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Virtuelles Parlament
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Karl Heinrich Pohl

Vom Deutschen Reich bis zur Weimarer Republik

Entwicklungslinien der parlamentarischen Demokratie in Deutschland 1867-1933

Weihnachten 1916, Anbringung der Giebel-Inschrift
Foto: Archiv Cullen

5. Die unvollendete Revolution von 1918 als Weichenstellung für das Scheitern der Weimarer Republik

In keinem Bereich scheint die Diskontinuität in der Entwicklung deutlicher zu werden als im Verfassungsbereich. Das Kaiserreich, ein autokratischer, vom Militär geprägter Staat mit einem parlamentarischen "Wurmfortsatz" -, die Weimarer Republik eine parlamentarische Demokratie erster "Qualität". Von der Verfassungskonstruktion her läßt sich daher in der Tat kaum ein größerer Unterschied feststellen als der zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik; faktisch ist dieser Bruch jedoch sehr viel geringer gewesen. Zu berücksichtigen ist dabei vor allem die politische und kulturelle Tradition des Deutschen Reiches, auf der die neue Republik errichtet wurde. Es gab Kontinuitäten des Obrigkeitstaates einerseits und eines besonderen Verhältnisses zur parlamentarischen Demokratie andererseits. Sie blieben trotz des "schönen, neuen Verfassungsgehäuses" bestehen und sie sollten, wie schon im Kaiserreich, einen erheblichen Einfluß auf die Weimarer Politik ausüben.

Es gab aber auch Kontinuitäten, die demokratische Ansätze des Kaiserreiches mit der neuen Republik verbanden und die die neue demokratische Konstruktion hätten mit Leben erfüllen können. Zum einen ist dabei auf die deutsche Sozialdemokratie zu verweisen. Die Partei besaß in der neuen Republik zwar auf ihrer linken parlamentarischen Seite einen Konkurrenten, die Kommunisten, eine Tatsache, die ihre Regierungsfähigkeit nicht gerade förderte. Ihr auf den Ebenen der Gemeindepolitik, der Gewerkschaftspolitik sowie der Mitarbeit in den verschiedensten staatlichen und halbstaatlichen Institutionen gewonnenes demokratisches Potential einer kompromißbereiten Reformpolitik konnte sich nun aber unter den freieren Bedingungen der neuen Republik positiv bewähren. Aus "Außgestoßenen" der Politik konnten nun Träger eines demokratischen Parlamentarismus werden. Gerade der "demokratische Sozialismus" der deutschen Sozialdemokratie war daher dazu prädestiniert, die Republik mit Leben zu erfüllen - und hat dies mit unverdrossener Energie 14 Jahre lang getan.

Zugleich entstand damit aber für die Gegner einer Demokratie ein neues Feindbild: Es gelang ihnen, die neue Weimarer Republik als "rotes Machwerk" zu diffamieren - was es nicht wahr. Die auf demokratischer Legitimation beruhende Stärke der Sozialdemokratie, ein entscheidender Stabilisierungsfaktor für das Funktionieren der neuen Demokratie, diente den konservativen Gegnern als Alibi dafür, ihre Annäherung an die neue Staatsform zu verweigern. Ohne eine breite Zustimmung bis hin ins konservative Bürgertum war die Republik jedoch lebensunfähig.

Als positiv erwies sich neben der Mitarbeit des Zentrums und des linken Liberalismus, daß auch der rechte Liberalismus, (die Nationalliberalen), bereit war, den neuen Staat auf seine Brauchbarkeit hin wenigstens testen zu wollen - hierin unterschied er sich von den Konservativen. Stresemanns "sächsischer Weg" aus dem späten Kaiserreich führte in gerader Linie zur neuen Weimarer Republik: Die "Vernunftrepublikaner" Weimars waren Politiker, die zwar "tief in ihrem Herzen" dem Kaiserreich und vielen seiner Strukturen nachtrauerten, insbesondere dem Kaiser selber, die aber auch einige Neuerungen der Demokratie zu akzeptieren bereit waren und diese flexibel nutzen wollten. Damit wuchs eine Kategorie von "Weimarern" heran, die langfristig als Befürworter der neuen Staatsform gewonnen werden konnten.

Die Erfahrungen aus dem Kaiserreich, in dem diese Liberalen Schritt für Schritt liberale und demokratische Reformen durchzusetzen versuchten, ohne jedoch das System abschaffen zu wollen, nahmen sie mit in die neue Weimarer Republik. Damit verliehen sie der Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik eine Kontinuität, wie sie so weder von den Konservativen noch den Sozialdemokraten erfahren wurde. Die Konservativen trauerten der alten Macht viel zu sehr nach, um den neuen Staat akzeptieren zu können, während die Sozialdemokratie nur wenig Positives aus dem Kaiserreich in das neue System zu tradieren vermochte.

Die ehemaligen "Jungliberalen" hatten demgegenüber schon das Kaiserreich als ein System erlebt, in dem man etwas bewirken, in dem die bürgerliche Mitte stark sein konnte, wenn sie nur flexibel agierte und kreativ dachte. Sie waren daher in der Lage, in der Weimarer Republik nahtlos an die Zeit des Kaiserreiches anzuknüpfen. Sie verabscheuten das demokratische System nicht so, daß sie sich mit ihm nicht hätten arrangieren können. Auf einen der Weimarer Republik ähnlichen Staat hatten sie schon im Kaiserreich hingearbeitet, auch wenn sie die Macht der Sozialdemokratie gern stärker eingegrenzt hätten. Einen Machtzuwachs des Parlamentes wollten sie schon immer, gegen liberale Grundrechte hatten sie nichts einzuwenden, und - nicht zuletzt - auch Minister hatten sie schon immer werden wollen.

Daß die Deutsche Volkspartei (DVP) in der Weimarer Republik eine zentrale Rolle spielte, verdeutlicht diese Tendenz. Sie war fähig, Altes mit Neuem zu verbinden, auf die Sozialdemokratie zuzugehen und gleichzeitig auch die Konservativen zu achten. Diesen stand sie in vielen Fragen der "nationalen Ehre" nahe, hatten sie doch gemeinsam im Krieg das "größere Deutschland" gefordert. Auch in Verfassungsfragen gab es viele Gemeinsamkeiten. Zugleich aber kritisierten die Liberalen das konservative "antimoderne" Verhalten, das Unverständnis für die Rolle der Arbeiterbewegung, die elitären Vorstellungen. Trotzdem aber hofften die Liberalen, "erziehend" wirken zu können. Die Sozialdemokratie wiederum achtete man als Partner und Gegner, wenn es galt, die Stellung des industriellen Deutschland zu verbessern. Auch die Verläßlichkeit der Gewerkschaften schätzte man - auch wenn die Liberalen lieber auf freie Gewerkschaften verzichtet hätten. Mit der Sozialdemokratie ging es den Liberalen wie mit der Republik insgesamt: Sie wurde nicht geliebt, man war aber zu einem Arrangement bereit.

Wegen ihrer Mittelposition nahm der Liberalismus daher (neben der "Weimar" tragenden Sozialdemokratie) eine Schlüsselstellung für das Funktionieren der Republik ein. Daß die DVP den ersten Reichskanzler einer großen Koalition stellte, die von der DVP bis zu den Sozialdemokraten reichte, verdeutlicht diese Tendenz ebenso wie die Tatsache, daß die Partei erbittert darum rang, auch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die Nachfolgepartei der Konservativen, in die Regierungsverantwortung zu bringen, was ihr Mitte der zwanziger Jahre ebenfalls mehrfach gelang.

Faktoren, die die Weimarer Republik hätten stabilisieren können, waren also durchaus vorhanden. Wenn die Republik dennoch scheiterte, lag das - neben wirtschaftlichen Gründen und neben den schlechten Startbedingungen für das System - vor allem in dem Mangel an einer ausgebildeten parlamentarischen Kultur, an dem Nachwirken undemokratischer Denkstrukturen, sowie daran, daß die Macht der alten, demokratiefeindlichen Eliten nicht systematisch gebrochen werden konnte. An diesem Mangel konnte letztlich auch das moderne Verfassungsgehäuse nichts ändern.

Insofern lagen entscheidende Weichenstellungen für das Scheitern der Weimarer Republik bereits in der "steckengebliebenen" Revolution von 1918. Ganz zweifellos versäumte es die Sozialdemokratie, zum Teil aus durchaus verständlichen Gründen, die Revolution weit genug voranzubringen. Eine strukturelle Absicherung der Errungenschaften des Umsturzes unterblieb. Die Mehrheitssozialdemokratie achtete es offensichtlich für nicht notwendig, den alten Machtapparat zu zerschlagen, den militärischen Apparat grundsätzlich umzugestalten, das kaiserliche Militär abzulösen und einem demokratischen Denken Raum zu verschaffen. Auch das Wirtschaftssystem wurde nicht entscheidend verändert. An eine Enteignung des Großgrundbesitzes und der Großindustrie wurde nicht gedacht.Ein demokratisches Stimmrecht, eine demokratische Verfassung und ein sozialdemokratischer Reichspräsident allein reichten jedoch noch lange nicht aus, um die Macht der konservativen Eliten zu brechen. Die Anerkennung der Gewerkschaften, das Festschreiben des Tarifvertragssystems und das Schlichtungsmonopol des Staates waren dafür nur ein eher schwacher Ersatz.

Zudem setzt eine parlamentarische Demokratie Erfahrungen im Umgang mit der Demokratie voraus. Der Bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner hatte sicherlich recht, wenn er davon ausging, daß die Einführung von Parlamenten allein noch keine Demokratie bewirken würde, sondern daß es darauf ankomme, die - hier im weitesten Sinne des Wortes verstandene - "politische Bildung" weiter voranzutreiben und daß es von entscheidender Bedeutung sei, das Funktionieren der Parlamente - zumindestens so lange - durch außerparlamentarische Gremien zu kontrollieren, bis sich eine demokratische Kultur herausgebildet habe. Ob es sich dabei um Räte handeln mußte, die eine zeitlang gewissermaßen auf einer eigenen Ebene als Bildungs- und Machtinstitutionen tätig sein sollten, oder ob ein anderer Weg hätte gefunden werden sollen, kann offen bleiben. Aber auch dies wäre wiederum - und damit schließt sich der Kreis der Argumentation - eine deutsche Besonderheit gewesen. Das Modell einer stärkeren Umwandlung der Gesellschaft mit Hilfe von Räten wie in Bayern von Eisner initiiert, zeigt allerdings, daß Chancen vorhanden waren, aber, wenn auch nicht leichtfertig, so doch faktisch und mit fataler Langzeitwirkung vertan wurden.

6. Der Reichstag als Symbol deutscher Demokratiegeschichte

Es kann nur darüber spekuliert werden, ob schließlich nur eine "besondere Maßnahme" den "deutschen Sonderweg" in den "europäischen Gemeinweg" - wenn es denn einen solchen gegeben hat - hätte bringen können und ob man das "Dritte Reich" als dieses Ereignis bezeichnen kann. Blickt man auf die nun fünfzigjährige Geschichte des wesentlichen Teiles sowie die fünfjährige Geschichte beider Teile des ehemaligen Deutschen Reiches, besteht immerhin große Hoffnung, daß nicht nur der

besondere deutsche Weg in die Moderne beendet, sondern auch der "Nachholbedarf" in "politischer Kultur" erheblich verringert worden ist. Dafür könnte als Symbol durchaus auch ein Gebäude stehen, das genau das Gremium beherbergt, in dem sich diese demokratische politische Kultur widerspiegeln sollte, es in der deutschen Geschichte aber nur so selten getan hat: das Reichstagsgebäude in Berlin.


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