Vorwärts Juni 1995 parteilich - politisch - initiativ
Die AG 60plus drängt auf einen angemessenen Anteil an Ämtern und Mandaten - notfalls per Quotenregelung von Michael Scholing "Wir sind der Trend", lautet ihre selbstbewußte Parole. Mit Macht drängen die roten Senioren auf angemessene Beteiligung - in den Gremien der Partei, aber auch in den Parlamenten. Wann werden sich alt (60plus) und jung (Jusos) gegen das alles beherrschende Mittelalter verbünden? Wie mag die Stimmung bei uns Älteren sein, fragte sich Ernst Kerk unlängst und dann gleich die Altersgenossen selbst. Das Ergebnis der Basis-Recherche des Bremer Landesvorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft 60plus signalisiert ein Ende der Bescheidenheit. "Die Älteren", sagt Kerk, "murren immer lauter, sie wollen in der Partei nicht bloß Wasserträger sein, sondern selber mitreden und mitentscheiden." Der selbstbewußte Anspruch steht auf dem soliden Fundament einer stetig wachsenden Zahl älterer Menschen und ihrer zunehmenden Marktmacht. Das neue Alter ist beweglich und engagiert, politisch informiert und interessiert. Jeder dritte ist laut Meinungsforschungsinstitut "IPOS" sogar geneigt, bei Demonstrationen mitzugehen - unvorstellbar noch vor einer Generation. Alt gleich krank gleich politisch genügsam - das stimmt eben schon lange nicht mehr. So mancher klebt dagegen allzugern an überkommenen Alters-bildern. Jüngstes Beispiel: Heidi Schüller. In ihrem Buch "Die Alterslüge" deutet die parteilose Publizistin individuelle wie gesellschaftliche Alterung polemisch als "Vergreisung". Ebenso reißerisch wettert sie gegen "Alten-Diktatur" und "Versorgungsterror". Wer so rede, schüre "Ängste und Vorurteile", urteilte auch Hans-Ulrich Klose, der Bundesvorsitzende der SPD- Senioren. Tatsächlich sind die Älteren - wie die Jüngeren - in den Entscheidungsgremien der Parteien - auch in der SPD - ebenso wie in den Parlamenten deutlich unterrepräsentiert. In der Politik geben seit etwa einem Vierteljahrhundert die 45- bis 55jährigen (Männer) klar den Ton an. Dabei stellen die über 60jährigen schon heute 28 Prozent der Wahlberechtigten und ein Drittel der Wähler. Im Bundestag aber sind sie mit einem Anteil von 8,8 Prozent an den Mandaten nur schwach vertreten und in den meisten Landesparlamenten ist es nicht anders. Eine vom Nachrichtenmagazin "Focus" in Auftrag gegebene Umfrage belegt hingegen, daß eine Mehrheit der Bevölkerung eher Vertrauen zu älteren als zu jüngeren Politikern hat. Bei den über 60jährigen bestätigen dies sogar zwei Drittel der Befragten. Daß die Farbe "grau" voll im Trend liegt, hat auch Helmut Kohl erfaßt. Niemand anderes als der CDU-Vorsitzende und Kanzler höchstselbst wies denn auch die parteinahe Konrad-Adenauer-Stiftung an, die neue Zielgruppe systematisch auszuforschen. Ein Arbeitsschwerpunkt "Älterwerden der Gesellschaft" wurde eingerichtet, wissenschaftliche Expertisen sind in Arbeit, Veranstaltungen in Vorbereitung. Wer das Alter hat, scheint Kohl zu schwanen, der hat die Zukunft. In den nächsten fünfzehn Monaten sollen deshalb, so der "Kampfauftrag" des Bonner Adenauer-Hauses, immerhin 60 000 neue Mitglieder in der Altersgruppe der über 60jährigen gewonnen werden. "Erwartungen, Erfahrungen und Kompetenzen der älteren Menschen zu ignorieren kann sich eine Volkspartei, die Mehrheiten sucht für ihre Politik, nicht leisten", sagt auch die Sozialdemokratin Gotlind Braun, die dem Bundesvorstand der AG 60plus angehört. Tatsächlich sind die grauen Zellen in der SPD (formelle Mitgliederzahl rund 240 000) äußerst beweglich und agil. So konnte die Partei bei den Älteren zuletzt auch kräftig zulegen und den Abstand zur CDU bei der Bundestagswahl um immerhin zehn Prozentpunkte verkürzen. "Die 60plus-Gründungen", weiß Günter Verheugen, "haben uns viel Rückenwind verschafft". Und Sturm und Drang halten an. In Bremen waren die 60plus-Aktivisten während des Wahlkampfes phasenweise "jeden Tag auf der Straße", wie Ernst Kerk stolz versichert. Allein im ersten Halbjahr 1995 organisierte der Bundesvorstand der AG zudem rund 50 "Regionalkonferenzen". Terminkalender von 70- oder auch 75jährigen sind voll wie die von mittleren Managern. Dabei wendet sich die junge Arbeitsgemeinschaft am liebsten an bisher passive Mitglieder, nicht minder an Bürger ohne Parteibuch. "Alle, die es möchten", wirbt ein 60plus-Faltblatt, "sollten tatsächlich mitmachen". Der Ruf verhallt offenbar nicht ungehört. Denn während die Partei über Austritte klagt, erhält 60plus-Chef Hans-Ulrich Klose in letzter Zeit ganz unverhofft immer mal wieder Briefe wie den einer 58jährigen Professorin aus Koblenz, die sich als späte Neueinsteigerin durchaus denken könne, sich für die Interessen der 60plus-Bürgerinnen und -Bürger einzusetzen. Leicht hat's der graue Nachwuchs indes nicht überall gleich. In Hessen etwa wurden die 60plus-Aktivisten barsch abgeschmettert bei ihrem Versuch, wenigstens einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste zu ergattern. In Bremen sollte es eigentlich besser laufen, vier Plätze waren den Senioren zugesagt. Doch am Ende wollte keiner mehr etwas davon wissen. Ernst Kerk: "Im Trubel der vorgezogenen Neuwahlen sind wir mal wieder hinten runtergefallen." Hinter solchen Ohrfeigen steckt eine Haltung, die "Zukunft" und "Fortschritt" immer noch mit jungen Menschen verbindet. Der Referent beim SPD-Parteivorstand, Malte Ristau, hält den Genossen deshalb gern "Jugendwahn" vor. Einige hätten "einfach noch nicht begriffen, daß die Älteren höchst produktiv sind und die Jüngeren viel weniger innovativ, als gemeinhin angenommen wird". Auf ihrem Bundeskongreß im September will die Arbeitsgemeinschaft deshalb unüberhörbar auf einen angemessenen Anteil an Ämtern und Mandaten drängen. "Wir denken ernsthaft darüber nach, eine Quote zu fordern", droht gar Ernst Kerk. Damit würden die Älteren in die Fußstapfen der Frauen treten, die mit der Quote eine scharfe Waffe im Kampf um innerparteiliche Gleichberechtigung durchsetzen konnten. Auf dem SPD- Parteitag im November wollen sie dafür sorgen, daß mindestens zwei 60plus-Mitglieder in den neuen Parteivorstand gewählt werden. In Berlin-Lichtenberg sind die Mitglieder der AG 60plus bereits vom Reden zum Handeln übergegangen. Sie schlossen dort einen Pakt mit den Jungsozialisten - zum beiderseitigen Vorteil. So gelangte erst ein Oldie und dann ein Youngster auf einen sicheren Listenplatz für die Abgeordnetenhaus-Wahlen im Herbst.