Web-Version zu 6/95, S. 136 ff.
Letzte Modifikation: 18. Mai 1995, 13:10 Uhr
Weiter Weltweit Warten - auch eine mögliche Auflösung des Akronyms WWW. Wer nicht mindestens über eine ISDN-Leitung verfügt, dürfte angesichts der Bild- und Tonfülle auf den Web-Seiten leicht nachdenklich oder gar wütend werden.
Das World Wide Web, eigentlich die ideale Möglichkeit, textbasierte Information mit zusätzlicher Unterstützung durch Grafik, Sound und Video schnell und einfach weltweit zugänglich zu machen, ist dabei, sich selbst das Grab zu schaufeln. Ein immer stärker auf Grafik ausgerichtetes Angebot ist drauf und dran, eine wichtige und an Bedeutung zunehmende Benutzergruppe auszuschließen: die Modem/SLIP/PPP-Anwender im privaten und semiprofessionellen Bereich mit PCs unter Unix, Windows oder Mac, deren durchaus aktuelle Technik mit den Datenmassen nicht mehr zurechtkommt.
Mit seinen Grundzutaten, dem Protokoll HTTP (Hypertext Transport Protocol) und der Auszeichnungssprache HTML (Hypertext Markup Language) macht das World Wide Web beliebige Informationen über Internet weltweit zugänglich - in einer Form, die es als Novum in der Internet-Szene jedem erlaubt, daran teilzunehmen, Informationen abzurufen und im Gewebe des Netzes zu surfen.
Information, so das Grundprinzip, ist zunächst vor allem textbasiert, und über das Netz übertragen wird einfacher ASCII-Text. Das geht schnell und mit wenig Aufwand. Der Text enthält zusätzlich einfache Auszeichnungen, sogenannte Markups oder Tags, ebenfalls in ASCII. Fertig ist das HTML-Dokument. Die Darstellung am Bildschirm ist ausschließlich Sache des Browsers, des Programms, das diese Informationen liest und HTML darstellt.
Diese Darstellung kann, weil ausschließlich lokal und daher ohne Netzbelastung, grafisch beliebig aufwendig erfolgen. Es gibt Hierarchien von Überschriften, Listen mit oder ohne Numerierung, Linien, Bullets und nahezu beliebige Schriftauszeichnungen wie kursiv und fett.
Web-Erfolg durch integrierte Grafiken
Auswerten und anzeigen können eine derartige Datei zeichenorientierte Programme wie Lynx - viel ansprechender aber, und das ist einer der Gründe für den außerordentlichen Erfolg des WWW, Programme unter grafischen Oberflächen: Mosaic, Netscape und einige weitere.
Solche grafischen Browser bieten nicht nur die Möglichkeit, unterschiedliche Schriftarten und Farben einzustellen und das gesamte Programm mit einer Maus zu bedienen, sondern sie nutzen vor allem auch ein weiteres Grundprinzip von HTML: die Einbindung von Grafiken in das Dokument und deren Anzeige zusammen mit dem eigentlichen Informationstext.
Im Gegensatz zur einfachen und auch über ein 14 400er-Modem schnellen Übertragung von Texten ist jedoch die von Grafiken wesentlich aufwendiger, die Netzbelastung größer, die Wartezeit länger, und die Kosten sind höher, auch wenn es sich nur um GIF-Grafiken handelt. GIF-Bilder sind in einem HTML-Text als Inline-Grafiken direkt enthalten und werden, wenn nicht explizit ausgeschaltet, immer mit gesendet und angezeigt - zusätzlich bietet WWW die Möglichkeit, auf Anforderung per Mausklick fast beliebige andere Grafikformate, Video und Sound beim Anwender direkt anzuzeigen beziehungsweise abzuspielen.
Die Wirkung dieses Systems auf den Benutzer ist enorm - der Erfolg von WWW gerade mit grafischen Browsern belegt dies -, und dem Reiz der aus weltweiten Quellen am eigenen Rechner angezeigten bunten Bilder kann sich der Benutzer nur sehr schwer entziehen, wenn es ihm nicht gewaltsam vergrault wird.
Genau da liegt ein großes Problem des Web - und der Grund dafür, warum es sich bald dorthin zurückziehen könnte, wo es hergekommen ist: in den Elfenbeinturm der superschnellen Server und Workstations, die über superschnelle Leitungen mit dem Rest der Welt verbunden sind.
Ziemlich aufwendig ist es, für nur einen klickbaren Menüpunkt eine 3130 Byte große Grafik in 256 Farben durchs Netz zu jagen.
Leider nimmt die Zahl der Web-Seiten, die mit Grafiken überfrachtet sind, in erschreckendem Ausmaß zu. Und das, obwohl das Bildmaterial für den eigentlichen Informationsgehalt unbedeutend und viel zu groß ist.
Na und? mögen die einen sagen, die solche Seiten zusammenstellen, um sie im Internet anzubieten. Eine grafisch gut gemachte Seite zieht eben wegen ihrer Aufmachung mehr Aufmerksamkeit und Interessenten an als eine Textseite, die bestenfalls ein paar Linien oder kleine Logos und Symbole enthält. In einer farbigen Hochglanzzeitschrift oder einem Katalog blättert man auch lieber als in seitenlangem reinem Text - einer sogenannten Bleiwüste.
Was aber, wenn vor lauter Farbauftrag die Seiten des bunten Katalogs verkleben und nicht zugänglich sind? Der Katalog landet mitsamt der darin enthaltenen Textinformation unbenutzt und nicht mehr beachtet im Altpapier. Grafisch überfrachteten Web-Seiten könnte es ebenso ergehen. Wenn mehrere Minuten vergehen, bis eine derartige Web-Seite beim Aufrufer ankommt und diese vor lauter Grafik so gut wie keine Information enthält, verliert der vielbeschworene Anwender schnell die Lust an diesem schönen Spielzeug. Extrembeispiele sind die CeBIT'95-Homepage der Messe AG, siehe Abb. 1, oder die grafisch wunderschönen, aber nicht einmal klickbaren Grafiken auf fast jeder Seite des SGI-Servers. Selbst diese aber sind harmlos gegenüber dem Hamburger Internet- Anbieter abc.de, an dessen Homepage selbst ISDN-Besitzer ihre helle Freude haben dürften (64 KByte).
Hinsichtlich der Frage, wer denn der vielbeschworene Anwender sei und wie er zu seinen Web-Seiten kommt, lassen sich zwei Bereiche eingrenzen: Hochschulen und Unternehmen einerseits und eine wachsende Zahl von Privatanwendern und kleinen Firmen andererseits.
Ausstattungsvorteil der Hochschulen
Am besten ausgestattet für die Web-Nutzung sind sicherlich Hochschulen mit ihren 2-MBit-Zugängen und Unternehmen, die mindestens einen ISDN-Anschluß besitzen. Das muß auch der Grund sein, warum die Universitätsbibliothek Clausthal-Zellerfeld ihre Eingangsseite mit riesigen Büchern vollstellt. Mit schneller, direkter Anbindung an das Netz über Standleitung, mit Proxy-Server und Workstations sind selbst Web-Bilderbücher und HTML-Kunstgalerien kein Problem. Reichen all die Bilder noch nicht aus, das Netz in die Knie zu zwingen, dann kann man es in diesen Bereichen auch noch mit Telefon (über Internet) oder Live-Videos (und wenn es nur der Füllungsgrad der Kaffemaschine am MIT ist) versuchen.
Der andere Anwenderkreis ist der der Privatbenutzer oder Kleinbetriebe, die sich von zu Hause oder einem kleinen Büro aus an einem Internet-Zugang über Modem und SLIP/PPP versuchen - direkt und mit einem PC unter Linux, Windows oder MacOS. Auf breiter Basis vorhanden und eingesetzt werden 14 400er-Modems - die neuen 28 800er und ISDN sind dem gegenü ber noch zu wenig verbreitet, auch wenn sich derzeit im ISDN-Bereich viel tut. Das funktioniert - der Markt für entsprechende Softwarepakete für Windows und Mac blüht, bei Linux ist sowieso schon alles dabei. Alle klassischen Internet-Dienste stehen mit grafischen Oberflächen zur Verfü gung. Grafische Web-Browser erleichtern gerade dem typischen Windows- oder Mac-Benutzer ohne tiefergehendes Internet- Know-how die Benutzung nahezu aller Dienste und erschließ en damit das Internet erstmals in seiner Geschichte Nichteingeweihten.
Zunächst einmal, und so war es von Tim Berners-Lee als Vater des Web wohl auch gedacht, diente Information, wie sie jetzt jedem im Web entgegenspringt, dem textbasierten wissenschaftlichen Informationsaustausch. Was als technisches Textdokument mit Abbildungen und Graphen, ursprünglich etwa in FrameMaker, vorliegt, sollte einfach, standardisiert und mit der Möglichkeit, über Hypertext-Links auf andere Dokumente oder Positionen in Dokumenten zu springen, weltweit über das Netz eingesetzt werden können. Das Prinzip hat sich als tragfähig erwiesen und nicht unwesentlich zur Ausbreitung des Internet beigetragen. In diesem erweiterten Anwenderkreis des WWW finden sich seit etwa einem Jahr Privatanwender.
Die Einstiegsgrafik des nordamerikanischen Verlags O'Reilly & Associates (33072 Byte) bietet wenigstens viele anwählbare Punkte mit Links auf weitere Informationen.
Dieser möchte zwar obige Dienste mit Hilfe des Web nutzen, sieht sich aber einer Reihe von Hürden ausgesetzt, deren größte das Web selbst ist. Muß er nämlich, bevor er auch nur ein klein wenig Information an seinem heimischen Bildschirm sieht, erst minutenlang eine Grafik übertragen, deren Informationsgehalt nicht vorhanden ist (Beispiel: Silicon Surfer im Aufmacher dieses Artikels), wird er schnell wieder aufhören, sich mit dem Web zu beschäftigen oder den Stopp-Button seines Browsers betätigen, wenn wieder nur ein Bild durch das Modem tropft. Der private Anwender hat auch, weit mehr als der in der Hochschule oder Wirtschaft, einen direkteren Überblick über die Kosten, die ihm von Telekom und Provider in Rechnung gestellt werden - und für Titelbildchen ohne Informationsgehalt wird er zu zahlen nicht lange gewillt sein.
Aber: kein Anwender - kein Busineß. Was nutzen die schönsten Web-Seiten, wenn keiner sie liest, weil sie kaum mehr durch das Modemkabel passen? Ist das phantastischste Medium der weltweiten Vernetzung dabei, sich selbst aufs Kreuz zu legen, weil einige Informationsanbieter oder Serververwalter sich gegenseitig übertreffen müssen, indem sie immer mehr und buntere Bilder auf ihre Homepages packen? Schade eigentlich. (hb)
ist freiberuflicher technischer Autor und Übersetzer mit mehreren Büchern im Bereich Unix und FrameMaker. (EMail: kob@techdoc.m.isar.de; Web: http://www.isar.de/~obermayr)
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