Mitteilung der SPD-Bundestagsfraktion vom 19. Juli 1995
Peter Glotz
SPD steckt den Weg in die Informationsgesellschaft ab
Eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten der SPD - darunter
Doris Barnett, Arne Börnsen, Edelgard Bulmahn, Hans-
Martin Bury, Wolf-Michael Catenhusen, Freimut Duve, Anke
Fuchs, Eike Maria Hovermann, Otto Schily, Sigrid
Skarpelis-Sperk, Ludwig Stiegler, Jörg Tauss, Wolfgang
Thierse und Ute Voigt - hat in den letzten Wochen ein
Eckwerte-Papier:
"Informationsgesellschaft - Medien und
Informationstechnik" entwickelt, das den aktiv und sozial
zu gestaltenden Weg in die Informationsgesellschaft
absteckt.
Zu diesem Eckwertepapier erklärt der bildungs- und
forschungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,
Peter Glotz, der die Federführung für das Papier
übernommen hatte:
- Wenn - unter dem populären Stichwort Datenautobahn -
die Neuerungen beschworen werden, die eine moderne
Telekommunikationsinfrastruktur mit sich bringen, wird
vor allem über einige wenige, rasch profitable
Multimediaanwendungen gesprochen: Über die Vervielfachung
der Fernsehkanäle, Near-Video-on-demand, Video-on-demand,
Computerspiele usf., also Unterhaltungsangebote. Es geht
aber um viel mehr. Es geht um die internationale
Vernetzung von Betrieben, Schulen und Ausbildungsstätten,
von Hochschulen und Bibliotheken, von Arztpraxen und
Krankenhäusern, von dezentralen Arbeitsplätzen aller
Art mit dem Ziel, eine neue Form der Kommunikation, der
Datenbewältigung und der Effizienzsteigerung möglich
zu machen. Es geht um eine Neubestimmung der Rolle des
kommunizierenden Menschen als gleichberechtigtem
Teilhaber in einem neuorganisierten gesellschaftlichen
Kommunikationsprozeß, um die "Änderung des Schaltplanes"
(Vilem Flusser). Der Zapper im Mediamix, der in einer
digitalen Welt mit Hilfe der Instrumente Telefon,
Personalcomputer und Fernseher auf einem hochmodernen
"Netz" Botschaften und Meinungen austauscht, lehrt und
lernt, sich unterhält, anbietet, kauft, bezahlt, arbeitet
und Geschäfte macht, lebt anders, kann jedenfalls anders
leben als die "Couch Potatoe", die sich nur von
Sendezentralen bestrahlen läßt. Die Anwendung der
Interaktivität auf das Erziehungswesen (Telelearning),
die Arbeitswelt (Telecommuting/ Telearbeit), die Medizin,
Urlaub und die tägliche Lebensbewältigung, die
"Reproduktion" der Arbeitskraft durch elektronische
Dienstleistungen (Teleshopping, Telebanking usf.) sowie
die Einführung elektronischen Geldes und die Möglichkeit
unbegrenzten Austausches von Informationen und Meinungen
(Internet und andere Datennetze) verändert ganze
Gesellschaften grundlegend. Diese neuen Technologien
können - durch Zeitgewinn - den Lebenstag des Menschen
verlängern; sie können aber auch zu "Zeitenteignung",
Ausbeutung und Selbstausbeutung der Arbeitskraft
mißbraucht werden. Deshalb können die neuen multimedialen
Produkte und Dienste nicht einfach dem Selbstlauf des
Marktes überlassen werden; es bedarf an den richtigen
Entscheidungspunkten überlegter Regulierungen und
Deregulierungen.
- Es ist klar: Die Multimedia-Technologien werden den
Arbeitsmarkt nachhaltig beeinflussen. Im Bereich Handel
und Banken sind erhebliche Strukturveränderungen zu
erwarten. Die internationalen "Datenautobahnen" ebnen
allen Anbietern den Weg zu den Kunden und sorgen für eine
nahezu perfekte Transparenz und Vergleichbarkeit von
Preisen und Produkten. Den Kauf- und Geldhäusern droht
ein harter Konkurrrenzkampf sowohl untereinander, als
auch gegen neu auf den Markt drängende Wettbewerber aus
anderen Branchen. Es wird sich ein Konzentrationsprozeß
beschleunigen, der mit einem massiven Verlust an
Arbeitsplätzen einhergeht. Auf der anderen Seite werden
völlig neue Berufsbilder und Dienstleistungsangebote
entstehen. So z.B. auf den Gebieten der Telekooperation,
der Fernberatung und der Telearbeit. Je mehr Telepräsenz
betriebliche Prozesse ersetzt und Kommunikation in
Datennetzen stattfindet, desto mehr verlieren Betriebe
ihre identitätsstiftende Wirkung. Unternehmenskulturen
müssen neu definiert werden. Virtuelle Betriebe haben
keine der oft beklagten Standortnachteile, aber auch
keine Werkstore, an denen Streikposten für ihre Rechte
kämpfen können. Den Gewerkschaften stehen harte Zeiten
bevor. Es liegt am politischen und gewerkschaftlichen
Engagement, ob Telearbeit mit sozialer Isolation,
Karriereknick und einer Aushöhlung von Arbeits- und
Sozialrechten in Verbindung gebracht wird oder ob künftig
hochqualifizierte und mit hoher Eigenständigkeit
verbundene Telearbeitsplätze entstehen. Beide Prozesse
werden ablaufen. Wir müssen den ersten sozial begleiten,
den zweiten aber fördern und vorantreiben.
Die Politik darf sich nicht - wie bei den ersten
Diskussionen um die Mikroelektronik - auf die primitive
Alternative Jobkiller/Wachstumsparadies festlegen lassen.
Sie muß sich vor Allmachtsfantasien ("Wir halten die
technische Entwicklung an") genauso hüten wie vor
technokratischer Euphorie. Klar ist: Niemand kann die
Arbeitsmarktbilanz der digitalen Revolution heute auch
nur einigermaßen exakt vorhersagen. Von den
Arbeitsplätzen, die es vor 200 Jahren gab, sind
inzwischen 90% verschwunden. Niemand hätte damals
vorhersagen können, wie die in der Landwirtschaft und im
Handwerk beschäftigte Bevölkerung einige Jahrzehnte
später beschäftigt werden würde. Weder zielloses
NachVorne-Stürmen noch hilflose Verhinderungsstrategien
führen weiter. Notwendig ist eine kritische,
international orientierte und auf Dauer angelegte Debatte
von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften über Chancen
und Risiken der Informationsgesellschaft.
- Kommunikationspolitisch ist eine "Kehre" nötig:
Von der Programmkontrolle zum Rezipienten-Training. Die
Vermittlung von "Media and Computer-Literacy" wird zu
einer entscheidenden Ressource. Die Chance, Programme
gegen "Gewalt" oder "Pornographie" abzusichern,
sinkt von Jahr zu Jahr. Die Kommunikationspolitik muß also die
kommunizierende Gesellschaft in den Stand setzen, auch
einsinnige Propaganda, Horrorvideos und den hektischen
Zeichenwechsel der Videoclips, also die "Time-space-
compression" zu "verdauen". Man kann den Abschied
von der Allmacht der Sendezentralen und der Passivität des
Rezipienten aber auch positiv interpretieren. Die neue
Frage wird sein, was neue Spielräume der Wahrnehnung, der
Erkenntnis und damit des souveränen Verhaltens eröffnet
und wie man - z. B. durch eine systematische
Medienerziehung in allen Schulen und auf allen Ebenen
unseres Bildungssystems - die Menschen befähigt, mit den
neuen Techniken sinnvoll umzugehen. Die deutsche Politik
muß sich um die Entwicklung eines neuartigen Begriffs der
"Kommunikationskultur" bemühen.
- Wir haben nicht die Option, die neuen Medien und
damit die Informationsgesellschaft zu wollen oder nicht
zu wollen. Sie wird kommen; zum Teil ist sie schon da.
Aber wir haben die Option - und die politische Aufgabe -
die Informationsgesellschaft zu gestalten. Die Gefahr
liegt darin, daß beim Wettlauf zwischen dem Technik-Igel
und dem Politik-Hasen der Igel immer schon da ist und die
Politik hinterherhechelt. Die Gefahr liegt auch darin,
daß niemand so recht einzuschätzen vermag, wo sich
die Wunschträume der Medienindustrie mit der künftigen
Bereitschaft der Konsumenten, die neuen Dienste auch
anzunehmen und zu nutzen, treffen.
Notwendig ist eine systematische und vielseitige Debatte,
um die bisher isoliert diskutierenden Partner an einen
Tisch zu bringen. Die säuberlich in Schachteln mit der
Aufschrift "Länder", "Bund" und "Europa"
verpackte
Politik beobachtet noch atemlos erstaunt, wie schnell die
Entwicklung der Computer-, Übertragungs- und
Vermittlungstechnik die Grundkonstellationen des
Kommunizierens verändert. Rundfunkrechtliche
Konzentrationskontrolle und kartellrechtliche
Fusionskontrolle müssen genauso zusammengebracht werden,
wie Kultur und Dienstleistung, Medien-, Post-,
Technologie-, Bildungs- und Industriepolitik. Die
Schachteln zerfallen. Der Multimediamarkt braucht
Ordnungspolitik aus einem Guß.
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