hide random home http://www.spd.de/politikfelder/allgemei/8-mai.html (Einblicke ins Internet, 10/1995)


Pressemitteilung des SPD Parteivorstandes vom 3. Mai 1995

Im Bewußtsein unserer Geschichte den Blick in die Zukunft richten Erklärung der SPD zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 8.Mai 1945 Der 8. Mai 1945 beendete für Europa den von Deutschland ausgegangenen Zweiten Weltkrieg und für Deutschland die verbrecherische Herrschaft der Nationalsozialisten. Die Gewalt und Brutalität dieses Krieges, die sich gegen Deutschland kehren mußte, fand ein Ende. Das millionenfache Morden und die grausame Unterdrückung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war vorüber. Der 8. Mai war deshalb ein Tag der Befreiung von Diktatur und Gewaltherrschaft. Es war ein Tag der Freude und des Aufatmens für unsere Nachbarländer und für alle, die unter großen Opfern mitgewirkt haben, Deutschland und Europa vom Joch der Nazis zu befreien. Die Folgen des Krieges wirkten weiter und für Millionen von Vertriebenen, Gefangenen und Verschleppten setzten sich Leiden und Ungerechtigkeit teilweise bis in die heutige Zeit fort. Dies war die Folge eines verbrecherischen Krieges und Folge der von Deutschen begangenen Verbrechen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Das deutsche Volk hat es nicht vermocht, die blutige Schreckensherrschaft aus eigener Kraft abzuschütteln. Es bedurfte unzähliger Opfer und der ganzen Kraft der gegen Hitler verbündeten Staaten, um die Diktatur der Nazis zu beenden. Wir trauern auch um diese Opfer. Ihnen gilt unser Dank. Aber für viele Millionen Ermordeter, Gefallener, Verstümmelter kam der Tag der Befreiung zu spät. Der Krieg war in Europa zu Ende. Es darf nicht vergessen werden, daß er im Fernen Osten noch mehr als drei schreckliche Monate länger dauerte und dort erst nach dem Einsatz einer apokalyptischen Waffe zum Stillstand kam. 50 Jahre sind seither vergangen. Die Herrschaft der Nationalsozialisten war nicht von außen über unser Volk verhängt worden. Auch wenn das Maß von Verantwortung und Schuld sehr ungleich verteilt ist, spüren wir in Deutschland auch heute noch die Last dessen, was in dieser Epoche der Menschheit zugefügt worden ist. Die deutschen Sozialdemokraten standen niemals auf der Seite der politischen Kräfte, die mit leichtfertigem Zusammenspiel das Heraufkommen der Nationalsozialisten ermöglicht hatten. Zahlreiche Sozialdemokraten organisierten sich im Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft. Viele von ihnen zahlten für diesen Einsatz einen hohen Preis: Sie wurden verfolgt, inhaftiert, gefoltert und ermordet. Die deutsche Sozialdemokratie hat das heraufziehende Unheil erkannt und dagegen gekämpft. Ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz war eine große Stunde nicht nur der sozialdemokratischen, sondern der Geschichte unseres gesamten Volkes. Die Frauen und Männer aus unseren Reihen, die wegen ihres Widerstandes verfolgt wurden, bleiben uns unvergessen. Ihr Leben und Handeln ist uns Mahnung und Verpflichtung. Wir Sozialdemokraten erkennen die gemeinsame Verantwortung, zusammen mit allen demokratischen Kräften in unserem Land, für die Erinnerung an das Geschehene, für die Bewahrung von Freiheitlichkeit, Demokratie und einer auf die Prinzipien der Menschenwürde verpflichtenden Politik an. Wir gedenken mit Trauer all der Opfer, die Gewaltherrschaft und Krieg gefordert haben. Gemeinsam erinnern wir uns an die Menschen, die aus politischen, rassischen oder anderen Gründen verfolgt wurden: die Juden, Sinti und Roma, die Homosexuellen, die hier ermordeten Kriegsgefangenen, die Widerstandskämpfer aus vielen Nationen, die katholischen und evangelischen Christen, die Zeugen Jehovas, die wegen ihres Glaubens hier gelitten haben, die sogenannten Asozialen, die hier eingesperrt wurden und all jene Verfolgten, die aufgrund ihrer politischen Überzeugungen und ihres Widerstandes gegen das Nazi-Regime interniert, gefoltert und getötet wurden. Der Respekt vor den Opfern und die Lehren unserer Geschichte gebieten es, wachsam zu bleiben und gegenüber allen Versuchen der Verharmlosung, der Relativierung, der Vertuschung und des gegenseitigen Aufrechnens unduldsam zu sein. Wir warnen vor allen Versuchen, im Bewußtsein der Menschen die Geschichte unseres Landes revidieren zu wollen. Rechtsextremismus im alten oder neuen Gewand, Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit müssen in unserem Volk geächtet bleiben. Wir sehen mit Sorge, daß diese unheilvollen Kräfte immer noch lebendig sind. Es ist Aufgabe aller Demokraten, dagegen entschieden Widerstand zu leisten. Noch heute gibt es große Probleme bei dem Bemühen um materiellen Ausgleich und der moralischen Anerkennung für alle Opfer und das Leid und Unrecht, das von diesem verbrecherischen System angerichtet worden ist. Uns ist bewußt, daß es eine wirkliche Wiedergutmachung nicht geben kann. Alle Opfer des Nazi-Terrors haben aber ohne Ausnahme ein Anrecht auf die Anerkennung ihrer Leiden und die Würdigung ihres Schicksals. Angesichts der beschämenden, sehr zögerlichen und unzulänglichen Wiedergutmachung für die Opfer des NS-Systems muß der politische Wille des demokratischen Staates sichtbar werden, alle Geschädigten und Verfolgten der Diktatur zu unterstützen und ihnen ihre Würde zurückzugeben. 50 Jahre danach dürfen wir aber den Blick nicht nur in die Vergangenheit richten. Europa war als Folge des Krieges jahrzehntelang in zwei sich feindselig gegenüberstehende Systeme gespalten. Der Eiserne Vorhang, der die Grenzlinie zwischen den beiden Systemen markierte, ging mitten durch unser Land als eine tödlich trennende Grenze. Die Nachkriegsgeschichte nahm in beiden Teilen Europas einen sehr unterschiedlichen Verlauf. Während im Westen die Menschen und Staatengemeinschaften die Chance eines demokratischen Neubeginns, eines von freiheitlichen Prinzipien gestalteten wirtschaftlichen Aufbaus und - in unterschiedlichem Maße - einer sozial ausgleichenden politischen Entwicklung erhielten, gerieten die Menschen im Osten Europas unter die Zwänge einer totalitären, ideologisch begründeten Diktatur, die ihnen Selbstbestimmung, demokratische Gestaltung, die Erträge ihrer Arbeit und meist sogar die persönlichen Freiheitsrechte vorenthielt. Vor zehn Jahren, beim vierzigsten Gedenktag des Kriegsendes, stand angesichts der hochgerüsteten, mit schrecklichen Massenvernichtungsmitteln ausgestatteten Konfliktpotentiale in Ost und West die Sorge um die Friedenssicherung im Mittelpunkt. Die Politik gegenseitiger Vernichtungsdrohung, die sich stets neu steigerte und übertrumpfte, hatte bei den Menschen in Europa tiefe Ängste und bei der Politik die irrationale Suche nach absoluter Sicherheit, ja Unverwundbarkeit heraufbeschworen. Diesem Wettrüsten galt damals unsere Absage. Seither ist infolge des Zusammenbruchs der kommunistischen Diktaturen im Osten Europas eine neue Situation entstanden mit großen Chancen, aber auch vielen neuen Gefahren und Risiken. Das bisher gespaltene Europa hat nun die Möglichkeit zusammenzuwachsen. Daß dies möglich wurde ist nicht zuletzt der Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts zu danken. Die Menschen im Osten Europas können den bisher vorenthaltenen Weg zu einer demokratischen, freiheitlichen, gerechten und sozialen, dem Frieden verpflichteten Ordnung gehen. Im Westen Europas haben die ehemaligen Kriegsgegner in der Zeit seit 1945 Lehren aus den bitteren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, aber auch aus ihrer von immer wiederkehrenden Kriegen gekennzeichneten früheren Geschichte gezogen. Sie haben den Weg zu einer friedensfördernden Zusammenarbeit gefunden, die heute kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihnen unvorstellbar macht. Schon 1925 haben die deutschen Sozialdemokraten ihre Friedenshoffnung auf die "Vereinigten Staaten von Europa" gesetzt. Diese Hoffnung sehen wir heute in der Europäischen Union aufgegriffen. Die Sicherung des Friedens, die friedliche Zusammenarbeit ist nicht mehr nur auf guten Willen und hehre Prinzipien, sondern auf die Gemeinsamkeit von Interessen gebaut. Die Bundesrepublik Deutschland hat einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der Europäischen Union geleistet; das vereinigte Deutschland begreift sich heute als Teil dieser Staatengemeinschaft. Nach dem Ende der Spaltung Europas durch den Ost-West- Konflikt ist nun die Aufgabe gestellt, den Völkern im Osten Europas den Weg zu einer Beteiligung am Aufbau des vereinigten Europas zu eröffnen. Das vereinigte und größer gewordene Deutschland muß sich aus seiner besonderen Verantwortung für die verhängnisvolle Geschichte Europas in diesem Jahrhundert, in besonderer Weise für die Einbeziehung der Nachbarn im Osten in den europäischen Einigungsprozeß, einsetzen. Dies wird nicht ohne nachhaltige Hilfe für die demokratische und ökonomische Entwicklung dieser Staaten möglich sein. Wir Sozialdemokraten sehen diese Pflicht, wissen aber auch, daß der Erweiterungsprozeß nicht ohne eine Förderung des Integrationsprozesses der bisher bereits zusammengeschlossenen Staaten möglich ist. Europa muß dem Frieden in der Welt verpflichtet bleiben. Frieden ist nach dem Verständnis der deutschen Sozialdemokratie mehr als nur die Abwesenheit von Krieg: - Ein friedliches Europa setzt voraus, daß die Menschenrechte nicht nur respektiert, sondern auch eingefordert werden. Deshalb muß die Respektierung und Verwirklichung der Menschenrechte Auftrag und Maßstab deutscher Außenpolitik sein. Gerade Deutschland darf bei der Bewertung von Menschenrechtsverletzungen keine opportunistischen Maßstäbe anlegen. - Dem Frieden in Europa muß jedoch auch eine Politik dienen, die sich an den Prinzipien der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs orientiert. Die Menschenwürde erfordert es, die sozialen Aufgaben und Rechte innerhalb der Europäischen Union mit einem höheren Rang als bisher zu versehen. Der Frieden ist gefährdet, wenn innerhalb unserer Staatengemeinschaft die Schwächeren an den Rand gedrängt und ausgegrenzt werden. Soziale Ungerechtigkeit und Massenarbeitslosigkeit schaffen gesellschaftliche Ausgrenzung, Armut und Angst. Aus dieser Angst konnten die Nationalsozialisten ihre zerstörerische Agitation aufbauen. Solche Angst spielt auch heute den Rechtsextremisten in die Hände, nicht nur in Deutschland. Deshalb muß eine vollendete Demokratie immer auch eine soziale Demokratie sein. - Und schließlich setzt ein friedliches Europa voraus, daß sich alle seine Bürgerinnen und Bürger mit gleichen demokratischen Rechten an der politischen Willensbildung und den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beteiligen können. Die Verflechtung wirtschaftlicher Interessen stand am Anfang des Zusammenschlusses europäischer Staaten im Westen. Heute muß das Ziel die zivile Gesellschaft sein, in der bei aller Anerkennung marktwirtschaftlicher Grundsätze diese nicht verabsolutiert, sondern der humanen Gesellschaftsgestaltung untergeordnet werden. Die europäischen Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg sind auf die Bewahrung, Sicherung und Gewährleistung des Friedens in Europa gerichtet. Lange Zeit schien dies gewährleistet. Heute aber ist Krieg in Europa. Unter unseren Augen, vor der Haustüre, findet seit mehreren Jahren ein blutiger, unbegreiflicher Krieg statt, der schon viele Menschenleben gefordert hat. Erneut erleben wir die Gefährdung durch Nationalisierung und Ethnisierung, sowie durch ein übersteigertes Selbstbestimmungsrecht. Daß wir es hinnehmen müssen, wenn unter dem Begriff "ethnischer Säuberung" erneut die Anwesenheit von Menschen verschiedener Herkunft als "Verschmutzung" gewertet wird, stellt die Prinzipien unserer Wertordnung zutiefst in Frage. Die offensichtlichen Grenzen der Einflußnahme, nachdem der Konflikt erst einmal gewaltsam ausgebrochen war, zeigen, wie wichtig heute eine vorausschauende, auf Kooperation und Integration bauende Politik ist. Eine engagierte Europa-Politik, die auf die Einbeziehung Ost-Europas zielt, ist daher eine aktive und notwendige Friedenspolitik. Heute, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und fünf Jahre nach dem Ende der Spaltung Europas kommt es darauf an, das Bewußtsein unserer Geschichte lebendig zu erhalten und in diesem Bewußtsein den Blick in die Zukunft zu richten. Wir tun gut daran, zusammen mit unseren Nachbarn im Osten und im Westen die Prinzipien für ein friedliches Zusammenleben unseres Kontinents abzustimmen und im gemeinsamen Austausch mit Kraft zu versehen. Die Welt ist näher zusammengerückt, Konflikte in anderen Teilen der Welt und globale Gefahren betreffen uns unmittelbar. Europa darf sich nicht gegenüber Krisenregionen dieser Welt abschotten. Eine Außenpolitik, die sich aus ihrer geschichtlichen Verantwortung als Friedenspolitik versteht, darf nicht an Europas Grenzen Halt machen. Wir Sozialdemokraten sehen darin eine besondere Verpflichtung.