Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Aber ist es nicht eine der Ursachen der allgemeinen Ödnis, der Oberflächlichkeit, der Sinnleere, daß Menschen es nur noch selten lernen, sich mit Kunst auseinanderzusetzen und durch eigene Kreativität zu sich selbst zu finden? Kunst ist mehr als Kommerz und Unterhaltung. Sie befreit, weitet den Blick. Sie orientiert und hilft, den Sinn des eigenen Lebens zu finden.
Meine Damen und Herren, es ist wirklich keine Schande und keine verlorene Zeit, wenn sich einmal auch die Parlamentarier in diesem Hohen Hause über ein Kunstwerk streiten und darüber nachdenken.
Durch diesen Prozeß werden wir selbst Teil des Kunstwerkes, das Christo mit bewunderungswürdiger Hartnäckigkeit und Gestaltungskraft seit vielen Jahren erschafft. Nur selten gelingt es einem Künstler, einen so breiten Diskurs auszulösen. Dazu braucht es schon die Professionalität und Überzeugungskunst eines Christo. Diese soziale Komponente des Werkes kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wie langweilig ist dagegen alles, was nicht zum Widerspruch oder zu Fragen reizt. Glatte Eintönigkeit gibt es wahrlich genug.
Die Verhüllung des Reichstages, meine Kolleginnen und Kollegen, ermöglicht es uns, diesen zentralen und ambivalenten Ort deutscher Geschichte in anderem Licht zu sehen und sinnlich neu zu erfahren. Die Verhüllung ist keine Entwürdigung. Sie ist ein Ausdruck der Ehrfurcht und schafft Freiraum zur Besinnung auf das Wesentliche. In der katholischen Liturgie der Karwoche wird das Kreuz verhüllt, um dann am Höhepunkt des Karfreitags feierlich enthüllt zu werden. In der jüdischen Tradition sind es die Thorarollen, die verhüllt werden, um immer daran zu erinnern, wie kostbar das ist, was sie bergen. Der Reichstag wird durch Christos Verhüllung nicht entweiht, er wird geadelt - so merkwürdig das für ein Haus der Demokratie auch klingen mag.
Er wird hervorgehoben als ein besonderer Ort, ganz einmalig und unvergleichbar. Durch die Verhüllung wird unsere Erinnerung an das, was in und mit diesem Haus geschehen ist, an die Schaffung, den Untergang und die Wiedergeburt der Demokratie belebt. Die Verhüllung ist Erinnerungsarbeit. Nichts anderes kann unsere Auseinandersetzung mit der Geschichte doch sein: daß wir uns ein Bild machen von dem, was sich unter den Ablagerungen der Zeit an gewesener Wirklichkeit bietet. Die Verhüllung des Reichstages wird uns an die Begrenztheit unserer Wahrnehmung erinnern und daran, wie ungewiß unsere Erkenntnis ist. Das ist die Vision: Der Stein des Reichstages wird eine Zeitlang unseren Blicken verborgen. Was bleibt, ist die Form unter dem weich fallenden Stoff, die veränderte, verfremdete Gestalt. Was wir wirklich sehen werden, können auch Christos Zeichnungen nur andeuten. Aber es wird neu, und es wird vergänglich sein. Es wird ein Einschnitt sein in die Geschichte dieses Hauses, und - anders als bei dem Brand vor einem halben Jahrhundert - es wird eine friedliche, eine schöpferische Zäsur sein. Der weiche Stoff, der den Reichstag umhüllt, wird uns an die Flammen gemahnen, die aus diesen Mauern schlugen, und daran, wie verletzlich und gefährdet Demokratie ist.
Die Enthüllung schließlich ist das Symbol für die Wiedergeburt der Demokratie, für den Aufbruch unseres Landes, das mit der Wiedervereinigung ein neues Land werden sollte.
Ich wünsche uns, meine Damen und Herren, daß wir den Mut finden, uns der kreativen Provokation dieser symbolischen Verhüllung zu stellen, daß wir Mut zeigen zur ironischen Distanz mit uns selbst als Teil dieses Kunstwerks und zugleich zur verantwortlichen Integration unserer Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen, mit allem Bösen und Guten, wofür dieser Reichstag steht.
Die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen sich dieser Herausforderung stellen und stimmen Christos Projekt zu.