Nach dem Kampf
© Panin-Petrussov/Voller Ernst
Worum es ging, und welche Schwierigkeit damit verbunden war, drückte
Wallot in einem Brief folgendermaßen aus: "Eins nur bedaure ich stets von
Neuem, das nämlich, daß wir ein nationales Bauwerk bauen, ohne
daß wir einen nationalen Stil besitzen." (Wallot 1890)(4) Was Wallot hier
bezüglich des Stils des Bauwerks beklagt, der ja dann später von den
Kritikern genau des Eklektizismus geziehen worden ist(5), gilt zuallererst dem
Nationalen selber. Der Stil des nationalen Parlamentsgebäudes ist nur
Ausdruck eines fehlenden nationalen Konsenses und nationalstaatlichen
Selbstverständnisses(6). Der Nationalstaat wurde mit Blut und Eisen
geschaffen, verfassungsrechtlich war er ein Fürstenbund mit einer alles
dominierenden monarchischen Spitze und einer steckengebliebenen
Parlamentarisierung des politischen Systems(7). Der fehlende Nationalstil, die
mangelnde architektonische Einheitlichkeit des Reichstages war Ausdruck der
mangelnden Geschlossenheit und Unvollendetheit des Nationalstaates. Umso
notwendiger war es daher, auf die nationale Mythologie und auf die Mythisierung
der Nation auszuweichen oder von dort her die "Reichseinigung" zu erwarten.
Wallots Bau ist hier Teil der Mythisierung des Nationalen.
Daß die Nation zu einem mythischen Projekt wird, hängt damit
zusammen, daß sie etwas ist, was nicht nur durch politische Strategien
hergestellt wird. Die Nation ist die Verbindung von kultureller und politischer
Identität. Der politische Mythos (Dörner 1995) benutzt eben nicht nur
Kollektivsymbole, sondern narrative Strategien, die eigene Identität zu
formen, abzugrenzen und auf bestimmte Gründungsereignisse
zurückzuführen. Politische Mythen sind Strategien, die Symbole,
Bildarsenale, Geschichten, historische Orte, Sagen, Legenden und Ereignisse zu
narrativen Strukturen verbinden. Ihre Funktion ist, Sinndefizite, die durch
soziale und politische Umbrüche auftreten, zu beheben, den politischen
Verband mit Deutungsmustern auszustatten und eine kollektiv wichtige
Wirklichkeit zu etablieren. Politische Mythen, die auch immer
strategisch-instrumentell verwendet werden, dienen auch der Legitimation und
damit dem Zusammenschluß des Alten und des Neuen (Harth 1992). Wie alle
Mythen stellen politische Mythen Muster dar, die Handlungen deuten und
Ereignisse verknüpfen. Diese Muster sind narrativer Art, d.h. sie haben
Qualitäten von Erzählungen und eine Akteursstruktur, und sie sind
zweideutig. In politschen Mythen aber wird diese Zweideutigkeit, die vor allem
für die ästhetische Mythenrezeption wichtig ist, eliminiert. Die
politischen Mythen sind Gebilde, die in ihrer Komplexität bereits
reduzierte Muster sind, in denen Ambivalenzen getilgt sind zugunsten der
Stringenz der Handlungen und Handlungsmöglichkeiten. Politische Mythen
dienen daher auch immer der Mobilisierung und Formierung. Nicht alle Formen von
Erzählungen sind aber Mythische Narrationen, sondern nur solche, die
bestimmte kulturelle oder biologische Aktionsprogramme und Muster benutzen(8).
Was aber hat der Reichstag mit dem politischen Mythos der Nation zu tun? Die
Nation wird im 19. Jahrhundert nicht nur angestrebt als politisches Projekt der
Errichtung des Nationalstaates, sondern ist gleichzeitig ein Prozeß der
Formierung der Nation selbst aus unterschiedlichen territorialen Gebieten,
unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen, divergierenden politischen
Vorstellungen und unterschiedlichen kulturellen und konfessionellen
Traditionen. Der Nationalismus erfüllt die Funktion einer politischen
Religion. Der Mythos der nationalen Regeneration mit seinen Zielen einer
nationalen politischen Selbstbestimmung hat als politisches Projekt anfangs die
Befreiung von der französischen Hegemonie zum Ziel und schließlich
die Errichtung einer neuen Legitimationsbasis politischer Herrschaft im Volk.
Dieses Volk ist der Gegenstand der nationalen Identitätsbildung, die sich
in den Schlagworten "National-Theater", "National-Literatur",
"National-Sprache" kristallisiert. Die Nation war sowohl kulturelles als auch
politisches Projekt mit dem Ziel, kulturelle und politische Identität zur
Deckung zu bringen. Der nationale Mythos, zu dem Elemente des Reichsmythos, des
Germanenmythos, der Frankophobie und liberale Komponenten nationalstaatlicher
und bürgerlicher Selbstbestimmung gehörten, sollte patriotische
Gefühle wecken und den einzelnen in eine Massenbewegung integrieren. Er
war auch eine Bewegung der Integration der unterschiedlichen Reichsgebiete, vor
allem derjenigen, die sich wie Schleswig oder das Elsaß und Lothringen in
einer Randlage befanden. Er war aber auch innere Mobilisierung und Formierung
mit dem Ziel der inneren Staatsbildung und Demokratisierung. Der Nationalismus
hat nach der 48er Revolution den Charakter geändert und die Einheit vor
die Freiheit gesetzt; er hat mit der "zweiten Reichsgründung" nach 1878
wiederum seinen Charakter geändert und ist zum organisierten Nationalismus
geworden, mit den "deutsch-nationalen" Elementen.
Der Reichstag stammt ideengeschichtlich aus der Frühphase des
Nationalismus und enthält Elemente demokratischer Selbstbestimmung.
Errichtet wurde er aber in einer Phase, in der nicht mehr die demokratische
Selbstbestimmung im Vordergrund stand, sondern die Monumentalisierung und
Sakralisierung des Reiches. Hier kommen nun die myhtischen Aspekte noch viel
deutlicher zum Vorschein. Er ist nicht nur die Symbolisierung der
Volkssouveränität und der nationalen Selbstbestimmung. Der Reichstag
als Teil der Nationalmythologie erzählt vielmehr selbst die Geschichte der
Nation.