Focus: Die SPD quält sich seit Monaten mit Personalstreitereien. Steckt dahinter nicht in Wirklichkeit eine inhaltliche Krise der Partei?
Lafontaine: Personaldebatten gibt es in allen Parteien. Bevor die SPD die Aufmerksamkeit erregte war es die FDP. In der CDU gibt es Diadochenkämpfe um die Nachfolge Kohls. Die Grünen setzen sich mit Joschka Fischers Plädoyer für militärische Kampfeinsätze auseinander.
Focus: Die Debatte in der FDP wurde durch einen neuen Vorsitzenden beendet.
Lafontaine: Wir sind eine Programmpartei. Die Durchhänger in unserem öffentlichen Erscheinungsbild können wir überwinden, wenn wir uns wieder auf die Politik konzentrieren.
Focus: Ist die "Programmpartei SPD" noch auf der Höhe der Zeit?
Lafontaine: Die politischen Grundaussagen unseres Programmms sind nach wie vor gültig und aktuell: Die SPD wird weiterhin auf eine friedliche Außenpolitik setzten, auf ökologische Erneuerung unserer Gesellschaft, auf die soziale Gerechtigkeit und auf die Demokratie.
Focus: Wen will die SPD damit in Zukunft erreichen? Die Grünen brechen immer massiver in SPD-Wählerschichten ein, gleichzeitig verschwinden die klassischen sozialdemokratischen Milieus.
Lafontaine: Die Grünen entstanden, weil die demokratischen Parteien auf die Frage des Umweltschutzes unzureichende Antworten gegeben haben. Das wird sich ändern.
Focus: Wie denn?
Lafontaine: Der Umweltschutz entscheidet über das Überleben der Menschheit. Die SPD hat in diesem Bereich keine programmatischen Defizite. Es geht um die Umsetzung unserer Vorstellungen.
Focus: Das wäre eine Aufgabe der Bundestagsfraktion. Die vermittelt im Moment aber nicht unbedingt Aufbruchstimmung.
Lafontaine: Eine Oppositionsfraktion hat es bekanntlich immer schwerer, sich in Szene zu setzen, als die Regierung. Ich räume ja ein, daß wir derzeit Probleme im öffentlichen Erscheinungsbild haben. Aber andererseits sind wir in den Ländern so stark wie niemals zuvor. Es gibt überhaupt keinen Gtrund, vergangenen Zeiten nachzuträumen.
Focus: Verstehen wir Sie richtig: kein Grund zur Unruhe für die SPD?
Lafontaine: Wir müssen uns auf unsere Kraft besinnen und wieder sagen, was sozialdemokratische von konservativer Politik unterscheidet.
Focus: Das würde uns auch interessieren.
Lafontaine: Wir sind für die ökologische Steuerreform. Wir wollen die Lohnnebenkosten für Arbeitnehmer und Unternehmen senken und im Gegenzug den Energieverbrauch stärker belasten. Wir wollen ein sozial gerechtes Steuersystem, weil das jetzige ungerecht ist und zur Steuerhinterziehung führt. Wir wolllen mehr Arbeitsplätze anbieten. Wir können beispielsweise nicht zulassen, daß unsere Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze an ausländische Kollegen abgeben müssen, die bereit sind, bei uns für Hungerlöhne zu arbeiten. Die Entsendungsrichtlinien sind deshalb ein brennendes sozialdemokratisches Thema. Kohl hat in Maastricht nicht aufgepaßt. Der Vertrag muß überarbeitet werden.
Focus: Wie schaffen Sie mehr Arbeit?
Lafontaine: Wir brauchen neue Produkte, neue Investitionen und eine gerechte Verteilung der Arbeit. Die Debatte um die Arbeitszeitverkürzung ist von der Regierung Kohl jahrelang blockiert worden. Der Herr Bundeskanzler selbst bezeichnete die Arbeitszeitverkürzung als "dumm töricht und absurd". Inzwischen redet auch er von Teilzeitarbeitsplätzen. Das ist ein deutlicher Fortschritt, aber die Teilzeitarbeitsplätze werden für die Frauen reserviert und schlecht bezahlt - so war die Debatte nicht gemeint.
Focus: Wie dann?
Lafontaine: Es geht darum, durch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit mehr Menschen den Zugang zum Erwerbsleben zu ermöglichen. Dieser Programmpunkt bleibt auf der Tagesordnung in einer Gesellschaft, in der die Produktivität stärker ansteigt als die Wirtschaftsleistung.
Focus: Das wird nicht ohne Lohneinbußen gehen.
Lafontaine: Das Thema ist ausdiskutiert. Spürbare Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich kann es nicht geben. Teilzeitarbeitsplätze sind ja nichts anderes als Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich.
Focus: Wie soll die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Zukunft aussehen?
Lafontaine: Wir haben die 30-Stunden-Woche in unserem Grundsatzprogramm, und das ist wahrlich kein revolutionäres Ziel. Ludwig Erhard hat die 35-Stunden-Woche schon in den 60er Jahren angepeilt. Die derzeitige Arbeitszeitverteilung ist unsinnig: Ein Teil arbeitet 35 bis 40 Stunden oder mehr und finanziert durch hohe Steuern und Sozialabgagen den anderen Teil, der die Arbeitszeit Null hat.
Focus: Und dann geht's aufwärts mit dem Standort Deutschland?
Lafontaine: Wir brauchen auch eine vernünftge Wirtschaftspolitik, die sich das strategische Ziel setzt, Weltmarktanteile zu erobern. Deutschland ist dabei, Opfer einer Ideologie zu werden, die fordert, der Staat soll sich, im Gegensatz zu Japan, nicht in die Wirtschaft einmischen. Dabei lenkt der Staat doch bereits in vielen Bereichen - ob beim Ausbau der Kernenergie, in der Telekommunikation oder in der Luft- und Raunfahrtindustrie. Es wäre dringend notwendig, endlich Technologien zu fördern, denen die Zukunft gehört, wie den regenerierbaren Energien und der Sonnenenergie. Wir brauchen außerdem eine Modernisierung des Steuerrechts. Das Steuerrecht ist so kompliziert geworden, daß es sozial ungerecht und teilweise auch investitionshemmend ist. Die Koalition verhindert den Abbau ungezählter Steuersubventionen.
Focus: Wollen Sie auch die Sozialversicherung reformieren? Von Herrn Blüm und Herrn Dreßler hören wir dazu nur: Die Rente ist sicher.
Lafontaine: Es gibt unstreitige Reformansätze. Wir könnnen auf die ständig steigende Lebenserwartung nicht mit immer kürzerer Lebensarbeitszeit reagieren. Die Frühpensionierung greift immer mehr um sich. Das ist der falsche Weg. Wir brauchen Arbeitszeitmodelle, die dem älteren Arbeitnehmer einen besseren Übergang in den Ruhestand ermöglichen - mit verkürzter Wochenarbeitszeit, aber längerer Lebensarbeitszeit. Im übrigen ist die Frage der Rentenfinanzierung immer davon abhängig, wie viele Beschäftigte es gibt. Um mehr Menschen Arbeit zu geben, müssen wir neue Märkte erschließen und neue Produkte entwickeln. Darüber hinaus muß die Bundesbank die Zinsen senken.
Focus: Sie sprechen viel über Modernisierung. Wie modern ist das SPD-Personal? Nach dem Parteitag im Herbst wird Rudolf Scharping mit 47 Jahren voraussichtlich das jüngste Vorstandsmitglied sein.
Lafontaine: Wir werden uns mehr um den Nachwuchs kümmern und das Personal verjüngen. Ich werde mich auf jeden Fall dafür einsetzen und konkrete Vorschläge machen. Bei der Neuaufstellung der Listen zu den Landtags- und Bundestagswahlen sollten verstärkt junge Leute berücksichtigt werden.
Focus: Wer wird 1998 Parteivorsitzender, wer Kanzlerkandidat der SPD sein?
Lafontaine: Die Entscheidungen sind getroffen, und Rudolf Scharping hat dazu alles gesagt.