SPD und Europa


VORWÄRTS, August / 1995 parteilich - politisch - initiativ

Frischzellen für den müden Stier
Heidemarie Wieczorek-Zeul über Europa als Reformaufgabe für die SPD.

Die SPD sollte die Reform der Europäischen Union zu einer ihrer zentralen Forderungen machen. Denn die EU ist notwendiger denn je - als einzige Instanz, die die Globalisierungstrends ein Stück gestalten und steuern kann. Und als Institution, die den Reformprozeß in den mittel- und osteuropäischen Staaten absichern kann. Aber in der Bevölkerung, auch in der Bundesrepublik, wird sie meist nur noch als schlechter Reparaturbetrieb betrachtet. Und in Frankreich wird neuerdings eine Politik betrieben, die die Rückkehr zum Nationalstaat als angeblich notwendige Reaktion auf den wachsenden Rechtsextremismus betrachtet!

Welche Reformaufgaben wollen wir bei der Überprüfungskonferenz für den Maastricht- Vertrag und danach stufenweise anpacken?

  1. Zunächst soll dem Vertrag von Maastricht eine "Charta europäischer Bürgerrechte" vorangestellt werden.
  2. Europa fehlt nach wie vor die soziale Dimension, die doch so nötig ist, um die Menschen für die Union einzunehmen. Die konservativen EU-Regierungen sind dafür verantwortlich, daß viele fortschrittliche Regelungen in den Regalen des Ministerrates Staub fangen.
  3. Über die bisherigen Bestimmungen hinaus muß der Umweltschutz als Ziel in den EU- Vertrag aufgenommen werden, damit der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen besser gewährleistet werden kann.
  4. Wir wollen die Europäische Union im Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus stärken. Deshalb ist es Unfug, wenn die Bundesregierung eine Konvention unterschreiben will, die eine ausreichende rechtliche Kontrolle der europäischen Polizei "Europol" durch den Europäischen Gerichtshof ausschließt.
  5. Künftig muß das Europäische Parlament dann mitentscheiden können, wenn auch der Ministerrat mit Mehrheit entscheidet. In Politikfeldern aber, die wie die Innen- und Rechtspolitik zwischenstaatliche Aufgaben bleiben, sind Mehrheitsentscheidungen überhaupt nicht zu akzeptieren. Denn sie bedeuten die Ausschaltung des Parlamentarismus: Das Europäische Parlament hätte kein Recht zum Einspruch, und der Bundestag wäre gar nicht beteiligt.
  6. Wir wollen die zahlreichen und völlig undurchschaubaren Gesetzgebungsregeln der EU durch verständliche und nachvollziehbare Verfahren ersetzen. Schluß damit, daß es einen Detektiv braucht, um herauszufinden, wer in Brüssel was, wann, wo entscheidet! Dabei hilft es, wenn der Ministerrat öffentlich tagt, wenn er Gesetze diskutiert und beschließt.
  7. Und selbstverständlich gehört die Vorbereitung der Osterweiterung der EU und die Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Staaten in die europäischen Sicherheitsstrukturen zu den anzupackenden Aufgaben.
  8. In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik geht es darum, zwischen den EU- Mitgliedern zu gemeinsamen Einschätzungen zu kommen und die Interessen gemeinsam zu definieren. An die Adresse der CDU/CSU: Dann muß man aber auch über die französischen Atomwaffentests reden. Wir wollen darüber hinaus eine Rüstungskonversion in Gang setzen. Das Ziel sollte eine Beschränkung der Militärausgaben sein, um freiwerdende Mittel im Süden und in Mittel- und Osteuropa einzusetzen.
  9. Zur Vorbereitung der Osterweiterung ist auch eine weitere Reform der gemeinsamen Agrarpolitik notwendig. Denn das landwirtschaftliche Produktionspotential würde um weitere 25 Millionen Hektar erhöht. Folge: Die Mehrkosten würden zwischen 40 und 64 Milliarden Mark jährlich (!) betragen.
  10. Schließlich muß die ganze Finanzierung der Europäischen Union überprüft werden - allem voran die Agrarpolitik. Wie lange noch sollen vier Prozent der Bevölkerung über die Hälfte des EU-Haushaltes (75 Milliarden Mark) verfügen dürfen?


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