Eine raffinierte Software gibt der Erdbebenprognose eine neue Richtung

Eine raffinierte Software gibt der Erdbebenprognose eine neue Richtung

Potsdamer Desasterforscher horchen auf die leisen Vorzeichen von Erdbeben

Seit dem Desaster von Kobe steht die Erdbebenforschung im Ruf einer Halbwissenschaft: Die Vorwarnung hat versagt. Doch der Ehrgeiz der Zunft ist geweckt. Erfolgsmeldungen kommen aus dem Geoforschungszentrum Potsdam: Eine Software analysiert seismische Daten mit erstaunlicher Prognosequalität.

Das Erdbeben von Kobe Anfang des Jahres hat nicht nur die Südküste der japanischen Insel Honshu schwer erschüttert, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Seismologen. Denn kein Wissenschaftler hatte das Unglück kommen sehen, das am 17. Januar 1994 um 5:46 Uhr die Millionenstadt verwüstete. Die Experten waren ebenso überrascht wie die Bevölkerung. Ohne Warnung verwandelte sich eine der schönsten Städte Japans innerhalb von zwanzig Sekunden in ein Inferno. Mehr als 5000 Menschen starben in den Trümmern, die Schäden übersteigen jede Vorstellung.

Die Region muß wahrscheinlich 200 Milliarden Dollar aufbringen, um alle Folgen des Unglücks zu beseitigen. Keine Naturkatastrophe hat jemals zuvor eine Volkswirtschaft auch nur annähernd so viel Geld gekostet.

Die verkohlten Ruinen qualmten noch, da hagelte es bereits Schmähungen gegen die Wissenschaftler. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel wetterte gegen "falsche Propheten", das Konkurrenzblatt Focus schimpfte über unfähige Vorhersageforscher. Die Häme ergoß sich über eine Gilde, die seit Jahrzehnten nach Signalen aus der Tiefe sucht, die als sichere Indizien für ein bevorstehendes Erdbeben dienen könnten.

Vor allem die Japaner hatten das Problem mit Feuereifer angepackt: Jedes zehnte Erdbeben, das sich auf der Welt ereignet, erschüttert die relativ kleine Inselkette. Schon vor 30 Jahren machten sich fernöstliche Experten mit einem ehrgeizigen Forschungsprogramm an die Arbeit. Sie überzogen ihr bergiges Land mit einem engmaschigen Netz von Sensoren und hochempfindlichen Erdbebenstationen. Die gewaltigen Datenströme aus diesem Gerätepark laufen inzwischen online in elektronischen Steuerzentralen zusammen, wo Experten rund um die Uhr Wache schieben.

Etwa zwei Milliarden Mark sind in das Projekt geflossen - der Erfolg blieb bis heute aus: Die Wächter konnten kein einziges schweres Erdbeben vorhersagen.

Der Berliner Seismologe Professor Andreas Vogel wirft seinen japanischen Kollegen deshalb vor, mit ihren aufwendigen Forschungen falsche Hoffnungen zu wecken. Auch innerhalb Japans fallen böse Worte. Einige Forscher fordern, das Geld besser für erdbebensichere Gebäude und einen schlagkräftigen Katastrophendienst auszugeben, statt in die Vorhersage zu stecken.

Viele Journalisten stimmen in den Chor der Kritiker ein. Ihr Rundumschlag gegen die Erdbebenvorhersage-Forschung trifft allerdings auch Wissenschaftler, die keine Schelte verdienen. Professor Jochen Zschau etwa, der am Geoforschungszentrum Potsdam für Desasterforschung zuständig ist, hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er Grundlagenforschung betreibt und eine praktikable Anwendung noch nicht in Sicht ist: "Ich sehe zwar Licht am Horizont, aber kein Forscher darf heute behaupten, er könne Erdbeben vorhersagen." Dabei ist Zschau einer Lösung des vertrackten Problems noch am nächsten. Er tüftelt seit wenigen Jahren an einer Methode, mit der wohl in absehbarer Zeit ein Durchbruch zu schaffen ist. "Seismolap" ("seismic overlapping") heißt der Lichtblick.

Zschaus Verfahren ist im Prinzip ebenso einfach wie einleuchtend: Vor jedem Erdbeben, das haben Seismologen schon vor vielen Jahren herausgefunden, knistert es im Untergrund. Sogenannte Mikrobeben, die man mit hochempfindlichen Geräten wahrnehmen kann, häufen sich und konzentrieren sich am Ort des späteren Bebens.

Sie führen damit geradewegs zum Brennpunkt der Gefahr. Zschau hat nun eine aufwendige Software entwickelt, die aus den Seismogrammen diesen Wegweiser herausfischt und sichtbar macht.

Die Japaner haben völlig versagt Er hat das Verfahren zunächst an Daten aus der Türkei überprüft, wo er seit 1984 zusammen mit türkischen Wissenschaftlern ein brisantes Erdbebengebiet überwacht - mit Erfolg. Immer wieder stieß er auf dasselbe Drehbuch: überall, wo die Erde bebte, nahm zuvor die seismische Aktivität zu. Die Diagramme, die der Computer lieferte, zeigten eindrucksvoll, wie der Seismolap-Wert an der brisanten Stelle von Stunde zu Stunde anwächst. Als die Gefahr schließlich ihr Maximum erreicht hatte, brach das Beben los.

Auch in anderen Erdbbebengebieten hat sich die Methode inzwischen bewährt. Vor dem schweren Armenien-Beben vom Dezember 1988, bei dem rund 25 000 Menschen umkamen, ging der Seismolap-Parameter ebenso sprunghaft in die Höhe wie vor mehreren mittleren Beben im kalifornischen Parkfield auf der San-Andreas-Verwerfung, dem weltweit bestüberwachten Erdbebengebiet.

Damit nicht genug: Jedem Gesteinsknistern geht eine wochen- oder monatelange Ruhephase voraus - die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Sie dauert um so länger, je schwerer das folgende Erdbeben wird. Zschau kann mit seinem Verfahren also nicht nur den Ort eines Erdbebens vorhersagen, sondern auch die Stärke.

Daß der Wissenschaftler dennoch zur Vorsicht mahnt, hat nicht zuletzt historische Gründe. Bei der Erdbebenvorhersage-Forschung sind schon viele Wissenschaftler aufs Kreuz gefallen. Bereits in den sechziger Jahren schien ein Durchbruch zum Greifen nahe. William Brace vom Bostoner Massachusetts Institute of Technology machte damals in seinem Hochdrucklabor eine wichtige Entdeckung:

Noch bevor Gesteinsproben unter der Gewalt der Pressen brachen, veränderten sie sich. Schon bei halber Bruchspannung öffneten sich winzige Risse, die das Volumen des Steins vergrößerten.

Geowissenschaftler vermuteten, daß sich vor einem Erdbeben im Untergrund dasselbe abspielt: Die Mikrorisse lassen das Gestein aufquellen, lösen Mikrobeben aus und beeinflussen andere meßbare Parameter: Der elektrische Widerstand des Gesteins verändert sich, Gase entweichen aus den Rissen, Grundwasser strömt davon, die Geländeoberfläche beult sich unmerklich auf.

Die Erdbebenforscher glaubten nun endlich zu wissen, warum vor manchem Erdbeben Quellen versiegen, der Wasserspiegel im Dorfbrunnen schwankt, Tiere verrückt spielen oder der Boden vibriert. Vor allem aber meinten sie, die Lösung für eine sichere Vorhersage in der Hand zu haben. Man müsse nur die im Labor nachgewiesenen Phänomene im Feld aufspüren. "Das Problem der Vorhersage ist in zehn Jahren gelöst", tönte der renommierte US-Geowissenschaftler und Präsidentenberater Frank Press Anfang der 70er.

Die Chinesen setzten das Know-how besonders zielstrebig in die Praxis um und bildeten ein Heer von Amateur-Seismologen aus, die auf alle Vorzeichen achten sollten, vor allem auf eine Häufung schwacher Beben. Am 3. Februar 1975 konnten sie tatsächlich einen eindrucksvollen Erfolg verbuchen. Nach ihrer Warnung wurde die Stadt Haicheng evakuiert, kurz bevor unzählige Häuser zusammenstürzten.

Obwohl das Erdbeben mit einer Richtermagnitude von 7,3 sehr stark war, gab es nur wenige Tote.

Doch nur ein Jahr später versagte die Methode gründlich. Am 28. Juli 1976 starben beim verheerendsten Erdbeben dieses Jahrhunderts im dichtbesiedelten Kohlerevier um Tangschan mindestens 240 000 Menschen, nach inoffiziellen Angaben sogar 800 000. Weltweit machte sich Ernüchterung breit.

800 000 Bebentote: Problem gelöst?

Zschau vermutet, daß die verräterischen Signale aus der Tiefe durch die Maschen des Beobachtungsnetzes schlüpfen. Seiner Ansicht nach kann man die erwarteten Phänomene - wie Veränderungen des elektrischen Bodenwiderstands oder der gesteinstypischen Schallgeschwindigkeit - nur in einem eng umgrenzten Gebiet beobachten. Mikrobeben lassen sich zwar besser beobachten, weil sie eine relativ große Fernwirkung haben. Allerdings ist es nicht einfach, aus der Datenflut, wie sie die Erdbebenstationen liefern, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Hier genau liegt die Stärke von Zschaus Methode. Mit seinem raffinierten Computerprogramm kitzelt er aus den seismischen Daten die gewünschten Informationen heraus. Allerdings stellt er bislang die übliche Vorgehensweise auf den Kopf, setzt sich erst an den Rechner, wenn die Erde längst zugeschlagen hat. Noch ist er dabei, sein Verfahren wissenschaftlich abzusichern, Schwachstellen aufzuspüren und die Software zu verfeinern.

Bis zur ersten Vorhersage ist es noch ein weiter Weg, bei dem auch die Elektronik eine entscheidende Rolle spielt. Denn wenn die grundlegenden Probleme erst einmal gelöst sind, bekommt der Rechner viel zu tun. Er muß die Daten mehrerer Erdbebenstationen online auswerten und zugleich für unzählige Geländepunkte den Seismolap-Parameter ermitteln. Nur ein Supercomputer ist dazu in der Lage. Obendrein ist Zschau auf ein dichtes Netz vonErdbebenstationen angewiesen, wie es bisher lediglich in Japan und wenigen Erdbebengebieten vorhanden ist. Der Inselstaat Japan wäre deshalb ein geeignetes Gelände für eine erste Bewährungsprobe des vielversprechenden Verfahrens. Für Kobe kommt der Hoffnungsschimmer aus Potsdam freilich zu spät.

Klaus Jacob