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Virtuelles Parlament
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Karl Heinrich Pohl

Vom Deutschen Reich bis zur Weimarer Republik

Entwicklungslinien der parlamentarischen Demokratie in Deutschland 1867-1933

4. Die verspätete Nation: Antidemokratische Instrumenalisierung außenpolitischer Großmachtsträume

Die deutsche Außenpolitik, die 1914 - unter dem Druck der innen- und außenpolitischen "Hardliner" - in den Krieg steuerte und die bis in die zwanziger Jahre hinein eine deutliche (nicht nur personelle) Kontinuität auszeichnete, war ebenfalls nicht immer nur "kriegstreibend" und aggressiv. Auch sie wurde jahrzehntelang von einer Ambivalenz geprägt, die sowohl auf einen europäischen Frieden abzielte (wie etwa in den zwanziger Jahren, wenn auch mit einigen Vorbehalten), als auch - wie dann geschehen - in die offene Aggression umschlug. Ob man das Primat der Innenpolitik hervorhebt oder aber die "Selbständigkeit" außenpolitischer Konstellationen betont und von einem "inneren Druck" zum Krieg nichts wissen will: Unberechenbar und wenig geschmeidig war sie in jedem Falle. Vor allem stand hinter ihr häufig eine nationale "Wehleidigkeit", das Gefühl einer "Benachteiligung" - ein Hintergrund, der zur Irrationalität geradezu ermunterte.

Der erst relativ spät realisierte deutsche Nationalstaat und der daraus resultierende Wunsch, an der Aufteilung der Welt zu partizipieren, noch etwas "abzubekommen", wenn man schon so spät in den Wettlauf um die Verteilung der Erde eintrat, war an sich keineswegs etwas Besonderes, bedeutete keine unmittelbare Aggressivität. Die englischen und französischen kolonialpolitischen Wünsche unterschieden sich nicht grundsätzlich von denen des Deutschen Reiches, wenn auch der (vermeintlich) innere Druck zu äußerer "Kraftmeierei" besonders groß sein mochte, zudem künstlich angeheizt wurde und - um einen Begriff aus der Psychologie zu entlehnen - "Minderwertigkeitskomplexen" entsprach. Das allein verlieh der deutschen Außenpolitik noch keineswegs die Bedrohlichkeit, die ihre Nachbarn empfanden.

Irritierend waren schon eher die Irrationalität und der "Trotz", mit der diese Politik von weiten Kreisen eines mehr und mehr ins Nationalistische abdriftenden Bürgertums angeheizt wurde. Ein Mann wie der Verbandsvorsitzende und Nationalliberale Parteiführer Stresemann erkannte einerseits völlig rational Großbritanniens politische Leistungen an, arbeitete seit der Jahrhundertwende auf eine Verständigung mit diesem Land hin und hob dabei insbesondere den wirtschaftlichen Faktor hervor. Zugleich aber wurde er zum Träumer, wenn er sich ausmalte, wie Deutschland das "hochmütige" Albion, das Deutschland nach seiner Meinung bewußt "klein" halten wollte, in einem "notwendig" werdenden Kriege "strafen" und "demütigen" werde.

Solche Einstellungen, die symptomatisch für das deutsche Bürgertum der Zeit zwischen 1910 und 1930 stehen, drückten der deutschen Außenpolitik bis 1933 ihren Stempel auf . Sie haben die aggressive Außenpolitik des "Dritten Reiches" ermöglicht, ohne allerdings - das ist zu betonen - etwa gleiche oder auch nur ähnliche Intentionen - von den Mitteln ganz abgesehen - verfolgt zu haben. Die irrationale Kontinuität außenpolitischer Großmachtträume bleibt jedoch frappierend. Außenpolitisch zu kurz gekommen sah sich das Bürgertum vor und nach 1914, verändern wollte es das außenpolitische System vor und nach dem Ersten Weltkrieg - und einen Unruhefaktor stellte Deutschland zwischen 1870 und 1933 immer dar.

Noch ein weiterer Umstand unterschied die deutsche Außenpolitik von der anderer westeuropäischer Länder. Im Deutschen Reich waren die außenpolitische Verantwortung (einschließlich der für das Militär), sowie die Entscheidung über Krieg und Frieden in besonderer Weise geregelt: Das Parlament blieb hierbei nahezu ausgeschlossen. Auch wenn man den Parteien des deutschen Reichstages - mit Ausnahme der Sozialdemokratie - nicht gerade pazifistische Einstellungen unterstellen darf, so hatte diese Konstruktion doch gravierende Folgen: Ein politischer "Bremseffekt" fehlte. Es mangelte an der Transparenz, die sich bei einer parlamentarischen Erörterung einstellte. Zudem: Die "zivile Seite" der Politik geriet bei einer Konstellation, in der Militärs und Kaiser das letzte Wort sprachen, deutlich in den Hintergrund. Nicht zuletzt bewirkte die "Verantwortungslosigkeit" des Reichstages, daß die parlamentarische Diskussion über die Außenpolitik den Realitätsbezug verlor. Das hat den Extremismus der bürgerlichen Parteien stark gefördert.

Man braucht das Kaiserreich nicht einmal als eine Militärdiktatur zu bezeichen, um festzustellen, daß das Militär nicht nur gesellschaftlich einen hohen Stellenwert einnahm, politisch einen unverantwortlich großen Einfluß besaß und mit seiner Denkart die Maßstäbe für soziale Kontakte und den Umgang mit Konflikten setzte. Über den Kopf der verantwortlichen Minister hinweg entwickelten Kaiser und Militärs weitgehende Pläne für einen zukünftigen Krieg. Die deutsche politische Führung und die deutsche Diplomatie nahmen dabei eine höchst untergeordnete Stellung ein, militärische Aspekte überwogen. Auffällig ist, daß von dem Krieg als einer geradezu feststehenden Tatsache ausgegangen und seine Entfesselung als Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln angesehen wurde - so, als ob sich die Zeiten seit Clausewitz nicht verändert hätten.

Ob gewollt, bewußt herbeigeführt oder aber nur nicht verhindert: Der Erste Weltkrieg wurde - anders als der Krieg von 1939 - von vielen Deutschen als ein notwendiges und positives Ereignis aufgefaßt, in dem die Nation neu zusammenwachsen und nach einem Sieg endlich die ihr gebührende Position im Kreis der Weltmächte einnehmen würde. Insofern stellte der Krieg eine folgerichtige "Krönung" der deutschen Politik dar. Da der friedliche Aufstieg zur Weltmacht und eine demokratische Lösung der innenpolitischen Spannungen nicht möglich schienen, weil die herrschenden Schichten zum Kompromiß nicht bereit waren, das politische System zur notwendigen Flexibilität unfähig war, die Formen der politischen Auseinandersezungen und die Dominanz des Militärs und des militärischen Denken einen "zivilen Weg" verhinderten, wurde die autoritäre, die militärische Lösung gesucht. Diese Lösung scheiterte schon nach wenigen Monaten. Militärtechnisch (und damit aus der Sicht der Außenpolitik) war der Krieg bereits nach der Marne-Schlacht verloren und innenpolitisch zeigte sich, daß weder an eine Demokratisierung des Reiches gedacht war noch die Sozialdemokratie als gleichberechtigter Faktor des politischen und gesellschaftlichen Geschehens einbezogen werden sollte. Erst die "Revolution" von 1918/19 wurde dem Problemdruck schließlich gerecht.

In den fast fünf Jahren des Krieges zeigte sich die Ambivalenz der deutschen Außenpolitik noch einmal in aller Deutlichkeit. Einerseits wurde bis 1918 - als der Krieg für jedermann als verloren zu erkennen war - ein Siegfrieden angestrebt, der dem Deutschen Reich die Vorherrschaft im kontinentalen Europa sichern würde; der Friede von Brest-Litowsk ist das beredte Zeugnis für eine solche Politik, der sich auch die deutsche Sozialdemokratie nicht immer mit aller Kraft widersetzte. Nur von wenigen wurde an einen "Kompromißfrieden" gedacht, der vielleicht eine diplomatische Beendigung des Krieges hätte bedeuten können - allerdings mit möglichen territorialen Verlusten. Trotzdem aber wurde es von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung geradezu als traumatischer Schock empfunden, als Deutschland nun seinerseits im Versailler Vertrag erfahren mußte, wie der Frieden für einen Kriegsverlierer aussah.

Der im Vergleich zum Frieden von Brest-Litowsk geradezu milde Vertrag von Versailles wurde als Katastrophe empfunden, als unwürdig, als "Verknechtung" des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes. Dieser Mangel an Realitätssinn hat die Außenpolitik der gesamten Weimarer Republik begleitet, ihre Zielrichtung (nämlich den außenpolitischen Revisionismus) vorgegeben - wobei gleichgültig ist, ob die verantwortlichen und unverantwortlichen Politiker an die eigene Argumentation glaubten oder aber den "Schandfrieden" nur politisch instrumentalisierten. "Sammlungspolitik" verlief auch in der Weimarer Republik über die Außenpolitik und trennte, wenn auch in einer anderen Konstellation als im Kaiserreich, "gute" von "schlechten" Deutschen. Insbesondere die Sozialdemokratie, aber diesmal auch die DVP und ihr erfolgreicher Außenminister, hatte sich nun mit Angriffen wegen ihrer "Verzichtspolitik" - nahezu synonym gebraucht für die unterstellte "Vaterlandslosigkeit" der Sozialdemokratie im Kaiserreich - auseinanderzusetzen.

Mit der massiven Kritik an der Außenpolitik gelang es der "nationalen Rechten", nicht nur die zaghaften Ansätze einer europäischen Verständigungspolitik zu hintertreiben, die von Deutschland ausgehen konnte und von der deutschen Sozialdemokratie auch verfolgt wurde, sondern zugleich die antirepublikanischen Kräfte zu einen. Den eigentlichen Urhebern der Schwäche der Weimarer Republik gelang es auf diese Weise, sich selbst von der Schuld an der außenpolitischen Situation der Weimarer Republik freizusprechen. Die Anklage gegen die Sozialdemokratie, Deutschland außenpolitisch durch ihren "Internationalismus" geschwächt und die Niederlage im Ersten Weltkrieg durch "Novemberverbrechen" und "heimtückischen Dolchstoß" verschuldet zu haben, wurde damit bis ans Ende der Weimarer Republik perpetuiert.

Trotzdem aber gab es große Chancen für eine Versöhnungspolitik, die Deutschland nicht nur seinen westlichen Nachbarn näher bringen konnte, sondern zugleich auch einen innenpolitischen Konsens zu stiften vermochte. Wichtige Forderungen der Linken waren schließlich in der neuen Republik verwirklicht worden, so daß man anders als im Kaiserreich auch als Sozialdemokrat von "seiner" Republik sprechen konnte. Neben einer für den innen- und außenpolitischen Konsens bis zur Selbstaufopferung bereiten Sozialdemokratie, die weit über die Grenzen der eigenen Ideologie hinausging, übernahm auch hier wieder - wie im späten Kaiserreich - der Liberalismus eine wichtige Verantwortung.

Was sich innenpolitisch bereits im 19. Jahrhundert angedeutet hatte und auf kommunaler Ebene vielfach verwirklicht worden war, ein Block von rechtem Liberalismus bis zur gemäßigten Sozialdemokratie, mußte zum Garanten, zum substantiellen Träger der Republik in Innen- und Außenpolitik werden.

Als eine der größten Leistungen des Liberalismus unter Gustav Stresemann kann man es daher bezeichnen, in der Außenpolitik die nationale Rechte - trotz deren Demagogie - zeitweise in die bürgerliche Regierungspolitik integriert und damit eine Basis für eine "Verständigungspolitik" hergestellt zu haben, die viel breiter war als im Kaiserreich. Die Vorbereitungen der Verhandlungen über den Vertrag von Locarno und den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, von einer Mitte-Rechts-Regierung initiiert und von der Sozialdemokratie parlamentarisch mitgetragen, schien für kurze Zeit das Deutsche Reich aus seiner außenpolitischen Isolation herauszuführen und zugleich - über einen Erfolg bei den "Rückwirkungen" dieser Vereinbarungen - "rechts" und "links" einander näher zu bringen. Die Chancen, die die deutsche Außenpolitik der "Verständigung" innen- und außenpolitisch bot, waren jedoch spätestens mit dem Tode Stresemanns dahin. Seine Person kann geradezu symbolisch für Kaiserreich und Weimarer Republik stehen: Verehrer des Kaiserreiches aus Überzeugung und zugleich doch Republikaner aus Vernunft; Annexionist im Kaiserreich und "Verständigungspolitiker" in Weimar; Kriegsbefürworter vor dem Ersten Weltkrieg und Friedensnobelpreisträger in der Zwischenkriegszeit.


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