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Peter Fuchs

Die Reichstagsverhüllung:
Ein spill-over-Ereignis?

Um 1901, im Vordergrund Bismarck-Denkmal
© Landesbildstelle, Berlin

    Ein historisches Symbol wird symbolisch verpackt. Es verschwindet durch Ummantelung und wird im Verschwinden sichtbar, ein Spiel mit der Präsenz des Nichtpräsenten, mit der Nichtpräsenz des Präsenten, mit der Unabschließbarkeit der Sinnbezüge im Feld des Umwickelns und Verbergens, des Entwickelns und Aufdeckens, von Simulation und Dissimulation - Anlaß zugleich für das, was im Augenblick der Text realisiert: für die Anwendung eines modischen Vokabulars, das nicht recht trocken hinter den Ohren ist, eines amplifikatorischen Vokabulars, das das Ereignis jener Verpackung einnebelt, in langen, sich selbst genießenden schwingenden Sätzen, die ihre Signifikate verlieren. Denn jenes Ereignis ist spekulativ, ist massenmedial sensationell, ist ein Mega-, ein Ultra- und Hyperereignis...

    Ist es das? Hat das Ereignis jenen Grad der Diffusität erreicht, den man nur noch in pathetischen Perioden feiern (oder verurteilen) kann? Ist es ein sich selbst reproduzierender Themenauswerfer, an dem sich die Beiträger (und ihr dafür und dagegen) unterscheiden lassen? Dient es der Profilierung von Personen, die sich mit seiner Hilfe in die Zone der Sichtbarkeit lancieren, der Reaktivierung alter, der Produktion neuer Intellektueller? Oder läßt sich das, was an diesem Ereignis spekulativ ist, kühl zurückführen auf gewisse strukturelle Bewandtnisse der modernen Gesellschaft? Kann es noch auf eine gemäßigte Temperatur heruntergedrosselt werden, oder muß man sich bescheiden damit, es geschehen zu lassen und der unabsehbaren Menge der Kommentare weitere hinzuzufügen, womit denn wenigstens die Autopoiesis der Gesellschaft weiterliefe?

    Die These ist: Man kann noch etwas Trockenes und Nüchternes sagen, man muß noch nicht die massenmedialen Nebelwerfer auffahren oder in die unklaren, aber feierlichen Sätze verfallen, die das Ereignis längst schon auszustreuen beginnt. Die Voraussetzung dafür ist, sich auf Theorie einzulassen. Das Ergebnis wird sein, daß jenes Ereignis und das Geröll, das es lostritt, sein Spekulativum darin hat, daß es an einem strukturellen Problem der modernen Gesellschaft parasitiert(1).

  1. Die Reichstagsverhüllung als paradoxe Subversion
  2. Nicht nur in der systemtheoretisch orientierten Soziologie, aber dort auf eine besondere Weise spricht man davon, daß die moderne Weltgesellschaft funktional differenziert sei(2). Man meint damit, daß die wesentlichen Funktionen der Lebensbewältigung, die in den Vorläufergesellschaften sich in Schichten konzentrierten oder in Segmenten (Stämmen, Clans etc.) bedient wurden, in der Moderne mehr und mehr auf autonome Funktionssysteme verteilt werden: Probleme der Regulierung von Knappheit werden im Wirtschaftssystem bearbeitet, Probleme der Stabilisierung von enttäuschbaren Erwartungen im Rechtssystem, Probleme der Wahrheitsfähigkeit von Aussagen über die Welt im Wissenschaftssystem, Probleme der Bindungswirkung kollektiver Entscheidungen im Politiksystem, Probleme fundamentaler Weltkontingenz im Religionssystem, besondere Probleme des Verschwindens von Welt durch Unterscheidungsgebrauch im Kunstsystem etc.

    Die Autonomie dieser Systeme resultiert aus ihrer besonderen Form der Weltbeobachtung: Sie benutzen eine binäre Unterscheidung, die alles, was immer in der Welt der Fall sein mag, nur als behandelbar/ nichtbehandelbar aufgreift nach Maßgabe der mit ihr gesetzten Kriteriabilität. Das Wirtschaftssystem kann nur bearbeiten, was sich im Schema Zahlung/Nichtzahlung (Haben/Nichthaben) beobachten läßt, die Wissenschaft nur das, was ihr die Codierung wahr/unwahr zu sehen gestattet. Religion fundiert sich über die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, das Recht unterscheidet Recht/Unrecht, und die Kunst (jedenfalls habe ich diese Auffassung vertreten) unterscheidet nur noch sich selbst von anderem: Kunst/Nichtkunst (Fuchs 1993). Jedes Funktionssystem kommt so zu einer totalisierenden Weltsicht, und daraus resultiert jene Polykontexturalität, Heterarchie, Hyperkomplexität der modernen Gesellschaft, die jeder Möglichkeit einer repraesentatio identitatis, eines legalen Weltbeobachters beraubt ist und sich irgendwie nicht damit abzufinden weiß (Fuchs 1992).

    Dieser Befund mag die einen verärgern und in die Kulturkritik treiben, die anderen zu besonderen kognitiven Anstrengungen veranlassen, die Einheit der Beobachtung der Welt doch noch zu retten; aber er besagt zunächst einmal, daß die moderne Gesellschaft keine Einfachereignisse kennt, keine Ereignisse, die gleichsam durch eine Art mumifizierender Beobachtung stillgestellt werden könnten, keine Ereignisse, die im Blick auf das, was sie bedeuten und besagen, monoton wären. Stattdessen ist jedes Ereignis, das sich der gesellschaftlichen Beobachtung exponiert, ein "Multiplex" und genau nicht: ein Unikum. Die funktional differenzierte Gesellschaft, könnte man sagen, beobachtet funktional differenziert und erodiert damit jede Möglichkeit, von einem Ereignis zu sagen, es sei "ganz wirklich" dies oder das gewesen(3). Sie verschließt sich strukturell gegenüber der aufklärerischen Idee der Parallelisierbarkeit der Beobachter(4).

    Dieser polykontexturale Verschluß, diese Auflösung aller erdenklichen Einheit in den totalisierenden Perspektiven der Funktionssysteme, macht Ereignisse spannend, in denen oder mit denen die Systemgrenzen überschritten und übergriffen werden sollen, solche Ereignisse mithin, die in ihrer (deswegen massenmedial verstärkten) Wirkung gegenüber der Struktur der Gesellschaft subversiv sein sollen und die (wiederum deswegen) parasitierende Ereignisse genannt werden können. Sie parasitieren an der Polykontexturalität selbst, am Totalisierungseffekt binärer Codierungen, und ihr Ruhm, ihr Echo, ihre Attraktion entzündet sich gerade in einer Subversion, die von dem profitiert, was sie zu unterlaufen suchen.

    Die Verhüllung des Reichstages ist, so die These, eines dieser Ereignisse, die als paradoxe Subversion gelesen werden können.

  3. Die Polyvalenz des Ereignisses und die Ansprüche totalisierender Weltbeobachtung
  4. Die Struktur der modernen Weltgesellschaft schließt aus, daß die Reichstagsverhüllung ein Ereignis gewesen sein wird, über dessen Triftigkeit die Gesellschaft sich verständigen könnte. Im Kontext Kunst wird es andere Triftigkeiten generieren als im Kontext Politik, im Diskurs der Wirtschaft andere Evidenzen/Gegenevidenzen als im Diskurs der Religion. Es wird ein polyvalentes Ereignis sein, das einen Kometenschweif von Anschlüssen erzeugt, die sich den insulären Kausalitätskonstruktionen der Funktionssysteme der Gesellschaft anpassen(5). Es wird eine changierende, eine passagere und immer reversible Identität haben, und dabei könnte man es bewenden lassen (weil dies für alle Ereignisse gilt, die in die Autopoiesis sozialer und psychischer Systeme eingeklinkt werden), wenn nicht ganz offensichtlich dieses Ereignis ein Attraktor nicht nur für die Beobachtung durch die Funktionssysteme zu sein scheint, sondern auch für gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, eine Funktion, die in der modernen Gesellschaft durch Massenmedien im weitesten Sinne bedient wird.

    Diese massenmediale Selbstbeobachtung der Gesellschaft springt, könnte man sagen, nicht beliebig an, sie interessiert sich beileibe nicht für alles, was vorfällt, und nicht alles, wofür sie sich interessiert, wird in die Zone jener Bedeutsamkeit und Aufmerksamkeit gerückt, in die mittlerweile die Reichstagsverhüllung einrangiert ist: als ein massenmedial nichtignorables Ereignis, über das nicht öffentlich zu räsonieren längst begründungsbedürftig geworden ist. Kurzschlüssig wäre es (abgesehen von der Simplizität des Argumentes), die massenmediale Attraktivität dieser Verhüllung auf einen Code wie senationell/nichtsensationell oder alt/neu oder langweilig/überraschend zurückzuführen. Schließlich spielt Christo dieses Spiel nicht zum ersten Mal, man weiß, was er tut, man weiß, worin er sich wiederholt, und wenn es nur um Verhüllungen ginge, so finden sich im Kontext der Bauwirtschaft Verpackungen en masse, die uns zwar heute an Christo erinnern, wenn wir sie passieren, die aber wohl nur selten die massenmedialen Hunde von den Ketten lassen.

    Es muß einen generativen Mechanismus geben, der die massenmediale Maschinerie auf starke Weise anwirft, und die Vermutung ist, daß man diesen Mechanismus in jener paradoxen Subversion finden könnte, die ich oben erwähnt habe: Das Ereignis der Verhüllung des Reichstages überschreitet von seinem Konzept her Funktionssystemgrenzen, es ist in diesem Sinne als generalisierendes Ereignis geplant, das in der Gesellschaft die Gesellschaft beobachtet, als wäre dies generalisierend möglich. Es scheint nicht im Kontext seiner Produktion (Kunstsystem) zu verbleiben, sondern es "wabert" und "wallt" so, als könne es die Eigenspezifität der Kunst (diese Weltbeobachtung, diese Operationen, diesen Code) in die anderen Funktionssysteme exportieren, obwohl alle diese anderen Systeme die Welt gerade nicht kunstförmig beobachten. Es entfaltet seine Attraktivität zutiefst illusorisch, indem es so tut, als könne es mit seiner Unterscheidung Kunst/ Nichtkunst die Autonomie der anderen Funktionssysteme unterlaufen, und dabei streut es Effekte, die diese Systeme in eine Art konternde Kommunikation treiben, in der eine Mehrheit von Codes gleichzeitig eingeschaltet sein müßte(6). Die Operation der Verhüllung totalisiert die totalisierende Weltbeobachtung der Kunst noch einmal, und eben dies ist unmöglich, und eben dies macht das Ereignis für gesellschaftliche Selbstbeobachtung nichtignorabel.

    Die Frage ist, ob man im Blick auf diesen Vorgang die Optik noch schärfer einstellen, das Auflösungsvermögen noch vergrößern kann. Die These ist, daß man es kann, wenn man die Aufmerksamkeit auf die zentral betroffenen Systeme lenkt (und weitere Überschwappeffekte aus Gründen der Textökonomie ausblendet), auf das System der Kunst und das System der Politik, und dann weiterfragt, wie genau die Operation der Verhüllung im Blick auf die Funktionsbewandtnisse der Politik subversiv wirkt.


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