© 1995 by Christo & Taschen Verlag
Projekt für ein verhülltes öffentliches Gebäude, 1961
41,5 x 25cm
New York, Sammlung Jeanne-Claude Christo
Foto: Harry Shunk
Schon sehr früh faßte Christo ehrgeizige, großformatige Projekte ins Auge. Im Jahre 1961 entstand sein Projekt für ein verhülltes öffentliches Gebäude. Christo stellte Fotocollagen zusammen und verfaßte eine Projektbeschreibung: Das Gebäude befindet sich auf einem weiten und symmetrischen Platz. Ein Gebäude mit einer rechteckigen Basis, ohne eine Fassade. Das Gebäude wird vollständig abgeschlossen sein das heißt, auf jeder Seite verhüllt. Der Zugang wird unterirdisch erfolgen, etwa 15 oder 20 Meter vom Gebäude entfernt. Die Verhüllung des Gebäudes erfolgt mit beschichtetem Segeltuch- und verstärkten Kunststoffbahnen von einer durchschnittlichen Breite von 10 bis 20 Metern. Kurz darauf machte Christo seine ersten Vorschläge, bestimmte öffentliche Gebäude zu verhüllen die Ecole Militaire in Paris und den Arc de Triomphe , doch keines dieser Projekte wurde realisiert. Für die Verhüllung der Ecole Militaire sollten Zeltplanen, Stahlseile (um das Gebäude nicht einrüsten zu müssen) und starke Hanf-Seile verwendet werden. In seiner Projektbeschreibung gab Christo verschiedene Verwendungszwecke für die Verhüllung an: als Schutzbedeckung bei Wartungs- oder Reinigungsarbeiten, als Schauplatz für ein monumentales Son et lumire-Spektakel, als Verpackungseinrüstung, falls das Gebäude einmal abgerissen werden sollte. Der Argwohn der Behörden angesichts solcher Vorschläge hing offenkundig damit zusammen, daß sie einfach nicht wußten, wie ernst sie den Künstler tatsächlich nehmen konnten.
Henry Moore
Menschenmenge, die ein verschnürtes Objekt betrachtet, 1942
Kreide, Buntstift, Aquarell und Tusche auf Papier
43,2 x 55,9cm
Sammlung The Late Lord Clark of Saltwood, Courtesy. The Henry Moore Foundation
Foto: Harry Shunk
Nur wenige Künstler vor Christo haben ein Interesse an Verhüllungen gezeigt. Henry Moores Zeichnung Menschenmenge, die ein verschnürtes Objekt betrachtet (1942) und Man Rays Fotografie Das Rätsel des Isidore Ducasse (1920) sind als mögliche Inspirationsquellen genannt worden, doch nach Christos eigener Aussage hatte er schon seit geraumer Zeit mit seinen Verhüllungen begonnen, als er diese Werke zum ersten Mal sah. Die Frage ist ohnehin kaum von Belang: Selbst wenn es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Christos Verhüllungsarbeiten und diesen beiden Vorläufern gäbe, so haben doch viele der bedeutenden späteren Projekte der Christos der Valley Curtain, Rifle, Colorado (1970-1972) oder der Running Fence (1972-1976), die Surrounded Islands (1980-1983) oder The Umbrellas, JapanUSA (1984-1991) mit den Verhüllungsprojekten im engeren Sinne nur noch das Interesse an der Arbeit mit Stoff gemein. Und auch in Over the River, einem noch in Planung befindlichen Projekt, liegt der Schwerpunkt nicht auf der Verhüllung, sondern darauf, mit Hilfe der natürlichen Umgebung und des Stoffs, der Bewegungs- und Lichteffekte neue Formen und Bildkonzeptionen hervorzubringen. Die Christos erklärten mir ihr ästhetisches Konzept folgendermaßen: Die traditionelle Skulptur schafft ihren eigenen Raum. Wir nehmen einen Raum, der nicht zur Skulptur gehört, und machen daraus Skulptur. Das ist vergleichbar mit dem, was Claude Monet mit der Kathedrale in Rouen gemacht hat. Claude Monet ging es nicht etwa darum zu sagen, die gotische Kathedrale sei gut oder schlecht, aber er konnte die Kathedrale in Blau, Gelb und Lila sehen.
Verhülltes Porträt Jeanne-Claude, 1963
Mit Polyethylenfolie und Schnur verhülltes Ölgemälde
75 x 55 x 4 cm
New York, Sammlung Jeanne-Claude Christo
Foto: Eeva-Inkeri
Die Christos haben eine enorme Energie in die Entwicklung dieses ästhetischen Konzepts investiert, darin, ihren eigenen künstlerischen Weg zu finden. Paris war auf diesem Weg nur eine Zwischenstation, und es ist kein Zufall, daß die Christos der Flüchtling aus Bulgarien und die in Marokko geborene Französin sich schließlich in den Vereinigten Staaten niederließen, im sprichwörtlichen Schmelztiegel New York. Christo in einem Gespräch mit der Zeitschrift Balkan: 1964 war mir bereits klar, daß ich nach Amerika gehen mußte, weil sich dort die Dinge schon entwickelten. Schon 1962 hatte mir der berühmte Kunsthändler Leo Castelli in Paris gesagt, mein Platz sei in Amerika. Christo fand und ging seinen Weg, und am Ende dieses Weges standen Kunstwerke, die den weisen Ausspruch G.K.Chestertons bestätigen: Jedes Kunstwerk hat ein unabdingbares Merkmal: das Zentrum des Werks ist einfach, so kompliziert die Ausführung auch sein mag. Die Kritiker die wohl- und übelgesinnten , die sich immer nur mit der Logistik von Christos Kunst aufhalten, sollten das beherzigen.
Vom ästhetischen Gesichtspunkt aus betrachtet, muß noch ein weiteres Problem angesprochen werden: Die Christos vertrauen allein auf die Schönheit eines Kunstwerks. Diese Haltung impliziert eine Gleichgültigkeit Konzeptionen gegenüber, nach denen die Kunst auch eine wie auch immer geartete gesellschaftliche, politische, ökonomische, umweltpolitische, moralische oder philosophische Bedeutung hat. Oder, um es anders zu sagen: Wenn die Christos sich damit zufriedengeben, daß das Kunstwerk einfach nur existiert, statt etwas zu bedeuten, wenn sie die Kunst also als Selbstzweck betrachten, sind sie dann nicht dem L'art pour l'art-Lager zuzuordnen? Wenn auch die Feststellung richtig ist, daß die Christos einige der L'art pour l'art-Überzeugungen teilen, so muß doch vor allem auch betont werden, daß es ihnen ausdrücklich darum geht, möglichst viele Menschen aus allen Schichten in ihre Projekte einzubeziehen und ihnen ein ästhetisches Erlebnis zu ermöglichen.