INTERN Nr. 7 /1995
Dokumentation
Leitsätze zur Reform der Sozialhilfe
Erarbeitet vom stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden
Rudolf Dreßler und den SPD-Sozialministern und-
ministerinnen der Länder
1.Das Bundessozialhilfegesetz sichern
Das Bundessozialhilfegesetz ist besser als sein Ruf. Die
Ursachen von Armut und Ausgrenzung und die
Finanzierungsprobleme liegen nicht am System der
Sozialhilfe, sondern vor allem in unzureichenden
vorrangigen sozialen Sicherungssystemen.
Die dramatische Kostenentwicklung in den letzten Jahren
hat vor allem im Bereich der Hilfen in besonderen
Lebenslagen stattgefunden. Für die Hilfe zum
Lebensunterhalt, die im Mittelpunkt der politischen
Diskussion steht, wurden 1993 rund 18 Mrd. DM ausgegeben.
Für die Hilfen in besonderen Lebenslagen, vor allem für
die Hilfe zur Pflege, die Eingliederungshilfe für
Behinderte und für die Krankenhilfe lagen 1993 die
Ausgaben bei rund 31 Mrd. DM.
2.Den Nachrang der Sozialhilfe stärken
Häufig haben Träger der Sozialhilfe Leistungen zu
erbringen, weil vorrangige Sicherungssysteme nicht alle
Risiken abdecken. Eine Reform der Sozialhilfe muß daher
verbunden werden mit einer Reform der vorrangigen
Sicherungssysteme.
* Das
Arbeitsförderungsgesetz muß so verändert werden, daß alle
arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in die aktive
Arbeitsmarktpolitik einbezogen werden (ASFG). Zur
Finanzierung zahlen die Sozialhilfeträger Beiträge in
Höhe der Arbeitgeberleistungen zur Arbeitslo-
senversicherung....
Die Lohnersatzleistungen, vor allem die
Arbeitslosenhilfe, müssen so strukturiert werden, daß
keine ergänzenden Sozialhilfeansprüche mehr entstehen.
Auf keinen Fall darf die Arbeitslosenhilfe zeitlich
befristet werden....
* Das Kindergeld muß auf
einen einheitlichen, einkommensunabhängigen Betrag von
mindestens 250 DM angehoben werden. Es ist zu
dynamisieren, perspektivisch sind weitere Erhöhungen
vorzusehen. Ein steuerlicher Kinderfreibetrag, der
Spitzenverdiener begünstigt, wird abgelehnt. Während der
Vorschlag der Bundesregierung lediglich zu Minderausgaben
in der Sozialhilfe in einer Größenordnung von 380 Mio. DM
führt, würde ein einheitliches Kindergeld von 250 DM zu
Minderausgaben von 720 Mio. DM führen.
* Das Wohngeld ist für
Sozialhilfeempfänger deutlich anzuheben. Ziel sollte es
sein, das Wohngeld auf möglichst 100 Prozent der
angemessenen Wohnkosten anzuheben, um zu vermeiden, daß
hohe Mieten zu Sozialhilfebedürftigkeit führen.....
* Für Behinderte ist ein
vorrangiges Leistungsgesetz zu schaffen (SGB IX). Für
Behinderte wurden im Rahmen der Eingliederungshilfe 1993
rund 11 Mrd. DM ausgegeben. Je nach der Ausgestaltung des
vorrangigen Leistungsrechts könnten Teile dieser
Sozialhilfeleistungen eingespart werden.
* Mit der Gesetzlichen
Pflegeversicherung ist ein vorrangiges Leistungsgesetz
für Pflegebedürftige in Kraft getreten. Mit
Leistungsbeginn für die stationären Hilfen ab 1.7.1996
werden jährliche Einsparungen bei den Sozialhilfeträgern
in einer Größenoprdnung von rund 8 Mrd. DM erwartet.....
* Die gegenwärtige
Diskussion zur Sozialhilfe belegt erneut, daß eine
bedarfsorientierte soziale Grundsicherung nach wie vor
erforderlich ist, um eine wirksame Entlastung der
Sozialhilfe zu erreichen.
3.
Sozialhilfebedürftigkei
t verhindern
Sozialhilfebedürftigkeit wird einerseits durch
"armutsfeste" vorrangige Sicherungssysteme und
andererseits durch effektive Hilfen im Rahmen der
Sozialhilfe verhindert und überwunden. Dazu dient
insbesondere die Hilfe zur Arbeit.
Das bestehende rechtliche Instrumentarium der Hilfe zur
Arbeit ist ausreichend, kann aber die verfehlte
Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung und
Leistungskürzungen im Arbeitsförderungsgesetz zu Lasten
der Kommunen nicht auffangen. Es geht jetzt darum die
Angebote mit Qualifikationsanteilen zu verbinden und sie
auf die unterschiedlichen Zielgruppen, etwa die
Alleinerziehenden, präzise zuzuschneiden.
Materielle Anreize zur Aufnahme von Arbeit sind effektiv
zu gestalten. Dabei sollte Erwerbseinkommen dauerhaft nur
in einem begrenzten Umfang von 200 bis 400 DM monatlich
freigestellt werden. Das schließt nicht aus, daß für
befristete Zeiten höhere Freistellungen ermöglicht
werden.
4. Das
Bedarfsdeckungsprinzip erhalten und das Existenzminimum
sichern
In der Hilfe zum Lebensunterhalt ist der Regelsatz ein
zentraler Parameter, der das Maß dafür darstellt, was dem
Menschen in unserer Gesellschaft zum Leben zugebillilgt
wird. Die Kriterien für diese Bemessung müssen vom
Gesetzgeber im BSHG festgelegt werden. Die Festsetzungs-
kompetenz der Länder muß erhalten bleiben und darf nicht
auf den Bund übergehen.
Das Bedarfsdeckungsprinzip muß erhalten bleiben. Es
sollte gesetzlich verankert werden, daß der Regelsatz in
regelmäßigen Abständen, etwa alle fünf Jahre, auf der
Grundlage verbrauchsstatistischer Erhebungen festzusetzen
ist. In der Zwischenzeit sollte die Fortschreibung an
Hand der Preisentwicklung des regelsatzrelevanten
Verbrauchs erfolgen. Auch dies muß gesetzlich vorgegeben
sein.....
Ab 1.7.1996 sollte die Fortschreibung der Regelsätze auf
der Grundlage der Preisentwicklung des
regelsatzrelevanten Verbrauchs erfolgen. Die
Finanzierungskosten betragen für eine Erhöhung der
Regelsätze um 1 Prozent (= 5,- DM) rund 120 Mio. DM für
die Sozialhilfeträger.
5. Das BSHG den neuen
Anforderungen anpassen
* Zur Stärkung der
Handlungsautonomie der Sozialhilfeempränger und zur
Entlastung der Sozialämter ist es sinnvoll, mehr als
bisher Leistungen zu pauschalieren. Die Berechnung des
einzusetzenden Einkommens und insbesondere auch die
abzusetzenden Beträge sind praxisgerecht auszugestalten.
Der zuständige Bundesminister muß endlich die dazu erfor-
derlichen Rechtsverordnungen nach § 21 und 76 BSHG
vorlegen.
* Einkommensgrenzen,
Einkommensbegriffe und Altersstufungen bei Minderjährigen
in den verschiedenen Sozialleistungsgesetzen sollten
schrittweise mit den entsprechenden Regelungen im BSHG
harmonisiert werden.
* Die Vorgabe des
Gesundheitsstrukturgesetzes, ab 1997 Empfänger von
laufender Hilfe zum Lebensunterhalt in die Gesetzliche
Krankenversicherung einzubeziehen, muß rechtzeitig
gesetzlich konkretisiert werden. Dadurch ist auch die
Einbeziehung aller Sozialhilfeempfänger in die
Pflegeversicherung zu gewährleisten.
* Die Auszahlung der
Sozialhilfe sollte künftig regelmäßig auf ein bei
Sparkassen und Banken zu führendes Guthabenkonto
erfolgen. Sollten Banken und Sparkassen sich nicht
freiwillig zur Einrichtung derartiger Guthabenkonten
bereit erklären, ist dies gesetzlich zu regeln.
* Der sogenannte
Mißbrauch in der Sozialhilfe wird immer wieder öffentlich
diskutiert......Die bestehenden rechtlichen Regelungen
reichen aus, um Betrug aufzudecken und strafrechtlich zu
verfolgen....
* Die vertraglichen
Vereinbarungen (Verträge über soziale Dienstleistungen
und deren Bezahlung - Pflegesatzvereinbarungen) zwischen
Leistungserbringern, vor allem der freien
Wohlfahrtspflege und den Sozialhilfeträgern, sind mit den
neu gefaßten §§ 93, 94 BSHG im Jahr 1993 auf eine neue
Grundlage gestellt worden. Diese Regelungen sind nicht
genügend durchdacht und müssen überarbeitet werden.
Übersicht über die finanziellen Auswirkungen
* Im Jahr 1993 wurden für
die Sozialhilfe folgende Beträge aufgewende
Hilfe zum Lebensunterhalt
18.017 Mio. DM
Hilfe zur Pflege
16.481 Mio. DM
Eingliederungshilfe für Behinderte
11.209 Mio. DM
Krankenhilfe
2.356 Mio. DM
sonstige Hilfen in besonderen Lebenslagen
856 Mio. DM
Sozialhilfe insgesamt
48.919 Mio. DM
* Einsparungen in der
Sozialhilfe aufgrund der genannten Vorschläge
1993
1995
Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in
die aktive Arbeitsmarktpolitik
500
540
Einführung eines einheitlichen
Kindergeldes von 250 DM
750
810
Bei Anhebung des Wohngeldes auf 100 % der
angemessenen Mietkosten (Mehraufwendungen
von 1.900 Mio. wirken sich nur teilweise
ausgebemindernd in der Sozialhilfe aus)
1.500
1.590
Insgesamt:
2.750
2.940
Hinweis: Die Einsparungen wurden für das Jahr 1993 auf
der Grundlage der Ist-Daten berechnet. Für das Jahr 1995
wurden die Beträge pauschal um 4 Prozent p.a.
hochgerechnet.
* Die Mehraufwendungen
und Minderausgaben verteilen sich auf Bund, Länder und
Gemeinden wie folgt
1993
1995
Bund Mehraufwendungen
2.200
2.340
Länder/Gemeinden Minderausgaben
1.800
1.920
(Verteilung vor
Korrektur des länderinternen Finanzausgleichs im Jahr
1995: Länder: Mehraufwendungen 1.000 Mio., Gemeinden
Minderausgaben 2.920 Mio.)
* Die Mehraufwendungen
bei den Sozialhilfeträgern für die Anhebung des
Regelsatzes belaufen sich bei einer Anhebung um 1 Prozent
(= 5,- DM) auf rund: * 120 Mio. DM
* Die Hilfen in
besonderen Lebenslagen werden zum überwiegenden Teil von
freien Trägern erbracht, mit denen Leistungs- und
Entgeltvereinbarungen nach § 93 abgeschlossen werden.
Gelingt in diesen vertraglichen Vereinbarungen eine
Kostenreduktion von 1 Prozent führt dies zu
Minderausgaben von
1993
1995
290 Mio.DM
315 Mio. DM
Bei dem Betrag für 1995
sind die Veränderungen durch die Gesetzliche
Pflegeversicherung bereits berücksichtigt.
Hinweis: Mit Leistungsbeginn für stationäre Hilfen ab dem
1.7.1996 werden jährliche Minderausgaben in einer
Größenordnung von 8.000 Mio. DM erwartet.
Rudolf Dreßler, stellvertretender SPD-
Bundestagsfraktionsvorsitzender, SPD-Sozialminister und -
ministerinnen.
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