die gesundheitliche Situation berücksichtigt. - 11 Prozent der Älteren im Westen und 13 Prozent im Osten geben an, dauerhaft behindert oder pflegebedürftig zu sein. Dieser Anteil nimmt mit zunehmendem Lebensalter deutlich zu. - Regelmäßig Medikamente nehmen im Westen 58 Prozent der Älteren (Gesamt: 28%) und im Osten 66 Prozent (Gesamt: 27%). - Mindestens ein Besorgnissymptom aus einer Liste nannten 58 Prozent der Älteren im Westen (Gesamt: 48%) und 71 Prozent derer im Osten (Gesamt: 56%). Vor allem im Osten bedeuten also die schlechte Ausstattung der Wohnungen älterer Menschen angesichts erschwerter Bedingungen im Alltag und einer deutlich schlechteren körperlichen Verfassung gravierende Einbußen an Lebensqualität. Auf die allgemeine und die nach Lebensbereichen differenzierte Lebenszufriedenheit hat dies aber nur z.T. Auswirkungen: - Bei der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt ergeben sich nur marginale Unterschiede zwischen den Befragten insgesamt (7.7) und den Älteren (7.6). - Die größten Unterschiede treten bei der Bewertung der Gesundheit auf. Einem Wert von 7.3 bei allen Befragten steht ein Wert von 6.0 bei den Älteren gegenüber. - Deutlich zufriedener als die Befragten insgesamt äußern sich die Älteren mit Blick auf die Lebensbereiche "Freizeit", "Kirche" und "Wohnung". In allen anderen Lebensbereichen unterscheidet sich die Einschätzung der Älteren nur wenig von dem der Gesamtbevölkerung. Allerdings muß bei der Interpretation der Zufrie- denheitsangaben neben der Qualität der Lebensver- hältnisse berücksichtigt werden, daß soziale Ver- gleichsprozesse und das individuelle Anspruchsniveau in die Urteilsbildung eingehen. Mit Blick auf die Freizeit zeigt sich ein durchaus starkes Engagement der Senioren zwischen 60 und 64 Jahren. bei familiären, inner- und außerhäuslichen Aktivitäten. Mit zunehmendem Alter nimmt dann die Vielfalt vor allem der außerhäuslichen Aktivitäten deutlich ab. Auf die Gestaltung der Freizeit haben aber auch Faktoren wie Geschlecht, Bildung und der Wohnort in West- bzw. Ostdeutschland einigen Einfluß. Mit höheren Bildungsgrad werden häufiger kulturelle Veranstaltungen besucht oder Weiterbildungsangebote wahrgenommen. Männer gehen eher als Frauen zu Sportveranstaltungen oder in die "Kneipe". Ostdeutsche Ältere verzichten eher als westdeutsche auf außerhäusliche Tätigkeiten. 40 Prozent sind z.B. im Westen Mitglied in einem Verein, im Osten sind es nur rund 25 Prozent. Westdeutsche Ältere gestalten ihre Freizeit auch eher mit Kursen, aktivem Sport oder Theater-, Kneipen- oder Restaurantbesuchen. Das soziale Beziehungsnetzwerk dünnt mit zunehmendem Alter stark aus und kommt als dauerhafte Hilfestellung im Alltag häufig nicht mehr in Frage. Nur rund 10 Prozent der Älteren in Ost und West geben an, "täglichen Kontakt" mit dem "besten Freund" zu haben. Sieben Prozent im Westen und 11 Prozent im Osten haben gar keine Kontaktmöglichkeiten zu anderen Menschen. Mit zunehmendem Alter spitzt sich diese Situation noch weiter zu. Diese Zahlen sind auch in der Gesamtbevölkerung nicht wesentlich höher. Allerdings stehen sie einer im Durchschnitt wesentlich weniger schwierigen Alltagssituation und einer deutlich höheren Bewegungsfreiheit gegenüber. Denn mit zunehmendem Alter sind mehr Menschen auf die Unterstützung anderer angewiesen. Wie schwierig im Alter die Aufrechterhaltung sozialer Kontakt wird, machen einige weitere Zahlen deutlich: - 76 Prozent der Älteren gegenüber 87 Prozent bei allen Befragten im Westen geben an, "enge Freunde" zu haben, im Osten sind es 69 Prozent bei den Älteren und 81 Prozent insgesamt. Umgekehrt heißt dies aber auch, daß die an 100 Prozent fehlenden Personen eben keine engen Freunde haben. Im Osten sind dies immerhin rund 30 Prozent. - 22 Prozent der Älteren im Westen (Gesamt West: 13%) und 29 Prozent derer im Osten (Gesamt Ost: 16%) klagen denn auch über Einsamkeit. Diese Werte differieren allerdings stark mit zunehmendem Alter und nach Geschlecht: 40 Prozent der Hochbetagten (über 75 Jahre alt) und jede dritte Frau über 60 Jahre (aber nur acht Prozent der älteren Männer) sind einsam. Mit zunehmendem Alter tritt demnach eine starke Differenzierung der eigentlich ausgesprochen agilen und zufriedenen Gruppe der Älteren hervor. Die heute höhere Lebenserwartung und der bessere gesundheitliche Zustand ermöglicht vielen tatsächlich den Genuß eines ausgefüllten "Lebensabends". Aber es steigt auch das Risiko des gesellschaftlichen Rückzugs und der Vereinsamung mit zunehmendem Alter. Vor allem die Gruppen und Institutionen, die den alten Menschen am nächsten sind - Vereine, Organisationen wie Volkshochschulen oder Altenhilfemaßnahmen, Familien, Freunde oder Nachbarn - sind am stärksten gefordert, den negativen Entwicklungen in der Lebenssituation älterer Menschen entgegenzuwirken. Das kann allerdings nur gelingen, wenn sich die Strukturen des täglichen Zusammenlebens nicht weiter auseinander entwickeln.
Der Wohlfahrtssurvey wird im Rahmen eines von der Deut- schen Forschungsgemeinschaft geförderten Gemeinschafts- projektes der Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung des Wissenschaftszentrums Berlin und der Abteilung Soziale Indikatoren des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen durchgeführt. Stichprobenumfang: 2.046 Be- fragte in Westdeutschland und 1.016 in Ostdeutschland.
Unter "Älteren" verstehen wir im folgenden Menschen im Alter ab 60 Jahren.
Die 10 Prozent der Bevölkerung mit dem geringsten, be- darfsgewichteten, also an der Haushaltsgröße orientier- ten, Haushaltsnettoeinkommen (unterstes "Einkommensde- zil") werden als Grenze definiert, um Problemgruppen erkennen zu können.
Vorgegebene "Besorgnissysmptome" in dieser Umfrage wa- ren: "öfters erschöpft oder erschlagen", "habe immer wieder Ängste und Sorgen", "ständig aufgeregt und ner- vös", "gewöhnlich unglücklich oder niedergeschlagen", "öfters zittern und schütteln".
Im Wohlfahrtssurvey wird die Lebenszufriedenheit anhand einer Skala von 0 ("ganz und gar unzufrieden") bis 10 ("ganz und gar zufrieden") gemessen.
Vgl. dazu z.B. unsere nächste Ausgabe 2