Die SPD hat eine verheerende Saison hinter sich. Ein halbes Jahr nach der Wahl wirkt die große Oppositionspartei orientierungslos, die Führung zerstritten. Im ZEIT-Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger zieht Rudolf Scharping, seit zwei Jahren Vorsitzender der Sozialdemokraten, eine bittere Bilanz
(aus Die ZEIT, 7. Juli 1995)
"Zuviel gemacht. Zuwenig bewirkt. War ich zu naiv?"
DIE ZEIT: Unser Karikaturist Luis Murschetz hat die Lage der SPD vergangene Woche so gezeichnet: Der erste Mann, mit der ganzen Führungsgruppe dicht hinter sich im Rücken, steht am Rande des Abgrunds. Es genügt ein Schubser - vielleicht ohne Absicht -, und er stürzt in den Abgrund. Erkennen Sie darin Ihre Lage?
Rudolf Scharping: Nein, ich spüre Rückhalt in meiner Partei. Die Leute haben die Streitereien untereinander satt. Wir wollen den Stillstand der Bonner Politik überwinden und Reformpolitik für die Zukunft formulieren.
ZEIT: Angesagt ist das schon lange. In der Zwischenzeit sinkt die SPD bei Umfragen verheerend in den Keller, auch Ihre persönlichen Werte.
Scharping: Die Nachricht von unserem Tod ist etwas übertrieben, um mit Mark Twain zu reden. Im Ernst: Ich habe mich im ersten halben Jahr sehr stark darauf konzentriert, die verschiedenen Ideen und Auffassungen zu bündeln und ihnen eine Richtung zu geben. Das war ein mühsames Geschäft. Darüber kam die notwendige Vermittlung politischer Inhalte zu kurz. Zuviel gemacht und damit zuwenig Wirkung entfaltet! Ich habe dabei gelernt, daß es Leute gibt, die auf dem Tisch mitspielen und einem unter dem Tisch kräftig ans Schienbein treten. Manche alten Verhakungen und Konflikte lassen sich leider nicht in wenigen Monaten überwinden. Da war ich schlicht zu optimistisch, vielleicht auch zu naiv.
Ich habe zum Teil auch die handelnden Personen falsch eingeschätzt. Zum Jahressteuergesetz hatten wir eine gemeinsame Linie formuliert. Einerseits geht es darum, zur Steuerentlastung von Familien und Kindern sowie Normalverdienenden beizutragen. Auf der anderen Seite stehen auch die Länder unter Sparzwängen. Und dort wird ja die Politik der SPD praktisch und sichtbar, eingelöst oder konterkariert. Nun hat Gerhard Schröder in Hannover einen Kabinettsbeschluß dazu gefaßt und eine intern vereinbarte Verhandlungslinie zur öffentlichen Kritik an der Bundestagsfraktion benutzt.
ZEIT: Die sein eigentlicher Gegner zu sein scheint. Scheitert nicht die ganze Strategie, das Parlament zum Ort der Opposition zu machen, wenn die Länder in diesem Maße eigene Interessen verfolgen?
Scharping: Die Stärke der SPD in den Ländern wird nur dann zur Stärke der Gesamtpartei, wenn die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nicht zur Flucht vor politischer Gestaltung wird. Ich denke an Kindergartenplätze, an Schulunterricht, an innere Sicherheit. Den Marsch in den Steuer- und Schuldenstaat wollen wir nicht fortsetzen. Also müssen die Leistungen sorgfältig finanziert werden - mit ökologischer Komponente.
ZEIT: Wären Sie denn als Ministerpräsident in Mainz bereit, Vorgaben der Bonner Fraktion ohne viel Federlesens zu folgen?
Scharping: Nein, wohl aber der gemeinsamen Politik. Man darf sich als Person nicht wichtiger nehmen als die Sache. Sicher muß die Vielfalt des Föderalismus erhalten bleiben, auf dem Fundament sozialdemokratischer Politik. Dazu gehört die gesamtstaatliche Ordnung der Finanzen. Umgekehrt kann nicht derjenige, der für die SPD verhandelt, ohne Rückkoppelung ein denkbares Ergebnis mit der Bundesregierung über die Energiepolitik aufschreiben, um es der SPD zuzuschicken und zugleich öffentlich zu drohen: Wenn das nicht akzeptiert wird, schmeiße ich die Brocken hin!
ZEIT: Ist mangelnde Loyalität wirklich die ganze Erklärung?
Scharping: Dahinter steckt auch ein nach wie vor unverdauter Konflikt. Die demokratische Linke muß sich intensiver damit auseinandersetzen, daß es einen globalisierten Wettbewerb gibt. Geld, Wissen und Informationen gehen mit rasender Geschwindigkeit um den Globus. Um so dringender muß man fragen, wie man dann auf nationaler Ebene die Idee des Wohlfahrtsstaates noch behaupten und gleichzeitig etwas für den Schutz der Lebensgrundlagen machen kann.
Ich nehme in Deutschland wahr: Es gibt eine ungewöhnlich große Zahl von Leuten, die mit der Politik der Regierung unzufrieden sind. Aber sie finden noch keine hinreichende Alternative. Auch nicht bei der SPD. Das hat mit der Frage zu tun, ob SPD und Grüne - in Nordrhein-Westfalen wird sich das jetzt ja herausstellen - in der Lage sind, eine Politik zu machen, die wirtschaftlich stabil und zugleich zukunftsweisend ist. Viele haben sich angesichts der massiven sozialen Verwerfungen zum Teil eine zynische Gelassenheit angewöhnt. Das wollen wir überwinden. Die Hahnenkämpfe der scheinbar wichtigen Figuren in der SPD verdicken leider die politischen Ziele.
ZEIT: Es sind die wichtigen Figuren!
Scharping: Schon wahr. Als ich Vorsitzender wurde, habe ich mir lange überlegt, ob die Schuhe, in denen Bebel und Brandt gegangen sind, nicht zu groß sind. Deshalb nenne ich manche "scheinbar wichtig". Ich habe mir aber auch gesagt: Jeder, der anfängt, hat es schwer, muß Hürden überwinden und Vertrauen erwerben.
ZEIT: Und er muß "führen"! An Ihrer Art zu führen gibt es aber viel Kritik. Hört nicht zu, ist zu autoritär, trifft einsame Entscheidungen, hat keine erkennbare eigene Meinung, ist nur Moderator - so vielstimmig klingt das.
Scharping: Eine ziemlich widersprüchliche Melange. Ein klares Mandat, ein klares Ziel und freier Rücken: dann kann man auch sehr gut agieren!
ZEIT: Vielleicht war es ein strategischer Fehler, gleich alle drei Funktionen, Parteivorsitz, Fraktionsvorsitz, Kanzlerkandidatur, an sich zu ziehen. Und vielleicht wäre es auch klüger, als Ministerpräsident von einem Ort aus zu agieren, an dem man auch gestalten kann.
Scharping: Die Konzentration der Funktionen war notwendig in der Medienwelt, in der wir leben. Und was den Wechsel nach Bonn angeht - unsere Politik kann ja nicht nur Ableger eines einzelnen Landes sein.
ZEIT: Ein verbreitetes Echo auf Sie klingt so: Sie lassen sich nicht gern auf Kritik ein. Aber die Öffentlichkeit wünscht vielleicht gar nicht die großen Entscheidungshelden, die Autorität vorspielen, über die sie nicht verfügen.
Scharping: Ich habe ein anderes Bild von mir. Mal über das Persönliche hinaus: Es gibt viele Elemente einer reformerischen Politik, aber es gibt noch nicht den Cantus firmus. Der Dreiklang ökonomischer, sozialer und ökologischer Reform muß noch stärker mit Leben gefüllt werden. Und die SPD soll noch offener werden, sonst machen wir alte Fehler, die ja das Entstehen der Grünen gefördert hatten. Ein Beispiel: Lange Zeit hat die SPD Bürgerinitiativen so betrachtet, als richteten diese sich gegen unsere Partei. Wir haben sie nicht als notwendige Ergänzung betrachtet und auch das Innovative nicht anerkannt. Wir lernen, die Vielfalt als Reichtum zu begreifen. Mit den vielen europäischen Parlamentsresolutionen wäre die Versenkung der Brent Spar nämlich nicht verhindert worden. Das ist nur der Verbrauchermacht und Greenpeace zu verdanken.
ZEIT: Schon der nordrhein-westfälischen SPD fällt es schwer, sich mit solchen Gedanken anzufreunden. Die Art der Einigung von Rot und Grün
______________________________
"Es gibt Leute, die auf
dem Tisch mitspielen und
unter dem Tisch heftig
ans Schienbein treten"
_____________________________
trägt fast den Keim des Scheiterns in sich. Wie soll daraus ein Projekt entstehen?
Scharping: Es ist zu früh für eine solche Schlußfolgerung. Schließlich gibt es neben dem, was die SPD belastet, auch positive Anzeichen, ich meine die richtige Graswurzelarbeit. Zur zynischen Gleichgültigkeit gibt es keine andere Alternative als solches Engagement.
ZEIT: Dem soll sich die SPD öffnen, raten Sie. Aber nicht zuletzt stehen Sie doch für die SPD! Und Sie werden nicht als jemand wahrgenommen, der diese Öffnung mit Macht vorantreibt. Ohne Sie zu stalinistischer Selbstkritik aufzufordern ...
Scharping: (lacht) Ich habe mich in zu viele Dinge hineingestürzt. Das, was am Ende den Bundestagswahlkampf herausgerissen hat - die Konzentration auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und das Zusammenstehen der Troika aus Gründen, die jeder beobachten kann. Vielleicht habe ich ab und zu mal zuwenig telephoniert. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht: Das allein nutzt auch nichts. (Den Satz streiche ich aber bestimmt wieder aus dem Interview heraus.) Zurück zum Politischen: Soziale, ökonomische und ökologische Modernisierung wollen wir miteinander verknüpfen. Das wichtigste überhaupt ist, die Bedingungen dafür zu schaffen, damit die Idee von der Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen in der politischen Praxis eingelöst werden kann. Das ist im Alltagsbetrieb zu wenig sichtbar.
ZEIT: Hat damit die SPD, haben Sie Ihr wirkliches Thema gefunden?
Scharping: Ich glaube schon, aber wir gehen zusammen damit nicht offensiv, sorgfältig und geschlossen genug um. Außerdem: Wenn wir etwas zum Arbeitsförderungsgesetz oder zur Armutsentwicklung sagen, kommt als erste Frage von Journalisten zurück: Vielen Dank für die Pflichtnummer, aber was sagen Sie zu den Tornados?
ZEIT.: Gut, aber nicht nur Jorunalisten machen Nebenfragen zu Hauptfragen. Was ist eigentlich - Beispiel Bosnien, Kernenergie - Ihre Position?
Scharping: Bosnien: Helfen, aber keine Kampfhandlungen riskieren. Kernenergie: So rasch wie möglich raus. Ganz allgemein: Ich habe etwas gegen den Voluntarismus der Moden. Aber ich habe auch etwas gegen den Dogmatismus der Exegesen. Der modische Voluntarismus erzeugt am Ende genau das, was er angeblich bekämpfen will, nämlich Enttäuschung, Abwendung von Parteien, mangelnde Wahlbeteiligung.
ZEIT: Was den Voluntarismus der Moden angeht, fällt uns Schröders Samstagsarbeit ein. Und zum Dogmatismus der Exegese das strenge Bewachen von Parteibeschlüssen durch Ihren Stellvertreter Lafontaine, etwa in der Energiepolitik. Denken Sie auch an diese Beispiele?
Scharping: Nein, in der Energiepolitik wird keine formale Beschlußlage bewacht, sondern die Überzeugung der Sozialdemokratie. Das halte ich für absolut richtig. Hans-Ulrich Klose hat uns nicht nur vorgeworfen, wir klebten an Parteitagsbeschlüssen, er reicht auch die Formel herum, der SPD fehle ein faszinierendes Projekt. Ja, verdammt noch mal: Es gibt acht Millionen Arbeitslose. Denen zu helfen, dafür Verantwortung zu wecken, Leistung und Gemeinsinn zu mobilisieren, das soll kein faszinierendes Projekt sein? Da faß´ ich mich doch an den Kopf! Zur Arbeit am Samstag als Regelarbeitszeit sage ich nein. Die Phantasie darf sich nicht in Lohndrückerei erschöpfen. In der industriellen Fertigung sind die Maschinenlaufzeiten der Schlüssel. Und die Politik muß die Lohnnebenkosten senken.
ZEIT: Wenn Sie meinen, Rot-Grün sei ein sinnvolles Projekt, müßten Sie es dann nicht deutlich zeigen? Statt dessen wollen Sie erst mal die Bündnisfähigkeit der Grünen gestreng prüfen ... Ebenso legitim wäre es zu sagen: Manches läßt sich nur im Rahmen einer reformorientierten großen Koalition anpacken. Aber in keine Richtung treten Sie wirklich offensiv auf.
Scharping: Doch, doch. SPD und Grüne können Deutsschland voranbringen. Sie unterstellen mir, daß ich mit dem Nennen von Voraussetzungen die Perspektive verbaue oder nur halbherzig angehe. Es geht aber doch nicht um den Willen der Akteure allein, nach dem Motto: Die Welt als Wille ohne Vorstellung. Andererseits: Eine große Koalition ist nicht illegitim. Aber sie ist keine realistische und für mich auch keine wünschbare Perspektive. Ich habe eine tiefe Abneigung dagegen, die Kernfragen der Politik in ein Koalitionskorsett zu pressen. Meine Sorge im Blick auf die SPD-Grün-Debatte ist, daß das in einem Nullsummenspiel endet. Wer außer der SPD kann die Integration der Gesellschaft bewirken?
Viele sagen: Bitte, weniger Staat! Bitte, weniger Kosten! Auf gute Schulen, funktionierende Krankenhäuser und eine wirksame Polizei wollen sie aber nicht verzichten. Viele plädieren für Subventionsabbau. Aber treffen darf er sie nicht. Die SPD hat nur dann eine zusammenhaltende soziale Perspektive, wenn sie den Traditionsbestand auf das - auch für die Zikunft - Erforderliche reduziert und mit Modernität verbindet.
ZEIT: Können Sie das konkretisieren?
Scharping: Ich meine die "Zukunft der Arbeit", welche Arbeit hat Zukunft, oder auch die Modernisierung der Verwaltung. Warum soll ein Haus im Rahmen eines Bebauungsplans noch öffentlich genehmigt werden? Ich wende mich zwar gegen den Dogmatismus der Exegese. Aber ist der freischaffende Software-Entwickler das Modell der künftigen Arbeitsgesellschaft? Oder nur ein Element? Können wir auf die sozial abgesichterten und vertraglich gebundenen Arbeitsbeziehungen verzichten? Nein! Arbeit gibt es reichlich. Aber wir machen keine Arbeitsplätze daraus.
ZEIT: Herr Scharping, Bonn ist nicht Mainz. Wie sieht heute Ihre persönliche Bonn-Bilanz aus?
Scharping: Viele Leute hier in Bonn, ob sie nun politisch, journalistisch oder sonstwie tätig sind, sind weit weg vom Leben.
ZEIT: Die Bonner sind der Fremdkörper?
Scharping: Ja! Bonn ist ein Feuchtbiotop. Wenn man über einen feuchten Käse allzu lange eine Glocke setzt, fängt er an zu schimmeln. Der Schimmel in Bonn, das ist diese gnadenlose Geschwätzigkeit. Der schöne Schein ist vielen wichtiger als die Wirklichkeit.
ZEIT: Zum Abschluß werden wir persönlich, Herr Scharping. Was halten Sie von der These, daß eine ganze Generation - die der sogenannten 68er - machtpolitisch mehr oder weniger ausfällt?
Scharping: In der Generation der 68er gibt es viele frustrierte Leute. Sie leben persönlich ganz gut, und das in einer Gesellschaft, die mit ihren früheren Idealen nicht übereinstimmt. Damit werden viele nicht fertig. Die sollten alle aus ihren individuellen Nischen herauskommen und das Projekt "Zukunft" mitgestalten. Aber - das muß ich leider selbstkritisch sagen - dafür wende ich auch zu wenig Zeit auf.
ZEIT: Leute wie Schröder, Lafontaine und Sie haben doch zumindest gemeinsam, daß sie nicht mit dem silbernen Löffel im Mund geboren wurden. Sie haben sich hochgearbeitet. Aber dabei ist offenbar nicht das zupackende Machtgefühl herausgekommen, das andere auszeichnete. Und wenn es das doch gibt, wie in dem einen Fall, wirkt es - wie sagten Sie? - voluntaristisch.
Scharping: Mir hat jemand früh einen Satz mit auf den Weg gegeben, den ich nie in meinem Leben vergessen werde: In dem Moment, wo du die Lust auf Neues verlierst, höre mit der Politik auf, weil du dann nur noch Langeweile verwaltest. Was habe ich in den letzten acht Monaten oft genug machen müssen? Konflikte moderieren und Interessen verwalten.
ZEIT: Den Eindruck lebhafter Neugier auf Neues hat man ja wirklich nicht.
Scharping: Eindrücke können korrigiert werden. Ich habe damit begonnen.
ZEIT: Falls nicht die große Verschwörung zwischen Lafontaine und Schröder stattgefunden hat und sie die Ämter, Parteivorsitz der eine, Kanzlerkandidat der andere, bereits neu aufgeteilt haben.
Scharping: Hübsch spekuliert. Das wird nicht stattfinden.