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Virtuelles Parlament
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Bernd Guggenberger

Wrapped Reichstag:

An der Schwelle zur neuen Zeitordnung

Anmerkungen zur politischen Aktualität des Ästhetischen


Reichstag
Foto: © BTM

    Schon die unübersehbare Mächtigkeit und Präsenz des Ästhetischen im Alltäglichen verleiht Fragen der Ästhetik einen politischen Rang. Doch ist das Ästhetische nicht nur auf dem Umweg über seine gesellschaftliche Relevanz für die Politik bedeutsam, sondern es hat sich den politischen Wahrnehmungsmustern und Dramatisierungsstrategien selbst eingeprägt.

  1. Der Ästhetikbedarf der Politik
  2. Die Virtualisierung der Poltik ist im vollen Gange. Längst inszeniert die Parteiendemokratie im Wechselspiel mit den Medien politische Teilhabe als Zapping-Safari durch die Virtual Reality "errechneter" politischer Wunschräume. Dies läßt sich nicht nur an den Tendenzen der Interview-, der Verlautbarungs- und Presseerklärungspolitik ablesen, sondern auch an den jüngsten Erscheinungsformen des Infotainment- und Sound-bite-Journalismus samt der wachsenden Beliebtheit der Talkrundendemokratie.

    Politik, die sich für die Beobachter immer mehr verflüchtigt, Politik, die sich von den Betroffenen immer mehr entfernt, die sich nach Ursache und Wirkung immer weniger zuordnen läßt, der die Akteure ebenso abhanden kommen wie die angestammten Orte, an denen sie sich eigentlich ereignen sollte - sie bedarf unter solchen Bedingungen immer mehr der ästhetischen Ersatz-Vergegenständlichungen. Die tendenzielle Invisibilisierung, welche politische mit technischen Wirkursachen verbindet, ruft nach symbolstarker Vergegenständlichung der Politik; und die Sinnverluste dieser neuesten "belle-epoque" (Peter Sloterdijk) der nahen Jahrtausendwende bedingen ihre Surrogat-Anfälligkeit.

  3. Die Bundestagsdebatte zur Reichstagsverhüllung: keine Entscheidung über Kunst?
  4. Es ist kein Zufall, daß Christo und seine Lebensgefährtin Jeanne-Claude erst 1994 die Erlaubnis zur Verhüllung eines der wenigen politisch bedeutsamen Architektursymbole der größer und damit - gewissermaßen pflichtgemäß - auch selbstbewußter gewordenen Republik erhielten: des Berliner Reichstagsgebäudes. Doch wußten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die am 24.2.1994 die Genehmigung erteilten, eigentlich, was und worüber sie abstimmten?

    Peter Conradi, der Hauptbefürworter der Reichstagsverhüllung, eröffnete die Debatte mit dem lapidaren Satz: "Wir stimmen nicht über Kunst ab." Und Wolfgang Schäuble, der Wortführer der Projektgegner, leitete seinen Beitrag mit einer - fast - identischen Feststellung ein, als er sagte: "Niemand von uns wird sich anmaßen wollen, zu entscheiden, ob das Vorhaben von Christo künstlerisch sinnvoll ist oder nicht." Keiner der übrigen an der Debatte beteiligten Redner, der es verabsäumt hätte, den beiden Hauptmatadoren in diesem Punkt ausdrücklich beizupflichten: Es gehe nicht um Kunst oder Nicht-Kunst. Und, vielleicht noch merkwürdiger: Keiner der Kommentatoren dieser im großen und ganzen - wohl nicht zuletzt wegen des "progressiven" Abstimmungsergebnisses - überaus positiv aufgenommenen Debatte, der dieses zurechtrückte.

    Die Leugnung des Offensichtlichen ist weit verbreitet. Wenn kluge Leute in großer Zahl und in ganz unterschiedlichen parteipolitischen Lagern und Konstellationen sich in der Ablehnung ebendessen einig sind, was sie gleichwohl im selben Augenblick vor aller Augen tun, dann ist dies ein erklärungsbedürftiges Phänomen.

    Worüber, bitte schön, sollte denn sonst abgestimmt worden sein, wenn nicht "über Kunst": Worüber war man sich uneins, wenn nicht über die stets latent bleibende Frage, wieviel man ihr trauen und zutrauen kann, was sie der Poltik zu geben hat, wie weit sich Staat und Demokratie auf sie einlassen dürfen, und was sie von ihr füglich zu erwarten haben?

    Gewiß ist vom Bundestag nicht förmlich darüber befunden worden, ob das, was Christo im Allgemeinen macht und was er im Besonderen mit dem Reichstag vorhat, Kunst sei oder nicht. Doch ist die Frage, die förmlich zur Entscheidung stand: "ob (die Bundestagsabgeordneten) einverstanden sein wollen mit dem Vorhaben, den Reichstag in Berlin mit 100.000 qm Stoff zu verhüllen" (Wolfgang Schäuble), wirklich zu beantworten ohne jene andere, deren Beantwortung jeder Redner "pflichtgemäß" weit von sich wies: ob das, was Christo vorhabe, Kunst sei?

    Nein, sie ist es nicht. Jeder der insgesamt 292 Abgeordneten, die mit ihrer Stimme dem Projek zur Mehrheit verhalfen, hat diese Frage mindestens implizit für sich beantwortet. Wer dies bezweifelt, der möge einfach die Gegenprobe machen: Hätte der Bundestag sich etwa auch mit der Anfrage eines Bonner Regionalkünstlers befaßt oder dem Begehren eines Waschmittelherstellers, das Reichstagsgebäude im "weissesten Weiß" frischgewaschener Beinkleider und Oberhemden erstrahlen zu lassen, oder gar mit einer Anfrage von Beate Uhse wegen einer geplanten "Reichstag-im-Kondom-Verpackung" im Rahmen einer "Safer-Sex-Kampagne"? Nein. Und warum wohl nicht? Doch wohl, weil sie allesamt keine über Zweifel erhabene Künstler sind. Und warum wohl hat, nach jahrelangem Tauziehen, Christo die Genehmigung erhalten, sein Verhüllungsprojekt durchzuführen? Doch wohl, weil er erkennbar eben dies ist: ein Künstler; weil er als Künstler lebt und arbeitet und seinen Künstlerstatus durch eine Vielzahl von aktions- und diskussionsbegleiteten, vor allem aber medial beglaubigten Großwerken plausibilisiert hat. Und da soll am 25. Februar 1994 im Deutschen Bundestag nicht auch über Kunst abgestimmt worden sein?


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