Thema Europa


VORWÄRTS, August / 1995 parteilich - politisch - initiativ

Entkernt und in Scheiben Eurovision auf allen Kanälen:
Vor der EU-Regierungskonferenz 1996 schießen die Spekulationen ins Kraut.

Die SPD hat Maastricht II vorsorglich schon etwas tiefer gehängt. Markus Bernath Zwanzig verschiedene Stecker gibt es in Europa und dazu zwanzig verschiedene Steckdosen - große, kleine, mit drei Buchsen oder mit zwei, mit und ohne Spangen. Aber auf einen gemeinsamen Anschluß einigen können sich die Hersteller von Küchenmixern oder Rasierapparaten dann doch nicht: zuviel Aufwand, zu großes Geschäftsrisiko. Wie sollen da wohl die Lampen angehen, wenn nächstes Jahr fünfzehn Regierungschefs über einen Neuaufguß des Maastrichter Vertrags brüten? Gemeinsames Geld soll es ab 1999 geben, ob dann aber auch der Fön in jede Steckdose eines Lissaboner Hotels paßt, ist ziemlich unwahrscheinlich. "Wir werden in fünfzehn oder zwanzig Jahren noch einmal darüber reden", sagte ein französischer Firmensprecher entnervt nach den letzten "Harmonisierungsgesprächen" bei der Brüsseler EU- Kommission. Wen wundert es da, daß das "Gemeinsame Europa" nicht unbedingt der gemeinsame Herzenswunsch der Deutschen ist? Zwei Drittel, so sagt eine Forsa-Umfrage, hätten lieber eine große Freihandelszone als ein wirtschaftlich und politisch geeintes Europa. 63 Prozent der Befragten möchten die D-Mark behalten. Dieselbe Umfrage zeigt aber auch, daß eine Mehrheit der Deutschen für eine Erweiterung der EU nach Osten ist. 62 Prozent glauben, daß die EU den Frieden in Europa sicherer mache. So ganz eindeutig ist die Sache also nicht. Das ist die Folge einer Art Rede- und Denkverbot über Jahrzehnte hinweg: Weder über die großen noch die kleinen Entscheidungen für Europa konnten die Wähler hierzulande per Referendum abstimmen. Eine wirkliche Debatte über Europa, das Wie und Wozu, hat es in der Bundesrepublik seit den Römischen Verträgen von 1957 nicht gegeben. Irgendwie waren sich ja seither alle Parteien immer einig, daß die europäische Einigung eine feine Sache ist. Aber seit gut einem halben Jahr brodelt es im Kochstudio der EU-Strategen, wird ein Rezept nach dem anderen probiert und mit dem Löffel in den Töpfen anderer Leute gerührt: Kerneuropa, Europa der konzentrischen Kreise, der funktionalen Kerne, der flexiblen Geographie; Europa á la carte und Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Zu viel ist damals, im Dezember 1991 in Maastricht, bei der Aushandlung des Vertrages über die Europäische Union danebengegangen. Einen skandalträchtigen Coup landeten zunächst die Christdemokraten Schäuble und Lamers, als sie im vergangenen September mitten im Bundestagswahlkampf ihre "Überlegungen zur europäischen Politik" präsentierten. Ein fester Kern von integrationsorientierten und kooperationswilligen Ländern, so ihre Idee, soll in einer immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum darstellen. Lamers und Schäuble wußten auch schon, wer in der EU auf dem Oberdeck sitzt und wer im Beiboot mitfährt: Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder, möglicherweise noch Irland und Dänemark. Italien und Spanien aber hätten sich erst einmal zu bescheiden. Besonders eine solche Auswahl der "Kernstaaten" durch die beiden CDU-Politiker - par ordre de mufti - empörte die Europäer in den anderen Hauptstädten und ließ die SPD das Lamers-Schäuble-Papier schnell verurteilen. Vorschnell, wie die "Seeheimer" in der SPD- Bundestagsfraktion meinen. Tatsächlich wäre es wohl besser gewesen, sich an eine Rede von Willy Brandt zu erinnern, die der SPD-Vorsitzende Mitte der siebziger Jahre hielt. Damals schlitterten die neun EG-Staaten durch Währungsturbulenzen und die Erdölkrise - ein erster Anfall von "Eurosklerose" machte sich breit. Nun handele es sich nur noch darum, zu überleben und die Substanz der Gemeinschaft zu bewahren, sagte Brandt im November 1974 vor der Europäischen Bewegung in Paris. Auch wenn das bedeute, daß der Vertrag vorübergehend nicht in allen Punkten angewandt würde. Der ehemalige Kanzler schlug der EG eine Politik der "abgestuften Integration" vor angesichts der großen Unterschiede in den Wirtschaftsdaten mancher Mitgliedsländer. Brandt wörtlich: "Man tut niemandem Unrecht, wenn man unterstreicht, daß die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder die günstigsten Bedingungen aufweisen, um zu einem konzertierten Vorgehen zusammenzufinden, und daß dies zur Zeit nicht der Fall ist in Italien und in Großbritannien." Sicherlich: 1974 ist nicht 1995. Spanien, Portugal und Griechenland haben ihre Militärdiktaturen längst abgeschüttelt und sind unverzichtbare Mitglieder der Gemeinschaft geworden. Vor allem aber steht die EU heute, auf fünfzehn Staaten angewachsen und nach dem Epochenbruch von 1989, vor dem Dilemma, sich nach Osten erweitern und zugleich ihre wirtschaftliche und politische Integration vertiefen zu müssen. Aber ein Punkt in dem ersten Lamers-Schäuble-Papier, so geben heute selbstkritische Stimmen in der SPD zu, ist im Eifer des Bundestagswahlkampfs doch nicht gebührend gewürdigt worden: Wenn die Europäer, so lautet der Grundgedanke des Papiers, aus dem Zwang zur Vertiefung und Erweiterung nicht bald irgend etwas Sinnvolles machten, dann drohe ein "Zurück zum Nationalen und zum Nationalstaat". Eine "unangenehme Wahrheit", so Dieter Schloten und sein wissenschaftlicher Berater Wolfgang Bruckmann. Die beiden wollen am großen Ziel eines europäischen Bundesstaates festhalten und meinen, "daß die politische Aufnahmefähigkeit der EU in ihrem jetzigen Zustand erschöpft ist". Ob aber ausgerechnet Schäuble in übernationalen Fragen als sonderlich berufen gelten muß, darf wohl bezweifelt werden. In seinem Buch "Und der Zukunft zugewandt" (Siedler Verlag, 1994) liest man bekanntlich anderes. Da dröhnt der Choral von der Nation als "Schutz- und Schicksalsgemeinschaft". Ein Blick nach Frankreich, zur anderen Hälfte des europäischen "Motors", wirkt ernüchternd. Denn was die deutschen Sozialdemokraten über Europa denken, spielt in Paris kaum eine Rolle. Die französische Presse beschäftigt sich ausschließlich mit Schäuble und Lamers, obwohl die CDU-Führung kürzlich ein zweites, gründlich verwässertes und im Windkanal des Bundeskanzleramts entworfenes Europa-Papier vorgelegt hat. Gesagt ist jedoch gesagt - das "Kerneuropa" steht. Im französischen Parlament herrscht bei außenpolitischen Debatten die übliche Mischung aus Larmoyanz und Grandeur: Kohl und seine CDU hätten die Regierung blamiert. Was Maastricht II anbelange, stehe die ganze politische Klasse mit leeren Händen da, obwohl Frankreich doch in Europa führen müßte. Der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Paris, Klaus-Peter Treydte, hatte gleich im Dezember vergangenen Jahres Sozialdemokraten aus mehreren EU-Ländern und Osteuropa zu einem Kolloquium geholt - "um mal zu sehen, ob die europäische Linke eine gemeinsame Antwort auf das Kerneuropa hat". Hatte sie nicht. Ein Funktionär der französischen Sozialisten in einer Pause: "Wir tun so, als ob wir auch dagegen sind, aber im Grunde hat die CDU natürlich recht." Denn wer die bösen Buben der EU sind und wer zu den guten Europäern zählt, ist ja nun wirklich kein Geheimnis. Aber eben auch, daß in Frankreich die Mehrheit der Linken wie der Rechten im Grunde keine politische Union wollen, wohl aber eine Entmachtung der Bundesbank. Gut 25 Jahre dauert nun dieses Versteckspiel zwischen Deutschland und Frankreich, bei dem die einen Europa zusammen- und die anderen den großen Nachbarn im Osten lieber einbinden wollen. Das war 1970 so, als Brandt seine Neue Ostpolitik im Westen verankerte und Pläne für eine europäische Währungsunion zum 1. Januar 1980 durchzupauken versuchte. Und das war 1990 so, als sich Kohl neuen außenpolitischen Spielraum für das vereinigte Deutschland im Osten und in der UN durch den Maastrichter Vertrag erkaufen wollte. Zum Schaden der europäischen Integration war das zunächst nicht. Die Unfähigkeit, nationale Interessen klar zu benennen, führte zu so etwas wie einem konstruktiven Mißverständnis zwischen Bonn und Paris - die Integration ging ja voran am Ende der achtziger Jahre. Bei der Revisionskonferenz von Maastricht im kommenden Jahr müssen beide jedoch endlich Farbe bekennen. Und einer wird wohl dabei recht blaß aussehen. Was die SPD vor allem den beiden Großen in der EU als Marschgepäck mitgeben will, steht im europapolitischen Antrag der Bundestagsfraktion, den Heidemarie Wieczorek- Zeul Ende Juni vor dem EU-Gipfel in Cannes eingebracht hat. Der Antrag war die erste umfassende Replik auf die Kerneuropa-Idee der CDU, aber ob die europäischen Sozialdemokraten allesamt auf HWZ-Linie fahren, ist nicht so sicher. Vor allem diejenigen, die sich - wie Finnland - der EU auch aus sicherheitspolitischen Überlegungen angeschlossen haben, setzen nach wie vor auf eine Verschmelzung von WEU und EU. Ähnliches gilt auch für die "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" der EU (GASP). Auch wenn sie als Thema für die Revisionskonferenz "noch nicht realistisch" ist, wie es im Antrag heißt, war die GASP doch eine der Geschäftsgrundlagen, auf deren Basis man sich in Maastricht geeinigt hatte. Verzichten möchte darauf niemand. Wie sich die Einmütigkeit in außenpolitischen Fragen herbeibestellen läßt, ist allerdings schon weniger klar. Der europapolitische Antrag, auf den sich die Fraktion schließlich verständigt hat, legt die Latte für die gemeinsamen außenpolitischen Entscheidungen einigermaßen hoch: Das Europäische Parlament soll volles Mitentscheidungsrecht haben - vorbei wäre es mit der klassischen Aufteilung zwischen einem Parlament, das allein Grundsatzentscheidungen fällt, und einer Exekutive, die für den operationellen Teil verantwortlich zeichnet. Vielversprechender scheint dagegen noch die "Baukasten"-Methode zu sein, mit der sich die Europäer - ebenfalls nach den Vorstellungen der SPD - langsam an eine tatsächlich gemeinsam entschiedene Außenpolitik heranpirschen sollen: Die Erarbeitung einer Gesamtstrategie für den Balkan, die Partnerschaft der EU mit den Mittelmeerländern und auch die Einlösung der Energiesparziele, so wie sie auf der Weltklimakonferenz verabredet wurden, gehören zu diesem Baukasten. Peter Glotz' Diagnose des Zustandes der EU bleibt dennoch richtig. Der Sozialdemokrat hat sie schon 1992 gestellt, während der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages und lange vor den Denkübungen der Christdemokraten Schäuble und Lamers: Die Idee einer politischen Union á la Maastricht gehöre einer anderen Zeit an, sagte Glotz bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Blaupausen aus den Jahren vor 1989 könne man nicht auf die Welt nach 1989 anwenden. Wohl wahr - aber was dann? "Clusters", ist Glotz' Antwort, mehrere föderativ organisierte Staatsgebilde, also ein Europa der "flexiblen Geographie" oder der "unterschiedlichen Dichtigkeit". Hört sich das aber nicht schon wieder ein wenig nach "Kerneuropa" an? Doch Glotz sorgt sich um den nationalkonservativen Zeitgeist im eigenen Land: "Der Kern mutiert", stellte er in seinem jüngsten Buch fest ("Die falsche Normalisierung", Suhrkamp 1994), Machtstaat und Realpolitik sind wieder en vogue in Deutschland. Fragt sich natürlich, ob genau dies des Pudels Kern ist bei den Maastricht II-Visionen der deutschen Konservativen.



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