(Virtuelles Parlament)
Protokoll der 211. Sitzung des Deutschen Bundestags
Bonn, den 25. Februar 1994
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Präsidentin Dr. Rita Süssmuth:
Als nächster spricht der Kollege Heribert Scharrenbroich.
Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte festhalten - etwas anderes
würden sicher fast alle von uns ablehnen -: Der Bundestag entscheidet
heute nicht über Kunst. Wir entscheiden nur, ob wir zulassen, daß
sich an diesem Monument der deutschen Geschichte Kunst darstellt. Nur um diese
Erlaubnis geht es heute, um nichts anderes.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)
Ich möchte, sehr verehrter Herr Kollege Hirsch, auch auf Ihre Argumente
eingehen. Sie sagen, Sie wundern sich, daß die Beliebigkeit der
Argumente hier so einfach hingenommen wird. Ich glaube, es ist doch gerade
typisch für ein Kunstwerk, daß die Zuschauer, die Betrachter,
diejenigen, die sich für die Kunst begeistern, das Recht haben, das
Kunstwerk auch anders zu interpretieren, als der Künstler es selbst getan
hat.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wie oft haben wir die Gedichte des alten Goethe interpretiert und sicher vieles
hineininterpretiert, woran dieser gar nicht gedacht hatte. Das ist doch das
Recht desjenigen, der sich mit Kunst befaßt.
Ich danke Herrn Kollegen Hirsch auch dafür, daß er auf die
Geschichte eingegangen ist, die mit diesem Gebäude verbunden ist.
Auch wenn ich gerne meine Begeisterung für dieses Kunstwerk als Sprecher
der doch beachtlichen Zahl der Unionsabgeordneten darstellen möchte, die
für dieses Projekt sind,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
obwohl ich sehr gerne über die Ästhetik sprechen möchte,
möchte ich jetzt als Politiker darstellen, welches Interesse wir als
Deutscher Bundestag daran haben sollten, daß diese Verhüllung
stattfindet. Den Zweiflern in der Bevölkerung kann man sehr wohl
darstellen, welch großen Nutzen diese Verhüllung für uns hat -
für den Parlamentarismus, für Deutschland und für Berlin. Man
kann es festmachen an der Frage, die ja immer wieder gestellt wird, sehr
wahrscheinlich auch heute - Herr Hirsch hat es auch gesagt -: Warum nicht das
House of Parliaments, warum nicht das Capitol?
(Zuruf von der F.D.P.: Warum nicht das Brandenburger Tor?)
Nun, erstens hat der Künstler das Recht, das Objekt selber
vorzuschlagen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und wir können ihm nicht vorschlagen, was er zu verhüllen hat und was
er für seine Kunst für adäquat hält.
(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber wir können nein sagen!)
- Wir können nein sagen, natürlich. Das steht heute zur Debatte. Herr
Kollege Rüttgers, wenn Sie das jetzt so dazwischenrufen, dann möchte
ich auch auf einen anderen Einwurf des Herrn Kollegen Hirsch eingehen. Auch ich
bedaure es, daß wir heute in dieser Frage, die wir eigentlich mit etwas
mehr Leichtigkeit diskutieren sollten, von den Gegnern des Projekts zu einer
namentlichen Abstimmung gezwungen werden. Ich halte das nicht für
gut.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der
PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vielleicht sollte man bei der Abstimmung auch diese Stilfrage mit bedenken.
(Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Wer hat denn den Antrag eingebracht? -
Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wer hat denn angefangen?)
- Es ist doch wohl unser gutes Recht, daß wir uns mit den Gedanken des
Künstlers befassen. Herr Rüttgers, das dient auch dem Ruf dieses
Parlaments.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte auch ein anderes Mißverständnis aufklären. Es
wird so oft gefragt: Hat denn dieser Deutsche Bundestag nichts Wichtigeres zu
tun? Darüber kann man streiten. Aber ich möchte hier klarstellen,
daß alle Befürworter der Auffassung waren, darüber sollte der
Ältestenrat entscheiden. Diejenigen, die das Projekt ablehnen,
waren der Auffassung, daß wir es hier diskutieren sollten. Das kann man
so sehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist sicher gut, daß man meint, man sollte vor der Öffentlichkeit
die Argumente darlegen, warum man dafür ist bzw. warum man dagegen ist.
Diese Gelegenheit wollen wir jetzt nutzen.
(Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Und dann abwarten!)
Erstens. Warum nicht die anderen Parlamentsgebäude? - Nur der
Reichstag ist das Parlamentsgebäude eines Staates, der seine Spaltung
überwunden hat.
(Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Deswegen muß man ihn zudecken?)
Deswegen ist es für mich so interessant, daß dieses Gebäude
verhüllt wird. Das ist gerade der Gedanke von Christo, der aus dem
Ostblock geflüchtet ist, daß er dieses Parlament, dieses
Gebäude verhüllen will, weil es früher an der Nahtstelle
zwischen Ost und West stand. Dem gegenüber sollten wir uns meines
Erachtens aufgeschlossen zeigen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt befindet sich dieses Gebäude an der Drehscheibe zwischen West und
Ost.
Ich sage auch: Dieses Parlament verkörpert wie kein anderes Tiefen und
Höhen auf dem Weg zur Demokratie. Gerade in der jetzigen
dramatischen Situation, in der Länder in Ost- und Mitteleuropa um den
Aufbau der Demokratie ringen, kann man an diesem Beispiel doch darstellen, wie
schwierig es ist, zur Demokratie zu kommen. Die Verhüllung wird eine
grandiose Gelegenheit sein, daß wir über den Parlamentarismus
diskutieren und daß wir unsere Bevölkerung einladen, mit uns
über den Parlamentarismus zu diskutieren. Diese Chance sollten wir nicht
vorübergehen lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste sowie
bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir sollten daran erinnern - das wird in diesen Tagen geschehen, es ist aber
auch schon vorher geschehen -, daß im Reichstag das Parlament der
Monarchie die Demokratie abgetrotzt hat, daß in ihm die braunen Despoten
die Demokratie geknebelt haben und daß in ihm Geschichte geschrieben
wurde, die dann wiederum Grundlage für unser Grundgesetz wurde, eine der
besten Verfassungen dieser Welt. Diese Erfahrungen sind in diesem Gebäude
konzentriert.
Deswegen sage ich: Geben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Weg frei,
daß sich unsere Bürgerinnen und Bürger mit unserer
Geschichte auseinandersetzen können, daß sie dazu eingeladen
werden und vielleicht sogar von der Weltöffentlichkeit dazu gezwungen
werden. Die Geschichte wird enthüllt, wenn der Reichstag verhüllt
wird. Endlich gelangt das Parlament in das Interesse der Öffentlichkeit.
Für uns Befürworter ginge überhaupt nicht die Welt unter, wenn
die Entscheidung heute negativ ausfiele. Wir diskutieren, ob Kunst zugelassen
wird. Deswegen bitte ich aber auch die Gegner, daß sie sich ruhiger mit
diesen Argumenten auseinandersetzen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir sollten Deutschland und Berlin die Chance geben, wieder auf die
Weltbühne der Kunst zurückzukehren. Vielleicht ist das der
Grund, warum sich alle Regierenden Bürgermeister von Berlin, ob
Sozialdemokraten oder Christdemokraten, für dieses Projekt eingesetzt
haben. Das sollten wir doch zur Kenntnis nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sowie die Abgeordneten der PDS/Linke Liste)
Die Begeisterung, die eigentlich bei allen Kunstwerken Christos, nachdem sie
vollzogen worden sind, auch die Gegner erfaßt hat -
(Peter Conradi [SPD]: So ist es!)
denken Sie einmal an die Geschichte mit dem Pont Neuf! -, sollte uns doch zu
denken geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten das etwas
vorwegnehmen, das sollte uns eine Lehre sein, und wir sollten uns von dieser
Begeisterung etwas anstecken lassen.
Man muß sich einmal vorstellen, wie dieses Gebäude nach der
Verhüllung im Licht erscheint. Es wird keine Plastikfolie verwendet. Ich
nehme mir die Freiheit, Ihnen einmal das Material zu zeigen. Mit dem
Material, das ich hier in der Hand habe - es ist durchsichtig -, wird das
Gebäude in einer sehr würdigen Form verhüllt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich lasse es gern gleich einmal rundgehen, damit sie es anfassen können.
Meine Damen und Herren, gerade in bezug auf die Entscheidung, die jetzt
bevorsteht, auch was den Umbau des Reichstags angeht, ist es doch phantastisch,
zu sehen, wie durch diese Verhüllung die Hauptlinien des
Reichstagsgebäudes deutlich werden. Wer sich die Modelle des
Reichstagsgebäudes anschaut, wird sehen, wieviel jetzt noch fehlt und was
das, was noch da ist, für ein Klotz ist. Ich möchte mein
Plädoyer für das Projekt Christo mißbrauchen, um Sie zu bitten,
sich die Modelle anzuschauen und zu überlegen, ob nicht sinnfällig
wird, daß dort etwas fehlt. Gerade nachdem ich mir die Modelle von
Christo angesehen habe, bin ich ein begeisterter Anhänger der Auffassung,
daß das Reichstagsgebäude wieder eine Kuppel braucht, damit
es nicht so klotzig in der Welt steht. Auch dafür kann man dieses
Kunstwerk gebrauchen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, geben Sie uns Deutschen die Chance,
daß wir den Reichstag wieder aufwerten und daß wir das Interesse
der Bevölkerung für den Reichstag noch vergrößern.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. und bei der SPD, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)
Foto: Aleks Perkovic © Wolfgang Volz