Die Politik entscheidet über die Grenzen des Freiraums der Kunst, insbesondere dann, wenn die Kunst sich dem Gehege der nationalen Symbolik nähert. Es scheint: Nichts ist der Politik heiliger. Dies ist nicht neu in der Geschichte und erinnert mich an die wechselvolle Baugeschichte von Schlössern und Kirchen vergangener Jahrhunderte, aber auch an die Geschichte des Entstehens des überdimensionalen Panoramas zum Bauernkrieg von Werner Tübke auf dem Schlachtenberg in Bad Frankenhausen.
Vielleicht ist es kein Zufall, daß die Zustimmung zu diesem Verhüllungs-Kunstobjekt erst erfolgen konnte, als die wechselnde politische Deutung und Begründung des Vorhabens sich schon mehr oder weniger verflüchtigt hatten. War es zuerst der Kalte Krieg, die fast leblose, wiederaufgebaute Ruine des Reichstages an der Grenze zwischen zwei Weltblöcken als Symbol und Sinnbild des Ost-West-Konfliktes in Europa und in der Welt, die als befürwortende Begründung herhalten mußte, so war es nach der Wende 1989/90 der Übergang des bisher weitgehend funktionslosen, repräsentativen Reichstages zum künftigen ständigen Sitz des Deutschen Bundestages als Ausdruck des Vergehens der Bonner Republik und des Entstehens der Berliner Republik.
Ich kann beide Begründungen für das Kunstwerk so recht nicht glauben, da sie sich wie Feuer und Wasser gegenüberstehen. Sie erinnern mich an die berühmte Frage des unbekannten Lehrers: Was will uns der Künstler mit seinem Kunstwerk sagen? Und noch schlimmer: Was lehrt uns das Kunstwerk? Und ich kann mir nicht vorstellen, daß die Autoren solcher Begründungen selbst an diese glauben. Sie wollen schlechthin Kunst ";machen", und da reizte sie der gewaltige Betonklotz auf der einsamen Wiese. Die politische Begründung hatte die Funktion des Türöffners.
Christo und Jeanne-Claude haben eine Philosophie, und nur, weil sie diese konkret mit Hartnäckigkeit verfolgen, sind ihre Arbeiten Kunstwerke geworden.
Hinterfragt man diese für das Projekt "Verhüllung des Reichstages", so scheint die Antwort einfach: Staunen lassen und nachdenklich machen, durch Verhüllen entfremden, durch Enthüllen neugierig werden lassen, also: Etwas auf den Kern zu bringen, etwas der Vernebelung und Verkleidung zu entziehen, etwas klarer und deutlicher erkennbar zu machen. Deshalb werden Details der skulpturellen Besonderheiten des Gebäudes mit speziellen stärkeren Käfigkonstruktionen umgeben, um dadurch deren Silhouette einfacher erkennbar und begreifbar zu machen. Alle Zierde, alles Verspielte der Fassade, ihr funktionsloses Beiwerk wird verdeckt, damit die Grundidee und die baulichen Dimensionen des Bauwerkes zur Geltung kommen. Wie bei einer Plastik das Gewand die Figur plastischer machen kann, so läßt die Verhüllung eines steinernen Komplexes dessen Proportionen deutlicher hervortreten. Die Enthüllung am Ende des Kunstprozesses schafft dann einen völlig neuen Blick auf das bisher Gewohnte und Bekannte, weckt Neugierde und Interesse.
Wer da vordergründig politisieren will, irrt. Ein Journalist fragte vor einiger Zeit die Künstler nach dem politisch-symbolischen Wert und der Bedeutung dessen, daß die Verhüllung des Reichstages am 17. Juni (in Anspielung auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 in Ostberlin) begann. Die Antwort war so einfach wie ihre Philosophie ist: "Weil es ein Samstag ist!"
Mag sein, daß manche in Christo und Jeanne-Claude vielleicht geschäftstüchtige Agenten der Verpackungsindustrie sehen, die dabei Material verschwenden und Geld kosten, andere sehen in ihnen sympathische Spinner und Romantiker, die Unmögliches möglich machen. Für mich sind sie Künstler, die möglichst viele Menschen ansprechen, die zum Widerspruch und zum Nachdenken reizen, die provozieren und zugleich befrieden wollen.
Ihre Aktionen sind gegen die Arroganz der Kunst gerichtet, für die Ewigkeit gelten zu wollen. Niemand kann ihre Originalkunstwerke kaufen, zu kaufen sind ausschließlich begleitende Vorarbeiten, ihre Kunstwerke sind öffentlich, nicht für ein Museum oder den Tresorraum einer Bank bestimmt, sie gehören der Öffentlichkeit, weil diese beim Entstehen und Vergehen präsent ist - so einfach ist das. Die Künstler akzeptieren keine Fördermittel aus öffentlicher oder privater Hand.
Wer bei dieser Kunst von Schändung, Gefährdung oder Demaskierung der Demokratie spricht, wird nicht nur den Künstlern nicht gerecht, sondern braucht fast soviel Phantasie wie die Künstler selbst. Das Reichstagsgebäude hat eine wechselvolle Geschichte. Für Wilhelm II. war es ein Gipfel der Geschmacklosigkeit und ein "Reichsaffenhaus". Der große deutsche Architekt Bruno Taut hatte zu Beginn der Weimarer Republik vorgeschlagen, den Reichstag, dauerhafter als Christo, "dem Blick von außen zu entziehen" und in eine modern funktionelle Architektur einzuhüllen. Er war im übrigen nicht der einzige mit solch einer Idee. Der Architekturwettbewerb 1927/30 hatte noch mehr solcher Vorschläge gezeitigt. Und das lag ganz im Sinne der neuen Weimarer Demokratie. Ein schönes Bauwerk ist der Reichstag nun wahrlich nicht, schlechter kann er durch die Verhüllung aber kaum werden, höchstens für einen kurzen Zeitraum beruhigender und vielleicht sogar besinnlicher und lustiger.
Was wurde in den letzten Monaten nicht alles als Gegenargument benannt: "Skandal", "Mummenschanz", "Verletzung der Würde des Hohen Hauses", "Anschlag auf den guten Geschmack", "Manipulation an nationalen Symbolen" u.ä. Hier wurden nur allzu deutsche Befindlichkeiten sichtbar, deutsche Tabu-Grenzen offenbart.
Wir haben uns mit einer namentlichen Abstimmung im Deutschen Bundestag über das Ja und Nein zur Verwirklichung dieses Kunstprojektes sowieso schon an der Grenze der Lächerlichkeit bewegt. Das Haus wird durch die notwendigen Umbauten in den nächsten Jahren leer sein, funktionslos bleiben, keiner wird in seiner Arbeit durch die Verhüllung gestört werden. Es wird völlig eingerüstet und verplant werden und keiner wird sich darüber beschweren.
Das Denkmal "Reichstag" wird mit seiner Verhüllung durch Christo und Jeanne-Claude zur öffentlichen Aufforderung werden: denk mal!
Denk mal nach über Verhüllen und Enthüllen, über Erkennen und Verfremden, über Verdecken und Sichtbarmachen, über Verschnüren und Entknoten, über Verbergen und Entlarven. Sind das Kategorien, die nichts mit Politik zu tun haben? Laufen manche von uns nicht selbst Gefahr, mitunter als "Verhüllungspolitiker" zu fungieren? Nein, nationale Würde und Symbolik - wenn einem so etwas wichtig sein sollte -werden durch die Verhüllung des Reichstages nicht beschädigt. Der Atemzug der Verhüllung kann als Atempause auf den Weg ins neue Jahrhundert produktiv genutzt werden. Wir sollten uns nicht ganz so wichtig nehmen, kontroverse Debatten führen und uns dabei unserer historischen und politischen Situation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für einen Augenblick deutlicher bewußt werden.