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Virtuelles Parlament
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Rudolf Speth

Der Reichstag als politisches Kollektivsymbol

Anmerkungen zum deutschen Nationalmythos

Nach dem Kampf
© Panin-Petrussov/Voller Ernst

2. Politische Mythen

Der Reichstag ist aber nicht nur steinernes Monument und Kollektivsymbol, sondern er ist eingebettet in und Teil der nationalen Geschichte. Er ist Teil der deutschen nationalen Mythologie. Entstanden ist die Idee, daß der neue deutsche Nationalstaat ein neues Parlamentsgebäude nötig hat, nach dem Sieg über Frankreich, weil das Abgeordnetenhaus in der Leipzigerstraße zu klein geworden und nicht repräsentativ genung war.

Worum es ging, und welche Schwierigkeit damit verbunden war, drückte Wallot in einem Brief folgendermaßen aus: "Eins nur bedaure ich stets von Neuem, das nämlich, daß wir ein nationales Bauwerk bauen, ohne daß wir einen nationalen Stil besitzen." (Wallot 1890)(4) Was Wallot hier bezüglich des Stils des Bauwerks beklagt, der ja dann später von den Kritikern genau des Eklektizismus geziehen worden ist(5), gilt zuallererst dem Nationalen selber. Der Stil des nationalen Parlamentsgebäudes ist nur Ausdruck eines fehlenden nationalen Konsenses und nationalstaatlichen Selbstverständnisses(6). Der Nationalstaat wurde mit Blut und Eisen geschaffen, verfassungsrechtlich war er ein Fürstenbund mit einer alles dominierenden monarchischen Spitze und einer steckengebliebenen Parlamentarisierung des politischen Systems(7). Der fehlende Nationalstil, die mangelnde architektonische Einheitlichkeit des Reichstages war Ausdruck der mangelnden Geschlossenheit und Unvollendetheit des Nationalstaates. Umso notwendiger war es daher, auf die nationale Mythologie und auf die Mythisierung der Nation auszuweichen oder von dort her die "Reichseinigung" zu erwarten. Wallots Bau ist hier Teil der Mythisierung des Nationalen.

Daß die Nation zu einem mythischen Projekt wird, hängt damit zusammen, daß sie etwas ist, was nicht nur durch politische Strategien hergestellt wird. Die Nation ist die Verbindung von kultureller und politischer Identität. Der politische Mythos (Dörner 1995) benutzt eben nicht nur Kollektivsymbole, sondern narrative Strategien, die eigene Identität zu formen, abzugrenzen und auf bestimmte Gründungsereignisse zurückzuführen. Politische Mythen sind Strategien, die Symbole, Bildarsenale, Geschichten, historische Orte, Sagen, Legenden und Ereignisse zu narrativen Strukturen verbinden. Ihre Funktion ist, Sinndefizite, die durch soziale und politische Umbrüche auftreten, zu beheben, den politischen Verband mit Deutungsmustern auszustatten und eine kollektiv wichtige Wirklichkeit zu etablieren. Politische Mythen, die auch immer strategisch-instrumentell verwendet werden, dienen auch der Legitimation und damit dem Zusammenschluß des Alten und des Neuen (Harth 1992). Wie alle Mythen stellen politische Mythen Muster dar, die Handlungen deuten und Ereignisse verknüpfen. Diese Muster sind narrativer Art, d.h. sie haben Qualitäten von Erzählungen und eine Akteursstruktur, und sie sind zweideutig. In politschen Mythen aber wird diese Zweideutigkeit, die vor allem für die ästhetische Mythenrezeption wichtig ist, eliminiert. Die politischen Mythen sind Gebilde, die in ihrer Komplexität bereits reduzierte Muster sind, in denen Ambivalenzen getilgt sind zugunsten der Stringenz der Handlungen und Handlungsmöglichkeiten. Politische Mythen dienen daher auch immer der Mobilisierung und Formierung. Nicht alle Formen von Erzählungen sind aber Mythische Narrationen, sondern nur solche, die bestimmte kulturelle oder biologische Aktionsprogramme und Muster benutzen(8).

Was aber hat der Reichstag mit dem politischen Mythos der Nation zu tun? Die Nation wird im 19. Jahrhundert nicht nur angestrebt als politisches Projekt der Errichtung des Nationalstaates, sondern ist gleichzeitig ein Prozeß der Formierung der Nation selbst aus unterschiedlichen territorialen Gebieten, unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen, divergierenden politischen Vorstellungen und unterschiedlichen kulturellen und konfessionellen Traditionen. Der Nationalismus erfüllt die Funktion einer politischen Religion. Der Mythos der nationalen Regeneration mit seinen Zielen einer nationalen politischen Selbstbestimmung hat als politisches Projekt anfangs die Befreiung von der französischen Hegemonie zum Ziel und schließlich die Errichtung einer neuen Legitimationsbasis politischer Herrschaft im Volk. Dieses Volk ist der Gegenstand der nationalen Identitätsbildung, die sich in den Schlagworten "National-Theater", "National-Literatur", "National-Sprache" kristallisiert. Die Nation war sowohl kulturelles als auch politisches Projekt mit dem Ziel, kulturelle und politische Identität zur Deckung zu bringen. Der nationale Mythos, zu dem Elemente des Reichsmythos, des Germanenmythos, der Frankophobie und liberale Komponenten nationalstaatlicher und bürgerlicher Selbstbestimmung gehörten, sollte patriotische Gefühle wecken und den einzelnen in eine Massenbewegung integrieren. Er war auch eine Bewegung der Integration der unterschiedlichen Reichsgebiete, vor allem derjenigen, die sich wie Schleswig oder das Elsaß und Lothringen in einer Randlage befanden. Er war aber auch innere Mobilisierung und Formierung mit dem Ziel der inneren Staatsbildung und Demokratisierung. Der Nationalismus hat nach der 48er Revolution den Charakter geändert und die Einheit vor die Freiheit gesetzt; er hat mit der "zweiten Reichsgründung" nach 1878 wiederum seinen Charakter geändert und ist zum organisierten Nationalismus geworden, mit den "deutsch-nationalen" Elementen.

Der Reichstag stammt ideengeschichtlich aus der Frühphase des Nationalismus und enthält Elemente demokratischer Selbstbestimmung. Errichtet wurde er aber in einer Phase, in der nicht mehr die demokratische Selbstbestimmung im Vordergrund stand, sondern die Monumentalisierung und Sakralisierung des Reiches. Hier kommen nun die myhtischen Aspekte noch viel deutlicher zum Vorschein. Er ist nicht nur die Symbolisierung der Volkssouveränität und der nationalen Selbstbestimmung. Der Reichstag als Teil der Nationalmythologie erzählt vielmehr selbst die Geschichte der Nation.


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