Präsidentin Dr. Rita Süssmuth:
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Gerster (Mainz), Heribert Scharrenbroich, Peter Kittelmann, Dr. Peter Struck, Peter Conradi, Freimut Duve, Manfred Richter (Bremerhaven), Ina Albowitz, Uwe Lühr, Andrea Lederer, Werner Schulz (Berlin) und weiterer Abgeordneter
Verhüllter Reichstag - Projekt für Berlin - Drucksache 12/6767 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache über den Antrag namentlich abstimmen werden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Peter Conradi.
Peter Conradi (SPD):
Wir stimmen nicht über Kunst ab. Adolf Arndt, der Kronjurist der SPD in den fünfziger und sechziger Jahren hat 1960 in seiner großen Rede "Demokratie als Bauherr" dazu gesagt:
Nicht nur ist in einer Demokratie niemand da, der bestimmen kann, was Kunst ist, sondern von ihrem eigenen Wesen her darf keiner da sein, der sich dessen von Staats wegen mit Geltung für alle unterfangen dürfte. Demokratie, so Adolf Arndt, beruht nicht allein auf Abstimmung, "sondern grundlegend zuerst auf Übereinstimmung hinsichtlich des Unabstimmbaren, welche Übereinstimmung die Möglichkeit des Zusammenlebens begründet und das Abstimmbare aussondert und zur Wahl freigibt".
Es gibt die letzten Dinge; über die letzten Dinge kann kein Parlament mit Mehrheit entscheiden. Es gibt die vorletzten Dinge, über die wir hier mit Mehrheit verbindlich für alle entscheiden. Das ist Demokratie. Über Kunst kann nicht mit Mehrheit entschieden werden; sie gehört zum Bereich des Unabstimmbaren.
Wir sind von unseren Wählerinnen und Wählern als ihre Vertreter hierher gewählt worden, um über Steuern und Straßen, über Waffenexporte und Wohnungsbau, über Asylrecht und Arbeitslosigkeit abzustimmen, nicht über Kunst. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, macht die Debatte so schwierig; denn wir reden über eine künstlerische Aktion, die dem einen gefällt und dem anderen nicht gefällt. Ich bitte Sie alle, diese Debatte nicht nur in Respekt voreinander, sondern auch in Respekt vor dem Künstler und vor der Kunst zu führen.
Adolf Arndt empfiehlt dem Bauherrn Demokratie, "sich für das Reifen seiner ihm nicht abnehmbaren Entscheidung - als Bauherr - des sachkundigen Rates freier und mit ihrem Namen verantwortungsbereiter Bürger zu vergewissern". Deshalb lassen wir uns bei öffentlichen Bauten der Gemeinden, der Länder und des Bundes von Preisgerichten, von unabhängigen Fachleuten beraten. Manchmal irren die Preisrichter; das haben sie mit uns Politikern gemeinsam. Hier, bei dem Projekt Christos, raten die Fachleute, die Künstler und die Kunstkritiker uns mit überwältigender Mehrheit - fast ohne Ausnahme -, Christo zu gestatten, das Reichstagsgebäude, unser zukünftiges Bundeshaus, zu umhüllen.
Das sind ihre Argumente für das Projekt:
Erstens. Christos Umhüllung des Gebäudes mit Stoff gibt dem Bau eine neue, überraschende ästhetische Gestalt. Er eröffnet uns die Chance, diesen Bau in seiner Eigenart anders wahrzunehmen. Die zeitweilige Verhüllung wird unsere Sicht schärfen - Erkenntnis durch Verfremdung.
Zweitens. Die Umhüllung mit Stoff ist ein großes Thema der Kunst. Die Griechen umhüllen ihre Statuen mit leichten Gewändern. Streng sind die Gewänder der gotischen Madonnen, prächtig und üppig ist das Spiel des Stoffs in den Gewändern der Heiligen Drei Könige im Barock. Immer unterstreichen der Stoff und seine Behandlung die Kostbarkeit, den Wert des Umhüllten, so wie ein wertvolles Geschenk durch die Umhüllung wertvoller und nicht weniger wertvoll wird.
Drittens. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäudes kostet den Steuerzahler nichts. Er bezahlt diese Aktion selbst aus den Erlösen seiner Zeichnungen, seiner Bilder, seiner Lithographien, seiner Bücher und Plakate. In einer Welt, in der Kunst vor allem nach ihrem Preis gemessen wird, ist diese Kunstaktion, die man nicht bezahlen kann, die man nicht kaufen kann, eine Erinnerung daran, daß Kunst mehr ist als Ware.
Viertens. Christos Umhüllung bringt das Element des Zeitlichen, des Vergänglichen in unser Bewußtsein. Nur 14 Tage dauert die Aktion. Aber sie wird in vielen Bildern festgehalten. Sie wird im Fernsehen, in den Zeitungen um die Welt gehen, und sie wird im kulturellen Gedächtnis der Menschheit so bleiben wie der Running Fence in Kalifornien oder die umhüllte Brücke in Paris.
Soweit die Argumente der Fachleute, der Kunstkritiker und Künstler. Ich will ein politisches Argument anschließen. Bei allen Projekten Christos ist der lange, oft jahrelange Weg von der Idee bis zur Ausführung Teil des Projekts. Die öffentliche Diskussion über seine Arbeit, über deren Sinn und Bedeutung ist unverzichtbares Element seiner künstlerischen Arbeit. 22 Jahre lang hat Christo mit zahllosen Politikern, mit Journalisten, mit Künstlern, mit Kritikern, mit Bürgerinnen und Bürgern über die Umhüllung des Reichstagsgebäudes gesprochen.
Mich beeindruckt diese Beharrlichkeit,
diese Kraft zur Vision, das unmöglich Erscheinende doch möglich zu machen. Das ist eine politische, ja eine demokratische künstlerische Aktion, die nicht elitär über den Menschen steht, sondern die Menschen einbezieht. Hätten wir doch in der Politik solche Visionen, solche Beharrlichkeit, so langen Atem und solche Kampagnen! Meine Fraktion hat zweimal über das Projekt diskutiert. Wir haben nicht abgestimmt. Es gibt bei uns Befürworter - ich hoffe: viele - und Kritiker - ich hoffe: wenige.
Ich nehme die Einwände gegen das Projekt ernst und will mich mit ihnen auseinandersetzen. Da wird gesagt: Wirtschaftskrise, Staatsverschuldung, rechtsradikale Gewalt, Millionen Arbeitslose, Zukunftsangst und Resignation - und der Bundestag diskutiert über Kunst. Habt ihr nichts Wichtigeres zu bereden, werden wir gefragt.
Ich frage dagegen: Soll, weil es Not und Angst gibt, weil es Krieg und Arbeitslosigkeit gibt, nicht mehr über Kunst geredet werden?
- Herr Mahlo, ich habe am Anfang ausgeführt, daß hier nicht über Kunst entschieden wird. Wir werden nicht hierher gewählt, um zu entscheiden, was Kunst ist. Wir entscheiden hier, ob der Reichstag für diese Aktion freigegeben wird.
Der Bundeskanzler hat in seiner Hamburger Parteitagsrede, deren Passagen über die SPD ich natürlich pflichtschuldig mit Abscheu und Empörung zurückweise --
- Das müssen Sie mir noch gestatten. Ich will ihn jetzt gleich loben, Herr Rüttgers.
- Geduld, Geduld!
Herr Kohl hat als Parteivorsitzender in seiner Rede die anrührende, schöne Geschichte von Vernon Walters erzählt, der im Elend der Nachkriegsjahre Hoffnung in Deutschland sah, weil eine Familie in einer Kellerwohnung Blumen in einer Schale auf dem Tisch hatte. - Ein schönes Bild.
Damals, im Elend der Nachkriegszeit, blühte die Kunst in Deutschland, blühten Theater, Literatur, Malerei und Kunst. Das alles war für die Menschen lebens-, überlebenswichtig. Die Ruhrfestspiele wurden nicht in Zeiten des Wohlstands, sondern damals in der Zeit der Armut gegründet.
Was ist das für ein armseliges Argument, in einer Zeit der Not, der Krise müsse zuerst auf Kunst verzichtet werden? Umgekehrt: Weil es Krieg und Arbeitslosigkeit gibt, weil es Angst und Mutlosigkeit gibt, weil es Resignation und Phantasielosigkeit gibt, wollen wir mit dieser Aktion ein positives Zeichen, ein schönes, leuchtendes Signal setzen, das Mut und Hoffnung macht und Selbstvertrauen ausstrahlt. Übrigens: Das Projekt schafft ja Arbeit. Der Stoff muß gewebt werden; die Bahnen werden genäht, Bauarbeiter, Studenten, sogar Alpinisten werden dort beschäftigt.
Und so wie in Frankreich, wo Chirac zuerst das Projekt zur Umhüllung des Pont Neuf als Marotte einer elitären Minderheit abtun wollte und dann, als Hunderttausende, ja Millionen sich daran begeisterten, immer schon dafür war, so werden auch bei uns die Kritiker von heute morgen von der Schönheit und Kraft dieses Projekts begeistert sein.
Andere sagen: Dafür gibt es Geld, aber bei Arbeitslosen und Kindergärten spart ihr. Noch einmal: Christo finanziert das Projekt selbst, ohne öffentliche Mittel. Ich habe übrigens nicht gehört, daß irgend jemand gefordert hat, wir sollen wegen der Arbeitslosigkeit die Oper oder die Museen schließen. Ich verstehe, daß einige von uns Sorge, ja Angst vor den Wählern haben, sie könnten diese Aktion mißverstehen. Doch es liegt zuerst an uns selbst, den Menschen diese Aktion zu erklären, (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Warum denn?) dafür um Verständnis zu werben, ihnen deutlich zu machen, daß diese Umhüllung weder die deutsche Geschichte noch das Reichstagsgebäude beleidigt, sondern daß diese Umhüllung ein schönes künstlerisches Zeichen für unseren Neuanfang in Berlin ist, und das alles ohne Steuergelder.
Wer hat hier Angst vor dem Wähler? Angst ist kein guter Ratgeber, weder in der Kunst noch in der Politik. Hier ist Mut gefragt, nicht Kleinmut. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) Wieder andere sehen die Würde des Hauses in Gefahr. Ist es denn Angst vor dem Ungewohnten, vor dem Neuen? Warum sollten wir uns nicht 14 Tage lang einer neuen Erfahrung aussetzen? Kunst ist oft neu, ist oft ungewohnt. Auch Politik sollte das gelegentlich sein.
Sind wir als Politiker nicht bereit, an dem Ort, an dem wir einmal arbeiten werden, etwas Neues, Ungewohntes zuzulassen? Was soll diese Angst um die Würde des Hauses, die durch die Umhüllung mit Stoff gefährdet sein soll? Da wüßte ich vieles andere, das die Würde, das Ansehen des Parlaments eher beschädigt.
Die Würde unseres Hauses sei gefährdet, so befürchteten einige, als wir nach dem Auszug aus dem Wasserwerk dort drüben Kabarett machen wollten. Ohne falsche Bescheidenheit: Ich glaube, "wir Wasserwerker" haben mit unseren lockeren Reden und Liedern über das Parlament mehr für das Ansehen des Parlaments getan als mancher Würdenträger mit vergiftenden Reden.
Wie brüchig, fragt Wolfgang Rainer in der "Stuttgarter Zeitung", muß unser demokratisches Selbstverständnis sein, wenn es von der Umhüllung des Reichstagsgebäudes durch Stoff verletzt wird? Es geht nicht um ein "ironisches Verhältnis des deutschen Volkes zu seiner Geschichte", wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" grämlich befürchtet. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäudes markiert einen Neubeginn, einen neuen Abschnitt in der Geschichte dieses Gebäudes, das danach unser Bundeshaus sein wird, ein neues Kapitel in der Geschichte der deutschen parlamentarischen Demokratie, und das kann ein Zeichen werden für ein selbstbewußtes, gelassenes, tolerantes Parlament, offen für Neues, neugierig auf Ungewohntes, mutig in einer Zeit verbreiteter Verzagtheit.
Ein sanftes Zeichen wird es sein in einer Zeit, in der die Bilder von Gewalt geprägt sind. Wenn die Bilder vom umhüllten Reichstagsgebäude im Fernsehen um die Welt gehen, werden das andere, bessere, friedlichere Bilder von Deutschland sein als Bilder der Gewalt von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda.
22 Jahre lang bin ich Mitglied dieses Hauses, so lange, wie Christo an diesem Projekt arbeitet.
- Darüber entscheiden nicht Sie, sondern die Wähler. Ich halte das Parlament für eine großartige, für eine wunderbare Einrichtung, in der wir über das Zusammenleben der Menschen, die uns hierher geschickt haben, debattieren und abstimmen. Ich bin sicher, die Umhüllung unseres zukünftigen Parlamentsgebäudes, des Reichstagsgebäudes auf seinem Weg zum Bundeshaus wird dem Gebäude, wird dem Deutschen Bundestag und der deutschen Demokratie nach innen und außen gut tun. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu diesem Projekt.